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Psychoanalytikerin Jeannette Fischer: «Schuld ist etwas unglaublich Mächtiges, das uns alle belastet»

Zeitgeist

Psychoanalytikerin Jeannette Fischer: «Schuld ist etwas unglaublich Mächtiges, das uns alle belastet»

Schuld, Schuldgefühle und Opferverhalten: Psychoanalytikerin Jeannette Fischer analysiert die Mächte, die uns alle im Griff haben.

annabelle: Jeannette Fischer, Sie setzen sich als Psychoanalytikerin vertieft mit Schuld auseinander. Was hat Sie zu diesem Fokus bewogen?
Jeannette Fischer: Schuld und Schuldgefühle haben sich während meiner Praxistätigkeit wie ein roter Faden durch alle Gespräche hindurchgezogen. Denn Schuld ist etwas unglaublich Mächtiges, das uns alle belastet. Trotzdem scheint dieses Phänomen gesellschaftlich noch weitgehend ein blinder Fleck zu sein.

Wie würden Sie Schuld beschreiben?
Als eine Empfindung der Kastration. Sie beraubt uns unserer Vitalität, reduziert und domestiziert die Lebensenergie und sabotiert in dem Sinne auch die Fähigkeit, kreativ zu denken.

Angst ist ein Reflex, der uns das Überleben sichert. Kann man ebenso von einem angeborenen Schuldreflex reden?
Nein. Schuld ist soziogen, also erlernt, wie übrigens auch die Angst, die eine Reaktion auf Gewalt ist. Aus diesem Grund unterscheide ich zwischen Angst und Furcht: Furcht schützt uns vor Gefahren, in der Angst hingegen ist die Gefahr schon eingetreten, wir können nicht mehr agieren, sind wie gelähmt. Folglich sind Angst und Schuld unentbehrliche Werkzeuge eines Herrschaftsdiskurses, Instrumente der Macht.

Wie meinen Sie das?
Wenn mir jemand Angst macht, bringt er mich in eine ohnmächtige Situation, macht mich wehrlos und deshalb anfällig für Manipulation und Unterwerfung. Mit Schuld verhält es sich genauso: In dem Moment, da Schuld in eine Beziehung tritt, entsteht ein Gefälle, letztlich ein Abhängigkeitsverhältnis: Die eine Person gerät in die Schuld der anderen.

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«Eines der gravierendsten Schuldnarrative ist die Erfindung der Hölle»

Das heisst, Schuld und Schuldgefühle bringen eine Beziehung aus dem Lot?
Genau. In der Psychoanalyse kennen wir den Begriff Intersubjektivität. Er besagt, dass der oder die andere immer anders ist als ich, selbst wenn es ein Säugling ist, und diese Augenhöhe gilt es auszuhalten. So ist denn nicht die Liebe oder die Toleranz das einzig Verbindende zwischen Menschen, sondern die Anerkennung der gegenseitigen Differenz. Und diese Verbindung wird durch Schuld gebrochen. Dann entsteht eine Hierarchie, die immer mit Macht, Kontrolle oder Zwang verbunden ist.

Wie man es in den Religionen erkennen kann. Die meisten gründen klar in einem Schuldnarrativ.
Ja, eines der gravierendsten ist etwa die Erfindung der Hölle oder die Vorstellung, dass wir schuldig auf die Welt kommen. Diese Narrative sind ausschliesslich Herrschaftsinstrumente. Und die sind noch immer sehr wirksam.

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«Viele Paare gehen davon aus, dass der eine dem anderen etwas schuldig ist»

Wie äussert sich Schuld konkret in zwischenmenschlichen Beziehungen?
In materieller Hinsicht, zum Beispiel: Man schuldet den Unterhalt oder die Betreuung der Kinder. Zentral ist auch die emotionale Schuld: Mein Partner oder meine Partnerin schuldet mir Begehren, Aufmerksamkeit, Zuwendung oder Anerkennung. Oder die Kinder sind es der Mutter schuldig, dass sie brav sind, sonst regt sich die Mutter auf. Der Mann schuldet es seiner Partnerin, dass er abends noch kocht – oder umgekehrt. Es ist alles in Schuldzuweisungen verwickelt.

Ist Schuld hier nicht zu weit gegriffen? Dies können doch auch einfach Erwartungshaltungen sein.
Klar. Dennoch gehen viele Paare davon aus, dass der eine dem anderen etwas schuldig ist: Er muss mich begehren, ich muss Lust haben auf ihn, vielleicht auch noch gerade zur selben Zeit. Er muss den Abfallsack heruntertragen, weil ich ständig die Wäsche mache. Dadurch entsteht ein abgeschlossenes System, in dem sich das Paar wie in einer Suppe wälzt, und dann kommt es oft zum Streit.

Er schuldet es mir, die Abfallsäcke herunterzutragen. Das ist doch ein legitimer Anspruch?
Im Prinzip schon. Doch gerät man darüber schnell in eine Opferposition. Lasse ich mich etwa dazu hinreissen, zu sagen: «Immer muss ich alles machen», dann inszeniere ich mich unwillkürlich als Opfer. Das Opferverhalten setzt mein Gegenüber unter Druck und verleiht ihm Schuldgefühle. Und schon sind wir im Machtgefälle drin. Sage ich aber: «Bring dich bitte den Kübelsack runter, ich habe einfach keine Zeit.» Dann ist es eine klare Botschaft, die dem anderen die Wahl gibt, zu antworten: «Ich mache es jetzt oder später.» Im Opferdiskurs hat man keine Wahl mehr. Denn wenn ich so leide, weil der andere den Sack nicht hinunterträgt, dann ist er der Böse, der Schuldige. Er muss, damit er wieder ein Guter ist, den Kübelsack runterbringen.

