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Reportage: Warum werden im Kanton Schwyz so wenig Frauen gewählt?

Politik

Reportage: Warum werden im Kanton Schwyz so wenig Frauen gewählt?

Im Kanton Schwyz sind schweizweit die wenigsten Frauen im Kantonsparlament vertreten. Im Hinblick auf die Wahlen im Herbst fragen wir: Was ist los? Auf Spurensuche in einem Kanton, in dem Frauen am Scheideweg stehen zwischen alten Sitten und neuen Bedürfnissen.

Es waren etwa 200 Frauen, die das Papier unterzeichneten. Darin forderten sie unter anderem Massnahmen zur Erhöhung des Frauenanteils in politischen Ämtern; den Forderungskatalog hatten sie zum Frauenstreik am 14. Juni 2019 erstellt, an diesem Tag wollten sie ihn dem Regierungsrat überreichen, im Verenasaal in Ibach, quasi um die Ecke vom Kantonshauptort Schwyz.

Doch der Regierungsrat lehnte ab, aus terminlichen Gründen, wie es hiess. Die Frauen liessen nicht locker, doppelten nach, eines der sieben Ratsmitglieder, sagten sie, hätte doch sicher Zeit, vielleicht gerade FDP-Regierungsrätin Petra Steimen- Rickenbacher, die einzige Frau des Gremiums, und sei es auch nur für eine halbe Stunde.

Der Rat aber beharrte auf seinem Nein. Als er dann zwei Tage vor dem Frauenstreik vollzählig am kantonalen Schützenfest aufwartete, war das Unverständnis der Frauen gross. Für die Schützen hatte man sich Zeit nehmen können, nicht aber für ihre Anliegen, monierten sie – und fackelten nicht lange: Im Morgengrauen des Frauenstreiktags hefteten sie den Forderungskatalog ans Regierungsgebäude, wie einst Martin Luther seine Thesen, und trugen Petra Steimen-Rickenbacher in Form einer Pappmachéfigur auf der Strasse mit. Das wiederum fand der Regierungsrat derart deplatziert, dass sein Unmut bis heute nachhallen soll.

Mangelndes Interesse an der politischen Gleichstellung von Frauen

Noch immer erzählt man sich diese Anekdote in Schwyz. «Sie bringt etwas auf den Punkt, was unseren Kanton von vielen anderen unterscheidet: das mangelnde Interesse an der politischen Gleichstellung von Frauen», sagt die Journalistin Claudia Hiestand. Sie hat jahrelang zur politischen Mitsprache von Frauen in Schwyz geforscht. Ein Teil ihrer Recherchen ist im neuen Buch «Offägleit» erschienen, in der Reihe «Schwyzer Hefte», das die Geschichte der Schwyzer Frauen aus verschiedenen Perspektiven dokumentiert.

Wir treffen sie in Biberegg bei Rothenthurm, einem winzigen Kaff, an dem die Südostbahn vorbeirast, wenn man vergisst, rechtzeitig den Haltewunschknopf zu drücken. An diesem Abend findet hier eine Lesung von «Offägleit» statt. Mitveranstalterin ist die Schwyzer Bäuerinnenvereinigung, sie hat für diesen Anlass das Märchtstübli reserviert, den Festraum der grossen Markthalle, in der sonst Zucht- und Nutzviehauktionen durchgeführt werden. Als wir ankommen, ist Claudia Hiestand gerade dabei, den Tisch für die Autorinnen bereitzumachen. Sie ist gebürtige Wollerauerin, eben fünfzig geworden, in ihrem Blick liegt eine Nachdenklichkeit, die auch dann nicht verschwindet, wenn sie lächelt.

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13 Frauen Frauen im Schwyzer Parlament

Mit ihrer Einschätzung zur politischen Untervertretung der Schwyzerinnen steht die Journalistin nicht allein da. Sie wird bestätigt durch die neueste Erhebung von «Helvetia ruft!», einer überparteilichen Initiative von Alliance F, dem Dachverband der Schweizer Frauenorganisationen. Um die Parteien im Hinblick auf die National- und Ständeratswahlen im Oktober in die Pflicht zu nehmen, mehr Frauen auf ihre Listen zu setzen, hat sie eine interaktive Schweizkarte erstellt.

Dort findet man die aktuellen Zahlen zum Frauenanteil der einzelnen Kantone im National- und Ständerat sowie in Regierung und Kantonsparlament. Letzteres ist in dieser Auslegeordnung besonders wichtig, gilt es doch als Seismograf für das politische Geschehen an der Basis. Die Bilanz des Kantons Schwyz ist mager: In seinem Parlament sind derzeit gerade mal 13 seiner insgesamt hundert Mitglieder Frauen. Damit liegt der Kanton schweizweit auf dem letzten Platz.

