Prosit auf die direkte Demokratie
- Text: Stephanie Hess, Foto: Getty Images / Martin Barraud
Es kann nicht sein, dass Frauen Gemeindeversammlung fernbleiben und sich so vor spröden und komplizierten Themen drücken, findet annabelle-Redaktorin Stephanie Hess.
Glatzen glänzen im Licht der Turnhalle. Karierte Hemden stecken straff hinter Gürtelschnallen. Hier, im Schmiedofen der direkten Demokratie, wird Politik gemacht: an einer Gemeindeversammlung irgendwo im Herzen der Schweiz, wie sie im September wieder vielerorts stattfinden.
Ich sass berufsbedingt Dutzende Male in solchen Mehrzweckhallen. Man diskutiert über Jahresbudgets, Bushaltstellen und Weihnachtsbeleuchtungen – über Letzteres oft heissblütiger als über Kredite in Millionenhöhe – «diese modernen Sterne passen nicht in unser Dorfbild».
Es wird geflucht, gestritten, aber auch geschlichtet, bereinigt, gelacht. Danach prostet man sich am Apéro, von der Gemeinde offeriert, mit Weisswein und Orangensaft zu, pickt Chips aus Plastikschalen.
«Hier geschieht das wahre Leben», sagte ein früherer Kollege jeweils. Lange Zeit stimmte ich zu. Doch das wahre Leben geschieht fast ohne Frauen, und das ist das Problem. Natürlich schrumpft die Zahl der Stimmbürger, die sich zu einer Gemeindeversammlung aufraffen, ganz generell. Studien zufolge bleiben Frauen jedoch weit öfter zuhause als Männer. Der Unterschied ist sogar markanter als bei Urnenabstimmungen, die von Frauen ebenfalls zahlreicher geschwänzt werden. Nur rund 500 Gemeinden in der Schweiz führen auf lokaler Ebene Parlamente. In 1800 Dörfern dagegen entscheiden die Bürgerinnen und Bürger ganz direkt per Handheben über die Lokalpolitik. Dieses System hat auch seine Schwächen. Unter anderem die, dass jeder sieht, was der oder die andere stimmt. Aber letztendlich sind es Orte, wo jede Stimme gleich viel zählt, ob Alt oder Jung, Arm oder Reich, Mann oder Frau. Wir alle wissen, dass das einzigartig ist auf der Welt.
An die Demokratie, an die Herrschaft des Volks, knüpft sich allerdings eine Pflicht. Das Volk muss herrschen wollen, ergo anwesend sein. Wer teilhaben will an der Gesellschaft, muss auch teilnehmen.
Zugegeben, zugänglich, geschweige denn sexy sind die Themen selten: Jahresrechnung, Ortsplanungsrevision, Schulraumplanung. Da kann das lokale Druckgeschäft noch so viele bunte Kuchendiagramme und hübsche Visualisierungen im Erklär- und Einladungsheft unterbringen.
Aber es kann nicht sein, dass sich Frauen einfach vor spröden und komplizierten Themen drücken. Aus Furcht, etwas nicht zu verstehen. Aus Desinteresse. Oder weil der Mann geht und jemand zu den Kindern schauen muss. Denn diese Zahlenreihen und Paragrafen sind es, die den Rahmen unserer Gemeinschaft abstecken. Und wir sind es, die ihn mit unserer Stimme erweitern, verengen – und zwar ohne dafür selbst aktive Politikerin sein zu müssen. Schlicht Bürgerin zu sein, reicht.
Im Übrigen gibt es kaum ein politisches Gremium, das einfacher weiblich zu unterwandern wäre. Gehen Sie hin, nehmen Sie alle Ihre Freundinnen mit. Ziemlich sicher sind Sie dann bereits in der Überzahl und entscheiden jede Abstimmung. Und das feiern Sie danach am Apéro mit Chips und Weisswein à gogo – prosit auf die direkte Demokratie!
Stephanie Hess ist annabelle-Redaktorin. Zuvor beobachtete sie als Reporterin bei der «Neuen Zuger Zeitung» mit zunehmendem Verdruss das weibliche Desinteresse an der Lokalpolitik