«Das Perfide ist, dass die Schuldgefühle auch eine Form der Bindung herstellen»

Was setzt dieses Opferverhalten in Gang?
Oft geschieht dies, wenn sich die Lebensenergie, die Libido, ich nenne sie auch «die Aggression im Dienst des Ich», nicht entfalten kann. Das heisst, wenn man das Gefühl hat, in der Beziehung nicht mehr streiten, sich aneinander reiben und auch nicht mehr begehren zu können, implodiert sie und wird destruktiv.

Das Opferverhalten übt aber nur dann Macht aus, wenn die andere Person darauf einsteigt.
Ja klar. Entgegnet sie jedoch: «Benimm dich nicht wie ein Opfer, das löscht mir gerade ab!», haben beide die Chance, sich aus diesem System herauszulösen.

Schuldgefühle dominieren oft auch in die Beziehungen zwischen erwachsenen Kindern und Eltern, selbst zwischen Freund:innen. Wer kennt nicht den Satz: «Ich sollte endlich wieder einmal anrufen»?
Genau, und das Perfide ist, dass die Schuldgefühle dann auch eine Form der Bindung herstellen: Man muss wieder mal anrufen, wieder mal vorbeigehen, sich nach dem Befinden erkundigen. Das ist alles ein Zwang. Man fragt sich dann nicht mehr: Habe ich überhaupt Lust hat, die Eltern zu besuchen? Habe ich das Bedürfnis, mit ihnen zu reden oder etwas zu unternehmen? Interessanterweise können schon Säuglinge Schuldgefühle entwickeln, etwa dann, wenn sie merken, dass sie mit ihrem Schreien Stress verursachen. Auf diese Weise nimmt der Säugling bereits dieses Schuldnarrativ in sich auf.

Wie lassen sich Schuldgefühle überwinden?
Es geht erst einmal darum, zu erkennen, dass ich in Schuldgefühlen drinstecke. Dann gilt es, genau hinzusehen und zu analysieren: Was sind das für Gefühle? Woher komme sie? Aber zu realisieren, dass man Schuldgefühle hat, ist gar nicht so einfach. Denn wir haben Mechanismen aufgebaut, um Schuldgefühle gar nicht erst aufkommen zu lassen, weil sie einfach so unangenehm sind. Wir sagen dann also etwa: «Ich rufe einmal pro Woche die Eltern an», und realisieren gar nicht, dass das eine Antwort in einem Machtdiskurs ist.

«Hält man eine Bindung nur aufrecht, damit man keine Schuldgefühle haben muss, besteht im Prinzip keine wirkliche Bindung mehr»

Wie kommt man dem Machtdiskurs auf die Schliche?
Indem wenn man sich fragt: Wer zwingt mich, die Eltern einmal pro Woche anzurufen? Worum geht es hier eigentlich? Wer übt emotionalen Druck auf wen aus und warum? Geht es darum, sie zu beruhigen und ihnen zu vergewissern, dass bei mir alles okay ist? Sollte das der Fall sein, kann man ihnen sagen: Ich telefoniere, wenn ich das Bedürfnis habe, euch von mir zu erzählen. Oder: Ihr könnt mich anrufen und mir sagen, dass ihr euch Sorgen macht. Dann sind die Bedürfnisse klar ausgesprochen, und das Gespräch ist Teil der Bindung. Denn der Punkt ist: Hält man eine Bindung nur aufrecht, damit man keine Schuldgefühle haben muss, besteht im Prinzip keine wirkliche Bindung mehr.

Sie sagen auch, dass Schuldgefühle ein Bindungskitt sein können. Wie ist das zu verstehen?
Ich habe in meiner Praxis immer wieder gesehen, dass viele Paare, oder breiter formuliert, Menschen in Zweierbeziehungen, letztlich gar nicht aus dieser Situation herauskommen wollen, weil sie durch das Schuldverhältnis den anderen an sich binden können. Lieber einen zermürbenden Machtkampf, als allein zu sein – und darin steckt der Bindungskitt. Dem liegt eine geradezu sado-masochistische Komponente inne. Die andere Möglichkeit ist, sich einzugestehen: Das will ich nicht, ich trenne mich.

Es gibt aber auch die Option, sich gemeinsam neu zu orientieren.
Natürlich. Und ich mache keinen Unterschied, ob es sich dabei um eine Zweierkonstellation handelt oder um einen Konflikt auf politischer Ebene. Man kann sich dafür entscheiden, die Beziehung nicht mehr in einem Machtsystem zu verbringen, sondern gemeinsam einen anderen Weg zu suchen oder sich zu trennen. Wenn man bereit ist, den Machtkampf oder die Konfliktsituation zu verlassen, kann man es innert Sekunden tun. Das wäre eine Art Evolution – eine Evolution hin zu mehr Lust und Freude an diesem Leben.

Die Psychoanalytikerin und Autorin Jeannette Fischer lädt im Rahmen der Wintergespräche in Zürich an fünf Sonntagen Gäst:innen ein, um mit ihnen über das Thema «Wie geht Frieden?» nachzudenken. Von 27. Oktober 2024 bis 16. Februar 2025.

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