Im Vergleich: Nachbar Uri schaffts auf einen Frauenanteil von 23 Prozent, Nidwalden auf 27, in Appenzell-Innerrhoden ist gut jeder fünfte Parlamentssitz von Frauen besetzt, in Zürich knapp jeder zweite. Spitzenreiter ist Neuenburg: Der welsche Kanton verzeichnet einen Frauenanteil von 58 Prozent. Stellt sich also die Frage: Was ist los in Schwyz, ausgerechnet in jenem Urkanton, dessen Selbstverständnis auf dem Mythos beruht, bei der Gründung der Eidgenossenschaft 1291 zu den Ersten gehört zu haben?

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«Frauen in die Politik zu bringen, ist bei uns nie zum Selbstläufer geworden»

Claudia Hiestand, Journalistin

Schwyz war nicht immer Klassenschlechtester: 2006 sassen 24 Frauen in der kantonalen Legislative. Seither hat sich die Zahl beinahe halbiert. Die Journalistin Claudia Hiestand erklärt dies so: Zu jener Zeit hatten das Frauennetz, der Frauenbund und die Gleichstellungskommission des Kantons Schwyz viel Schwung. Sie schalteten Zeitungsinserate, verteilten Flyer, gaben Frauen eine Bühne. Doch bald darauf habe das Frauennetz begonnen, sich mehr auf wirtschaftliche Gleichstellung zu konzentrieren.

«Frauen in die Politik zu bringen, ist bei uns nie zum Selbstläufer geworden», sagt Claudia Hiestand. «Es entsteht sofort ein Knick, wenn man nicht dranbleibt.» Schwyz ist zwar seit 2011 mit FDP- Nationalrätin Petra Gössi in Bundesbern vertreten, doch konnte auch Gössi nie eine Zugkraft für Frauen entwickeln. Dieser Quasi- Stillstand hat damit zu tun, betont Claudia Hiestand, dass die politischen Parteien sich stets aus der Verantwortung gezogen, die Arbeit dem Frauennetz überlassen hätten.

Die zögerliche Haltung gegenüber der politischen Mitsprache der Frauen hat Tradition: Am legendären Abstimmungssonntag im Februar 1971 legten die Schwyzer Männer gleich ein doppeltes Nein ein; sie verwarfen, wie auch die Appenzeller, das Stimm- und Wahlrecht für Frauen auf eidgenössischer sowie auf kantonaler und kommunaler Ebene.

Ein Ruck geht durch Frauenorganisationen und politische Parteien

Die Mehrheit der Schwyzer soll mit dem Abstimmungsergebnis äusserst zufrieden gewesen sein, wie der «Bote der Urschweiz» festhielt; zufrieden wohl auch deshalb, weil sie sich damit der Obrigkeit in Bern widersetzt hatten. Die Schwyzerinnen aber blieben weiterhin von kantonalen Geschäften ausgeschlossen. Ihre vollen demokratischen Rechte erhielten sie erst ein Jahr später, 1972.

Im Zuge des Fünfzig-Jahr-Jubiläums sei nun ein Ruck durch die Frauenorganisationen und die politischen Parteien gegangen, sagt Claudia Hiestand. «Es scheint wieder Bewegung in die Sache zu kommen.» Sie selbst ist vor zehn Jahren ausgewandert – über die Kantonsgrenzen nach Richterswil in Zürich. Schwyz ist ihr zu eng geworden.

Abstecher ans Theresianum Ingenbohl

Wir wollen dem Kanton den Puls fühlen und machen einen Abstecher ans Theresianum Ingenbohl nach Brunnen, in Schwyz liebevoll «Theri» genannt. Die Schule wurde einst vom Orden der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz betrieben und war lange das einzige Gymnasium im Kanton, das jungen Frauen offenstand.

Ordensschwestern unterrichten am «Theri» heute längst nicht mehr, die Klassen an der Fachmittelschule sind inzwischen gemischt, doch das Gymnasium ist noch immer eine reine Mädchenschule. Die jungen Frauen, so das Credo, sollen sich jenseits von gängigen Rollenbildern entfalten können. Alt Bundesrätin Micheline Calmy-Rey hat das Theri besucht, ebenso Carla del Ponte und Politpionierin Emilie Lieberherr. Mit Petra Schelbert, Maturandin und künftige Medizinstudentin, konnte nun eine neue Generation Entscheidungsträgerinnen am Start stehen.

Für unser Treffen mit Schelbert wurde der «Ratsdamensaal» reserviert, ein altehrwürdiger Raum mit Holztäfelungen und Intarsien aus der Welt der Flora und Fauna. Schelbert ist 18 Jahre alt, in Brunnen aufgewachsen, trägt die Haare kupferrot. Sie wirkt etwas verloren an dem wuchtigen Sitzungstisch, lässt sich durch das Setting aber nicht aus dem Konzept bringen. Sie ist dezidiert, ihre Wortwahl schnörkellos.

