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Die rationalen Gutmenschen

Die rationalen Gutmenschen

  • Text: Stephanie Hess; Foto: iStock / MicroStockHub

Wie führe ich ein Leben, das die Welt verändert? Vielleicht indem ich jeden Spendenfranken dort hinschicke, wo er die grösstmögliche Wirkung entfaltet. So wie Noémie Zurlinden als effektive Altruistin.

Es ist die Zeit des Teilens, der edlen Gefühle, die gern in der Vorweihnachtszeit aufblitzen. Spenden, das ist meist eine Herzensangelegenheit. Für Effektive Altruisten allerdings ebenso eine Sache des Kopfes, der kühlen Vernunft – denn dann, so die Theorie, kann es seine grösste Wirkung entfalten.

Das bekannteste Gleichnis dieser jungen Philosophie ist jenes des Blindenhunds, das der australische Ethiker Peter Singer als einer der wichtigsten Vertreter entwickelte. Es geht so: In der USA gibt man für einen Blindenhund 42 000 Dollar aus. In Entwicklungsländern kostet die Behandlung einer Person, die wegen einer bakteriellen Entzündung erblindet ist, weniger als 40 Dollar. 80 Prozent der Operationen sind erfolgreich. Das bedeutet, dass mit dem Geld für einen einzigen Blindenhund 840 Menschen das Augenlicht zurückgegeben werden kann.

«Für uns wirkt sich die räumlich Distanz nicht darauf aus, ob einer Person geholfen werden soll oder nicht», sagt Noémie Zurlinden, 28, Doktorandin an der Hochschule St. Gallen in Volkswirtschaftslehre und seit sechs Jahren ein Teil der Bewegung der effektiven Altruisten in der Schweiz. «Jedes Leben zählt beim Spenden gleich viel. Es kann jenes der Nachbarin sein oder jenes des afrikanischen Kindes, dessen Gesicht ich nie sehen werde, dessen Namen ich nie erfahre.» Das ist eines der Schlüsselprinzipien dieser Philosophie.

Sie sei schon immer eine Idealistin gewesen, habe die Welt besser machen wollen, sagt Noémie Zurlinden, doch da blieb auch immer Skepsis. Weil sie nicht wusste, ob ihr gespendetes Geld überhaupt etwas verändert. «Und ich fragte mich, wie wohl so viele, was ich als einzelne schon bewirken kann?»

Viel, merkte sie, als sie zu den effektiven Altruisten stiess: Mit wenigen Spendenfranken lässt sich ein Leben retten – wenn man sie mit der grösstmöglichen Wirkung investiert. Fünf Millionen Kinder unter fünf Jahren sterben jährlich an Ursachen, die leicht zu verhindern oder zu behandeln sind, heisst es auf der deutschen Homepage der effektiven Altruisten. An Stichen von Malaria-Mücken beispielsweise, die man mit einem imprägnierten Netzen leicht abhalten könnte. Oder an Darmwürmern, gegen die man mit Tabletten ankommt, die pro Person und Jahr rund zwei Franken kosten.

Welche Programme mit einfachen Mitteln Leben retten, den grösstmöglichen Effekt haben, das eruiert die gemeinnützige Organisation «Give Well», die sich den Grundsätzen des effektiven Altruismus verschrieben hat. Sie durchleuchtet Geschäftsberichte und Untersuchungen von Organisationen und präsentiert auf ihren Websites die nach wissenschaftlichen Kriterien unterstützenswertesten Projekte.

Noémie Zurlinden spendet aktuell 5 bis 10 Prozent ihres Jahreslohns. Was sich nicht als Einschränkung anfühle: «Ich kann mich an nichts erinnern, worauf ich deswegen bewusst hätte verzichten müssen.» Sie sehe das ähnlich wie bei den Steuern. «Ich rechne dieses Geld gar nie zu meinem Vermögen.» Viele effektiven Altruisten unterzeichnen ein Versprechen, ihr Leben lang 10 Prozent ihres Jahreslohns zu spenden. 5000 Franken macht das beispielsweise bei einem Lohn von 50 000 Franken. Weil sie als Doktorandin noch über kein längerfristig geregeltes Einkommen verfügt, hat Noémie Zurlinden bisher nichts unterschrieben.

Ein möglichst grosser Effekt, das ist das Ziel der effektiven Altruisten. Daher sollte gemäss ihren Grundsätzen eine altruistisch orientierten Mathematikstudentin sich beispielsweise überlegen, eher Börsenmaklerin zu werden, als nach ihrem Studium für einen Jahreslohn von 100 000 Franken einen Job in der Entwicklungshilfe auszuüben. Sie wird mit ihren Lohnabgaben viel mehr bewirken können. «Natürlich, ich hätte auch ein Studium wählen können, mit dem ich später als Investmentbankerin hätte arbeiten können oder in die Softwareentwicklung», sagt Noémie Zurlinden, die sich noch nicht entschieden hat, ob sie nach dem Doktorat in der akademischen Forschung bleiben oder in einen eher Politik-orientierten Bereich wechseln will. Aber, auch das gehöre zum effektiven Altruismus: «Ohne persönliches Interesse löst sich am Ende auch der soziale Nutzen auf. Wenn ich aus Langeweile oder weil ich nicht geeignet bin, aus den Strukturen falle, kann ich am Ende gar nichts mehr geben.» Innerhalb des eigenen Rahmens das Bestmögliche rausholen, das ist das Ziel.

Das Bestmögliche, das Grösstmögliche – diese Grundsätze des Kapitalismus wendet der Effektive Altruismus auf alle Menschen an. Das kann man als kühl berechnend empfinden oder eben: als wirklich effiziente Hilfe. Angenehm undogmatisch wirkt die Philosophie, weil Kritik zu ihrem Kern gehört: Weil sie evidenzbasiert ist, müssen neue wissenschaftliche Erkenntnisse immer eine Neubewertung der Lage bedeuten. So hat sich der Fokus, der erst auf der Armutsbekämpfung lag, in den letzten Jahren auch geöffnet, für Tierhaltung und die Folgen von künstlicher Intelligenz beispielsweise.

Und der effektive Altruismus schliesst, zumindest in der Auslegung von Noémie Zurlinden, auch anderes, impulsorientiertes Spenden nicht aus. «Wir Menschen sind emotionale Wesen. Wir möchten auch etwas unterstützen, das uns nahe ist, das wir kennen. Wenn Sie Ihrem Nachbarskind ein Trottinett schenken wollen, weshalb sollten sie es nicht tun? Sie können trotzdem noch eine Malaria-Organisation unterstützen.» Es gilt auch hier: innerhalb des eigenen Rahmens, der eigenen Möglichkeiten das Bestmögliche zu tun, um die Welt ein bisschen besser zu machen.

Die 28-jährige Noémie Zurlinden ist effektive Altruistin

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