Politik
Prävention häusliche Gewalt: «Buben müssen lernen, mit ihren Gefühlen umzugehen»
- Text: Marie Hettich
- Bild: Shutterstock
Was wird in der Schweiz dafür getan, um die Ursachen häuslicher Gewalt zu bekämpfen? Bisher wenig – doch einen konkreten Ansatz gibt es.
Häusliche Gewalt gegen Frauen und Kinder nimmt zu. Fast 12’000 Opfer hat die Polizei in der Schweiz im vergangenen Jahr registriert, davon 22 Prozent mehr Tötungsversuche als im Vorjahr. Der «Tages-Anzeiger» titelte im November: «Nach dem Lockdown brachen die Dämme». Menschen, die Opfer häuslicher Gewalt werden, brauchen gute Anlaufstellen – das ist klar. Doch was wird dafür getan, damit es gar nicht erst zu Gewalt kommt?
Unterschieden wird zwischen drei verschiedenen Arten der Prävention: Nur die primäre Präventionsstufe hat zum Ziel, die Ursachen von Gewalt zu bekämpfen – und damit die Gesellschaft, in der wir leben, von Grund auf zu verändern. Die sekundäre Prävention interveniert, sobald sich Gewalt ankündigt, um diese zu stoppen – wie zum Beispiel die landesweite 24-Stunden-Hotline für Betroffene, die aktuell vom Parlament gefordert wird. Und die tertiäre Präventionsstufe will verhindern, dass häusliche Gewalt, die schon passiert ist, nicht noch einmal passiert.
Der Fokus liegt auf den Opfern
Am meisten geschehe hierzulande in der präventiven Opferhilfe, sagt Gian Beeli vom Eidgenössischen Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG). Flyer, Plakate oder sonstige Aktionen richten sich in der Regel also nicht an die potenziellen Täter, sondern an die Opfer. «Es ist wichtig, dass sich Betroffene rechtzeitig Hilfe holen können. Oftmals passiert häusliche Gewalt nicht plötzlich, sondern kündigt sich in Form von zunehmender Spannung an.»
Sehr komplex sei die primäre Stufe, also die Ursachenbekämpfung von Gewalt, so Gian Beeli. «Es ist schwierig, die Wirksamkeit solcher Massnahmen nachzuweisen: Was genau hat jetzt wirklich verhindert, dass jemand gewalttätig wurde?» Es gebe meist auch nicht eine einzelne Ursache, die zu Gewalt führe. «Gewalterfahrungen in der Kindheit, eine patriarchale Kultur, Arbeitslosigkeit, Drogen, psychische Krankheiten – da kann vieles mit reinspielen.»
«Männer sind der unhinterfragte Nullpunkt»
Auch Markus Theunert von Männer.ch, dem Dachverband Schweizer Männer- und Vaterorganisationen, sagt: «Es ist perfid: Wenn Präventionsarbeit erfolgreich ist, kann man hinterher sagen, es hätte sie gar nicht gebraucht.» Doch nach den möglichen Ursachen von Gewalt gefragt, wird der studierte Psychologe sofort konkret: «Buben lernen: Weinen ist Mädchensache. Dabei sollten wir ihnen von klein auf beibringen, auch unangenehme Gefühle zuzulassen und mit ihnen konstruktiv umzugehen.»
Viele Männer würden es oft gar nicht wahrnehmen, wenn sie sich ohnmächtig oder traurig fühlen – und dann viel eher zuschlagen, weil sie ihre Gefühle nicht regulieren können. «Gewalt ist in der Soziologie von Männlichkeit verankert und nicht, wie so oft behauptet, in der Biologie des Mannes», so Theunert. «Hinzu kommt: Männer werden in unserem patriarchalen System im Irrglauben gelassen, sie seien wichtiger als alle andere. Sie sind der unhinterfragte Nullpunkt – und das ist gefährlich.»
In 9 von 10 Fällen sind die Täter männlich
Theunert fordert von den politischen Institutionen eine «Grundsatzauseinandersetzung mit dem Konzept von Männlichkeit» – sonst bekämpfe man nur Symptome. Dies müsse unter anderem in Form von Buben- und Männerarbeit geschehen. «Die Geschlechtsblindheit in der Politik ist zuweilen unerträglich. Und nein: Man kann diese strukturelle Mammutaufgabe unmöglich an einzelne Männer delegieren», sagt Theunert.
Die Zahlen sind eindeutig: In 9 von 10 Fällen sind es Männer, die zum Täter werden. Es leuchtet daher ein, Gewaltprävention geschlechtsspezifisch zu gestalten und den Fokus verstärkt auch auf Buben und Männer zu richten. Man fragt sich also: Warum geschieht dies in der Schweiz nicht längst im grossen Stil? Zwar gibt es hierzulande vereinzelte Gewaltpräventionsstellen, aber ohne den Auftrag, geschlechterspezifisch zu arbeiten. Beispielsweise in Deutschland ist dieser Zusatz im Präventionsgesetz verankert.
«Gesetze sind wichtig, die Sozialisierung ist umso wichtiger»
Auch Ron Halbright, Vorstandmitglied der Fachstelle Jumpps für Jungen- und Mädchenpädagogik, ist sich sicher, dass wir um eine grosse Geschlechterrollen-Debatte nicht herumkommen. Gesetze, wie beispielsweise die Revision des Sexualstrafrechts, seien wichtig – doch die Sozialisierung sei umso zentraler, sagt er. Jumpps bietet Weiterbildungen für Lehrpersonen und Projekte im direkten Kontakt mit Schulkindern hauptsächlich ab der 4. Klasse an – stets mit einem geschlechtsspezifischen Ansatz.
«Eines unserer Ziele ist es, Buben beizubringen, Konflikte friedlich und respektvoll zu lösen. Wir möchten sie dazu ermutigen, sich verletzlich zu zeigen. Und das ist gar nicht so einfach, denn in unserer Gesellschaft werden Buben von klein auf abgehärtet und auf Konkurrenz getrimmt. Da ist es kein Zufall, dass ihre Gewaltbereitschaft um ein Vielfaches höher ist», so Halbright.
«Will ich diese Geschlechterrolle annehmen oder nicht?»
Es brauche mehr männliche Sozialarbeiter – sowie sogenannte Safe Spaces, in denen Schüler und Schülerinnen, mal getrennt voneinander, dann wieder zusammen, die Rollenerwartungen an Mann und Frau reflektieren können. «Nur so können sie sich überhaupt entscheiden: Will ich diese Geschlechterrolle annehmen oder nicht?» Schon von Geburt an gehe es los, dass zwischen den Geschlechtern unterschieden wird – und spätestens ab der 1. Klasse gebe es kein Entkommen mehr. «Plötzlich ist der Druck, sich rollenkonform zu verhalten, massiv.»
Halbright findet: Mit geschlechtsspezifischer Präventionsarbeit müsse so früh wie nur möglich begonnen werden – flächendeckend und systematisch. Dass bisher dahingehend so wenig passiert, verwundert den Experten für Bubenarbeit wenig. «Viele Kantone haben nicht mal mehr ein Gleichstellungsbüro – die wurden bekämpft und mussten schliessen. Die SVP hat sich ausserdem mit Händen und Füssen dagegen gewehrt, dass im Lehrplan 2021 das Wort ‹Gender› steht.»
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