«Ich will, dass sich mein Kanton öffnet und alle Lebensrealitäten akzeptiert»

Petra Schelbert, Maturandin

Als zum Fünfzig-Jahr-Jubiläum des kantonalen Frauenstimm- und -wahlrechts ein Frauenparlament durchgeführt wurde, nahm Schelbert daran teil, arbeitete an Vorstössen mit und machte so ihre ersten politischen Gehversuche. Das habe ihr die Angst genommen. «Ich weiss jetzt, dass es keine spezielle Ausbildung braucht, um in der Politik aktiv zu sein. Zudem ist mir bewusst geworden, dass ich über diesen Weg etwas bewirken kann», erklärt sie. «Wir fordern erneut eine professionelle Gleichstellungskommission und eine Fachstelle für häusliche Gewalt.»

Denn der Regierungsrat hat sich vor kurzem gegen den Bau eines Frauenhauses ausgesprochen, und vom Kantonsrat wurden bereits fünf Vorstösse für ein Gleichstellungsbüro bachab geschickt. «Nicht erheblich», hiess es jeweils.

«Der Regierung fehlt jeglicher Bezug zu den Anliegen der Frauen. Diese Kluft ist echt krass», sagt Schelbert. Ob sie das frustriert? Schelbert zögert, schüttelt dann den Kopf. «Ganz im Gegenteil: Es motiviert mich. Ich will, dass sich mein Kanton öffnet und alle Lebensrealitäten akzeptiert.»

Unterschiedliche Welten

Wer von aussen kommt, wird schnell darauf hingewiesen, dass Schwyz mit seinen gut 164000 Einwohner:innen aus unterschiedlichen Welten besteht. Dort die «Usserschwyz» mit ihren nach Zürich ausgerichteten Gemeinden Wollerau, Freienbach und Feusisberg, Steueroasen für internationale Firmen und Bauland für Villen mit Seesicht. Und da die flächenmässig sehr viel grössere «Innerschwyz», die Heimat der Mythen, in der es in erster Linie gilt, zu bewahren, was man hat.

«Die Topografie übt einen riesigen Einfluss auf uns aus. Das wurde mir erst bewusst, nachdem ich hier mehrere Jahre gelebt hatte», sagt Diana de Feminis. Sie ist – passend zum Namen – Präsidentin des Frauennetzes Kanton Schwyz und Geschäftsleiterin des Vereins Familie Plus.

Zum Gespräch bittet sie in den Garten hinter ihrem Haus, wo Feigen- und Birnbäume wachsen. «Du hockst in deinem Tal, dein ganzes Leben spielt sich hier ab, du bewegst dich kleinräumig, ergo ist dein Denken kleinräumig. Du behütest, was du kennst, damit kannst du umgehen, damit bist du zufrieden – auch wenn du es nicht unbedingt magst. Und in dieser Zufriedenheit willst du nicht gestört werden. Das sehen auch viele Frauen so.» Diese Mentalität wirkt wie ein Bremsklotz für neue Ideen.

«Du hockst in deinem Tal, dein ganzes Leben spielt sich hier ab, du bewegst dich kleinräumig, ergo ist dein Denken kleinräumig»

Diana de Feminis, SP-Kantonsrätin

Diana de Feminis ist 52 und lebt an der Innerschwyzer Aussengrenze in Morschach. Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Grossvater Italiener, seit zwei Jahren sitzt sie für die SP im Kantonsrat. Sie ist eine kleine Frau mit widerspenstigen Locken und jener zähen Gelassenheit in der Stimme, die auf viel Ausdauer schliessen lässt.

Tief unter uns ist das Urner Seebecken zu sehen, auf der gegenüberliegenden Seite das Rütli. Der Blick aber bleibt an der kleinen, vollbusigen Statue hängen, die auf einer Erhebung im Garten steht. Die habe sie selbst gemacht, erzählt de Feminis. Die Statue ist eine Hommage an ihre Urgrossmutter, die bei der Geburt ihres dritten Kindes starb. «Sie ist die Quelle für mein Engagement für Frauen. Denn das, was wir Frauen tun und durchmachen, gilt oft noch immer als selbstverständlich.»

Vor 25 Jahren zogen sie und ihr Mann von Zürich nach Schwyz, weil sie für ihre Kinder eine freie Tagesschule suchten, und diejenige, die ihnen am besten gefiel, war auf dem Land. Beide arbeiten seit jeher Teilzeit. «Wir waren Exoten», betont sie, «und sind es auch geblieben.»

Womöglich ist es gerade diesem Exotenstatus zu verdanken, dass sie den Sprung in den Kantonsrat schaffte. Denn da sie von aussen kam, nie wirklich dazugehörte, fiel es ihr leichter, hinzustehen und sich in ihrer Gemeinde zur Wahl zu stellen – etwas, vor dem Frauen in traditionellen Gesellschaften oft zurückschrecken, von rechts bis links. Die meisten schauten, dass es für ihre Familie und ihr Umfeld stimme, dann müssten sie niemandem auf die Füsse treten, müssten sich nicht exponieren.

«Auf dem Dorf ist die soziale Kontrolle riesig. Alle kennen dich. Also überlegst du dir sehr genau: Was sagen die Nachbarn, die Mutter, der Onkel? Du musst es aushalten, dass du gründlich gemustert wirst. Aber bist du nicht sichtbar, hast du keine Chance.» Denn Frauen wählten nicht einfach solidarisch die andere Frau auf der Liste, sondern die Person, die sie am besten kennen, und das ist meistens der Mann. Weibliche Kandidierende würden oft nicht einmal dann gewählt, wenn sie prominente Listenplätze haben. So sei letzthin in einer Gemeinde der Pfarrer gewählt worden statt einer Frau, obwohl sein Name auf dem hintersten Platz stand.

Diese «cheibe Ochsentour»

Sieben der insgesamt dreizehn Sitze, die von Frauen besetzt sind, gehen im Kantonsrat auf das Konto der SP. Die Mitte hat drei, die SVP zwei Frauen in ihren Rängen, die FDP eine. Grösste Kräfte im Rat sind die SVP, Die Mitte und die FDP, die SP ist eine tapfere Minderheit.

Diese Zusammensetzung bildet den Nährboden für eine oftmals ruppige Debattenkultur. Was da manchmal rausgelassen werde, grenze an Realsatire, sagt de Feminis. «Im Parlament wird kaum mehr diskutiert, jeder bringt nur noch seinen Standpunkt rein. Dabei hauen die Männer einander häufig in die Pfanne. Die Frauen aber bleiben konstruktiv. Sie wollen etwas verändern, argumentieren für die Sache.»

Vor gut einem Jahr kandidierte de Feminis für den Regierungsrat – und unterlag an der Nominationsveranstaltung ihrem SP- Parteikollegen. Wegen ihrer Kandidatur galt sie innerhalb des Rats als unverschämt. Eine amtierende Politikerin sagte ihr dies gar direkt ins Gesicht. Denn in ihrer politischen Laufbahn fehlt diese «cheibe Ochsentour», wie Diana de Feminis betont. «Das heisst, du beginnst in einem Verein, bist dann im Organisationskomitee eines Schwingfests, zeigst dich an jeder Hundsverlochete. Dafür haben die wenigsten Frauen Zeit. Erst recht nicht, wenn sie berufstätig sind und Kinder haben.»

Die «Ochsentour» ist Ausdruck einer tief verwurzelten Vorstellung davon, wie Miliz und Politik zusammenspielen sollen: Die Mutter macht den Haushalt und schaut zu den Kindern, der Vater ist erwerbstätig und geht in die Partei. Das, so de Feminis, habe sich in Schwyz bis heute nicht gross verändert.

Um mehr Frauen für ein politisches Amt zu ermutigen, müssten diese Strukturen aufgebrochen werden, aber dafür bräuchte es wiederum mehr Frauen im Parlament, die diese Veränderungen auch durchsetzen. Erst wenn Frauen in den Vordergrund treten, würden die klassischen Rollenmuster herausgefordert.

«Bei Vorstössen heisst es im Kantonsrat oft: ‹Das haben wir noch nie gemacht. So, wie wir es bis jetzt getan haben, ist es auch gegangen.› »

Diana de Feminis

«Bei Vorstössen heisst es im Kantonsrat oft: ‹Das haben wir noch nie gemacht. So, wie wir es bis jetzt getan haben, ist es auch gegangen. Es hat sich bewährt.›» Diana de Feminis seufzt. Sie erzählt ein Beispiel, das sich tief ins Gedächtnis vieler Schwyzerinnen gebrannt hat: Vor zehn Jahren forderte eine Initiative, die Kantonsratssitzung vom Mittwoch auf einen anderen Wochentag zu verschieben. Der Mittwoch ist ungünstig für Mütter, weil am Nachmittag schulfrei ist und sie eine Betreuung für die Kinder organisieren müssen. «Dann aber hiess es: ‹Wir lassen den Mittwoch. Er hat sich bewährt.›»

Schwyzer Bäuerinnen über die gläserne Politikdecke

Die Texte im Buch «Offägleit», die in Rothenthurm vorgelesen wurden, handeln von der einstigen Vormundschaft der Männer über Frauen, von starren Geschlechterrollen und davon, dass Frauen, die dagegen aufbegehrten, riskierten, in Zwangsarbeitsanstalten gesperrt zu werden, was in Schwyz bis in die 1970er-Jahre vorkam. Sie handeln aber auch vom Beharren der Schwyzerinnen auf politischer Mitsprache – und davon, dass jede Frau so leben soll, wie sie es für richtig hält.

«Diese Geschichten dürfen nicht vergessen werden», hatte Edith Camenzind gesagt. «Aber wir müssen daran denken, dass auch Männer in einem Rollenkorsett stecken.» Die 47-Jährige ist Präsidentin der Schwyzer Bäuerinnenvereinigung, die zur Lesung eingeladen hatte. Wie also denken Schwyzer Bäuerinnen über die gläserne Politikdecke?

Edith Camenzind ist sofort bereit, diese Frage mit uns zu diskutieren. Sie empfängt in der Küche ihres Hauses hoch über Gersau, ihr rechter Unterschenkel steckt in einer Schiene, ein Unfall beim Alpfahren, sagt sie. Seit Wochen sei sie deswegen nur begrenzt einsatzfähig, als sie im Spital war, musste ihr Mann – zusätzlich zu seiner Arbeit auf dem Hof und der Alp – den Haushalt übernehmen und zu den Kindern schauen. «Anfänglich war er ziemlich gefordert, er hatte keine Ahnung, wie viel Organisation das alles braucht», erzählt sie. «Inzwischen hat er es im Griff. Und meine Arbeit im Haus sieht er nun mit anderen Augen.»

Für das Gespräch hat Camenzind auch ihre Amtsvorgängerin Alice Gwerder (45) und Priska Dettling (42), die Ehefrau des Schwyzer SVP-Nationalrats Marcel Dettling, aufgeboten. Gwerder fährt im grauen Kombi vor, sie kommt direkt von ihrem Hof im Muotatal, in Schwyz ist Dettling bei ihr zugestiegen. Die Frauen begrüssen einander herzlich, sie kennen sich seit Jahren.

«Wir müssen daran denken, dass auch Männer in einem Rollenkorsett stecken »

Edith Camenzind, Präsidentin der Schwyzer Bäuerinnenvereinigung

«Edith und ich waren an der Bäuerinnenschule zur selben Zeit schwanger und haben während der Abschlussprüfung zusammen erbrochen», feixt Alice Gwerder. Alle drei sind durchtrainiert, haben einen kräftigen Händedruck und wenig Zeit; zusammen mit ihren Männern bewirtschaften sie Dutzende von Hektaren Land und erziehen eine beachtliche Kinderschar: Dettling ist Mutter von drei Kindern im Primarschulalter, Camenzind und Gwerder haben je vier Teenager.

Und als wäre dies nicht schon genug, decken sie eine grosse Palette an gesellschaftlichen Engagements ab: Edith Camenzind wurde zusätzlich zu ihrem Job bei den Schwyzer Bäuerinnen als eine der ersten zwei Frauen in den kantonalen Bauernverband gewählt. Priska Dettling sitzt in Oberägeri in der Musikkommission und bereitet jeden Dienstag für zehn Leute einen Mittagstisch.

Alice Gwerder ist, nebst ihrem «Ämtli» beim Schweizerischen Bäuerinnen- und Landfrauenverband, auch im Verwaltungsrat der Raiffeisenbank Muotathal, ausserdem aktiv bei der Muotathaler Sektion der Mitte-Partei, der Interessensgemeinschaft Naturproduktemarkt und der Tourismuskommission der Gemeinde Muotathal.

Die Zeit fehlt

Die drei Bergbäuerinnen wären prädestiniert für ein klassisches politisches Amt, doch dafür «fehlt uns das Interesse», sagt Gwerder. «Letztlich ist es aber auch eine Zeitfrage. Es gibt ja nicht einmal mehr genügend Männer, die ein solches Amt übernehmen wollen.»

«Heutzutage bekommst du in der Politik doch vor allem auf den Deckel», sagt Camenzind. «Die Diskussionen bewegen sich nur noch zwischen den beiden Polen links und rechts. Man findet kaum mehr einen Mittelweg. Da brauchst du ein dickes Fell, sonst hältst du das nicht aus.» Sie füllt frisches Wasser in die Gläser. «Aber, im Prinzip ist es egal, ob ein Mann oder eine Frau im Amt ist, oder? Die Frage ist eher: Kann die Person es oder nicht? Dieses ganze Frauengeschrei ist kontraproduktiv, das geht vielen auf die Nerven.»

Dettling nickt. «Eine echte Schwyzer Frau wirkt im Hintergrund. Das ist keine, die sich nach vorne drängt.» Ihr Mann, der SVP-Nationalrat, sei wegen seines Amts in Bern an hundert Tagen im Jahr nicht zuhause, fügt sie hinzu. Dann schmeisse sie mit ihrer Angestellten den Hof, den Haushalt, die Kinder, alles. «Aber das haben wir so abgemacht: Er ist politisch viel unterwegs, ich übernehme zuhause. Und für mich stimmt das.»

«Eine echte Schwyzer Frau wirkt im Hintergrund. Das ist keine, die sich nach vorne drängt»

Priska Dettling, Bergbäuerin

Und doch – irgendwann wenden alle drei ein, dass sie möglicherweise doch mehr Gehör für ihre Anliegen fänden, etwa für die soziale Absicherung von Bäuerinnen bei einer Scheidung oder für die Aufwertung der Hausarbeit, wären Frauen stärker in politischen Ämtern vertreten. «Es harzt schon noch», gibt Dettling zu. «Es ist nicht so, dass die Männer nicht wollen, dass wir mitmischen», meint Camenzind. «Sie kommen einfach nicht auf die Idee, uns miteinzubeziehen.» «Vielleicht würde es tatsächlich schneller gehen, wenn mehr Frauen am Ruder sind», doppelt Gwerder nach. «Aber dafür braucht es Zeit. Uns ständig zu hintersinnen, nützt nichts. Wir sind auf Kurs. Jede von uns, die in einem Vorstand sitzt, bringt uns einen Schritt weiter.»

«Uns ständig zu hintersinnen, nützt nichts. Wir sind auf Kurs. Jede von uns, die in einem Vorstand sitzt, bringt uns einen Schritt weiter.»

Alice Gwerder, Bergbäuerin

Damit liegen sie nicht falsch: Während der Sitzanteil von Frauen im Kantonsparlament stagniert, steigt er auf Bezirks- und Gemeindeebene kontinuierlich an. Heute beträgt der Anteil Frauen in den Gemeinderäten knapp 28 Prozent, auf Bezirksebene sogar etwas mehr, was Schwyz leicht über den schweizerischen Mittelwert hievt.

Gemäss der Journalistin Claudia Hiestand liegt der Grund für diese diametral unterschiedliche Entwicklung darin, dass Frauen in einer Gemeinde deutlich höhere Chancen haben, gewählt zu werden, da es oft an geeigneten Kandidat:innen fehlt und somit gar kein eigentlicher Wahlkampf stattfindet.

Die Konkurrenz auf Kantonsebene ist hingegen viel grösser, zudem werden amtierende Mitglieder des Kantonsrats – meist Männer – von den Schwyzer:innen in der Regel wiedergewählt. Tritt ein Kantonsrat jedoch ausserhalb seiner Amtszeit zurück, geschieht es zusehends, dass eine Frau nachrückt.

Erste Muotathaler Gemeindepräsidentin

Vor fünf Jahren wurde mit Maria Christen-Föhn im Muotathal zum allerersten Mal eine Frau ins Gemeindepräsidium gewählt. Sie gehört der SVP an, ist 58 Jahre alt, mehrfache Grossmutter, gross gewachsen, mit einem resoluten Lachen, trägt Perlenkette, T-Shirt und Sneakers.

Wenn das Wetter es zulässt, wie heute, ist sie am liebsten mit dem Velo unterwegs, bemerkt sie, während wir uns in einem der blitzsauberen Sitzungszimmer der Muotathaler Gemeindeverwaltung niederlassen. Das graue Gebäude liegt mitten im Dorf, an der Strasse, die schnurgerade durchs Tal führt. Ausser vereinzelten Wandernden ist an diesem Nachmittag kein Mensch zu sehen.

Muotathal hat knapp 3500 Einwohner: innen, die Zahl ist seit Jahren stabil. «Wir wollen, dass es unseren Bürgerinnen und Bürgern gut geht, dass es der Jugend gut geht und die Infrastruktur im Schuss ist», sagt die Präsidentin. Stolz erwähnt sie die Spielplätze, die eben fertiggestellt worden sind.

Maria Christen-Föhn stieg früh in die SVP ein und wurde, als ihre drei Kinder zur Schule gingen, in den Schulrat berufen, war dazu in etlichen Vereinen tätig. Das habe sie alles stemmen können, weil sie sich «elf Jahre lang im Mutterschaftsurlaub» befand.

2012 gelang ihr der Sprung in den Gemeinderat, doch als sie für das Muotathaler Gemeindepräsidium angefragt wurde, zögerte sie. Sie wollte sich mit der Familie beraten, denn in diesem Amt würde sie viel exponierter sein. Erst nachdem der Junior gesagt hatte: «Moll, Muetti, das machsch», willigte sie in die Kandidatur ein.

«Frauen sind heute nur am Jammern. Sie jammern, weil sie das Gefühl haben, nicht wahrgenommen zu werden und in der Politik nicht mitreden zu können»

Maria Christen-Föhn, SVP-Gemeindepräsidentin, Muotathal

Nach ihrer Wahl hätten die Frauen ein Riesengeschrei gemacht: «Super, stellst du dich zur Verfügung. Jetzt haben wir eine Frau!», während ein Mann klagte, jetzt würden sie «vom Wiibervolk regiert». Dieser eine Spruch habe sie dann schon etwas nervös gemacht. «Aber ich habe einen breiten Rücken.» Wie sich herausstellte, war dann ausgerechnet jener Mann an jeder Gemeindeversammlung dabei.

Frauen hingegen blieben den Versammlungen fern, obwohl Maria Christen-Föhn sie immer wieder auffordert, doch auch mal an einer teilzunehmen. Ohne Erfolg. «Frauen sind heute nur am Jammern», sagt sie ernüchtert. «Sie jammern, weil sie das Gefühl haben, nicht wahrgenommen zu werden und in der Politik nicht mitreden zu können. Wann immer ich das höre, sage ich ihnen: ‹Ihr könnt alle mitschaffen, wenn ihr wollt. Ihr müsst euch einfach zur Verfügung stellen und Verantwortung übernehmen.›»

Derzeit sind mit Maria Christen- Föhn zwei Mitglieder des neunköpfigen Gemeinderats weiblich. «Ich habe ein paar Frauen angefragt, ob sie für eine Kommission kandidieren wollen, bekam aber nur Absagen», sagt sie. «Das war frustrierend. Aber jetzt habe ich glaub eine gefunden.»

Im Muotathal sind viele Frauen in Vereinen aktiv. Allein der Mütter- und Frauenverein hat über 800 Mitglieder. Auf der Suche nach Kandidatinnen schaut Christen-Föhn oft dort vorbei, spricht mögliche Interessentinnen gezielt an. Man müsse politische Mandate besser verkaufen, erklären, dass man kaum etwas Vielseitigeres tun kann.

«Doch muss man fairerweise auch sagen, dass Frauen heute sehr belastet sind», wendet sie gleich ein. «Sie haben Beruf und Familie – wie sollen sie da auch noch ein politisches Amt übernehmen? Väter können eher schnell mal an diesen oder jenen Anlass.» Derzeit wird in Muotathal geprüft, wo eine Kita eingerichtet werden kann. Vor zehn Jahren hätte sie noch ganz anders über Kitas geredet, betont Christen-Föhn. «Heute aber muss ich sagen: Das brauchts.»

Das neue Kinderbetreuungsgesetz gilt als bahnbrechend

Anfang 2024 bekommt Schwyz ein Kinderbetreuungsgesetz: Die Gemeinden müssen auf der Vorschul- und der Primarstufe ein ausreichendes Betreuungsangebot zur Verfügung stellen und die Plätze einkommensabhängig unterstützen.

Der Kantonsrat hatte sich von der Begründung überzeugen lassen, dass es in Anbetracht des Fachkräftemangels ohne Frauen auf dem Arbeitsmarkt nicht gehen wird. Zudem – so die Argumentation – könnte Schwyz nach der Einführung der OECD-Steuer für internationale Unternehmen an Attraktivität verlieren. Also gelte es, den Firmen optimale Rahmenbedingungen zu bieten, damit sie im Kanton bleiben.

Das Kinderbetreuungsgesetz wird weitherum als bahnbrechend empfunden, ja sogar als ein Zeichen dafür, dass eine Veränderung im Gang ist. «Ich spüre derzeit einen Drive, der mich sehr zuversichtlich stimmt», sagt Martina Blunschy, als wir in ihrer Küche sitzen. Sie ist Primarlehrerin, 33 Jahre alt, mit ihrem Mann und den beiden Töchtern lebt sie in einem Mehrgenerationenhaus in Ibach. «Ich spüre den Wandel in meinem Umfeld, im Freundeskreis meines Mannes, ich spüre ganz fest, dass die Leute ihn wollen.»

Ihre Wohnung ist hübsch, aber fast schon spartanisch eingerichtet, ein gepflegtes Chaos herrscht einzig im Zimmer der vierjährigen Tochter. Dafür sieht man von ihrem Küchenfenster aus direkt auf die wuchtigschroffen Zacken der beiden Mythen. «Meine Wachberge», wie sie sagt. «Wach» von «Bewachen». Sie verleihen ihr ein Gefühl von Heimat und Schutz.

Die zierliche junge Frau ist die Enkelin von Elisabeth Blunschy- Steiner, der ersten Nationalratspräsidentin der Schweiz. 1971 war sie als Mitglied der damaligen CVP Schwyz in den Nationalrat gewählt worden und vertrat damit ihren Kanton in der Bundesversammlung in einer Zeit, in der die Schwyzerinnen auf Gemeindeebene noch nicht abstimmen durften.

Ihre Grossmutter habe sie gleich in mehrerer Hinsicht geprägt, sagt Blunschy. «Es war für mich immer selbstverständlich, dass man sich mit Politik auseinandersetzt. Genauso selbstverständlich war es, dass mein Grosi in der Politik war und nicht die Männer in der Familie. Sie hat mir vorgelebt, was Gleichstellung bedeutet.» Elisabeth Blunschy und ihr Mann führten zusammen eine Anwaltskanzlei, waren beide politisch aktiv, teilten sich die Hausarbeit. Ihr Mann war ihr grösster Unterstützer.

«Bist du als Mutter politisch aktiv, wird das als eine Form der Selbstdarstellung wahrgenommen und weniger als soziales Engagement»

Martina Blunschy, Lehrerin

Martina Blunschy nimmt die Fäden, die ihre Grossmutter einst gesponnen hat, in ihrem eigenen Leben wieder auf. So befinden sie und ihr Mann sich in einem konstanten «Findungsprozess» darüber, wie sie ihren Alltag gestalten wollen. Nach der Geburt ihrer zweiten Tochter setzte sie ihre Arbeit für ein Jahr aus, während ihr Mann voll erwerbstätig blieb.

Jetzt, nach den Sommerferien, steigt sie mit einem Vierzig-Prozent-Pensum wieder ein, zudem hat sie ein Mandat im Schulrat übernommen, ihr Mann wird sein Pensum auf achtzig Prozent reduzieren. Mit dieser Konstellation reihen sie sich in die Paare in ihrem Umfeld ein. «Ich höre von vielen Männern, die Teilzeit arbeiten wollen», sagt Martina Blunschy. «Sie tun dies, damit ihre Frauen einem Beruf nachgehen und sich auch politisch einbringen können.»

Dass politisches Engagement von Frauen leichter erwünscht als umgesetzt ist, das ist auch der Enkelin von Elisabeth Blunschy- Steiner bewusst. Gerade im Alter zwischen 30 und 45, das für den Einstieg in die Parteipolitik ideal wäre, kommt für die meisten Frauen alles zusammen: In der Rushhour des Lebens hat politisches Engagement kaum Platz. Erschwerend sei dabei aber auch eine in der Bevölkerung weit verbreitete Haltung: «Sobald du Kinder hast, wirst du als Frau anders bewertet, dann gehörst du zu einem Kollektiv, zur Gruppe der Mütter. Bist du dann politisch aktiv, wird das als eine Form der Selbstdarstellung wahrgenommen und weniger als soziales Engagement.»

Ihre Grossmutter hatte immer gesagt: «Politik ist ein Beitrag, den du als Bürger machst für die soziale Gerechtigkeit deines Landes.» So sei Politik damals verstanden worden, und so sollte es noch immer sein.

Das Land braucht Mädchen, die anecken

Dennoch, Martina Blunschy sieht die Zeit der Frauen kommen, auf dem Arbeitsmarkt wie in der Politik. Dabei denkt sie über den Schwyzer Kantonsrat hinaus, ja auch über die Kantonsgrenzen, sie richtet ihren Blick auf die Zukunft der Schweiz. «Das Land wird Leute mit Eigensinn und mit neuen Welt- und Lebensvorstellungen brauchen und ganz besonders: Mädchen, die stark, laut und mutig sind und bestens darin geübt, anzuecken.»

Aus diesem Grund hat sie ein Kinderbuch geschrieben, das im nächsten Frühjahr herauskommt. Die Protagonistin heisst Medita, ein Mädchen, das das Talent hat, alles anders zu machen als die anderen, wofür sie immer wieder ausgelacht oder gar angefeindet wird. Doch lässt sie sich von diesen Reaktionen jeweils nur kurz verunsichern, sagt dann bloss: «Da pfeif ich drauf» und macht weiter.

Meditas Eigensinn entpuppt sich aber nie als egoistischer Sololauf, ihre ungewöhnliche Art, Dinge zu tun, eröffnet ihrem Umfeld neue Perspektiven und somit auch neue Zufriedenheit. Und wer weiss – vielleicht steht Medita für eine neue Generation Frauen und Männer, die, wenn der Satz «Es hat sich bewährt» fallen sollte, mit der Schulter zucken. Und einfach darauf antworten: «Da pfeif ich drauf!»

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