Politikwissenschafter Fritz Brugger: «Spenden wir, um uns gut zu fühlen oder um etwas zu bewirken?»
- Text: Helene Aecherli
- Bild: ZVG
Nie landen so viele Spendenaufrufe im Briefkasten wie vor Weihnachten, was Spendewillige immer wieder vor Fragen stellt: Für welche Organisation soll ich spenden? Was kann meine Spende wirklich bewirken? Fritz Brugger, Co-Direktor des NADEL an der ETH Zürich, über ein komplexes Thema.
annabelle: Fritz Brugger, das weltweite Leid und die Not sind überwältigend. Angesichts dessen wirkt die eigene Spende kaum noch wie jener Tropfen auf dem heissen Stein. Lohnt sich Spenden überhaupt noch?
Fritz Brugger: Auf jeden Fall. Spenden sind nach wie vor etwas Wichtiges, sie können Notlagen lindern und tragen dazu bei, dass langfristige Resultate erzielt werden. Zudem geben sie dem Individuum die Möglichkeit, etwas gegen die eigene Ohnmacht zu tun. Die Bereitschaft und der Wille der Bevölkerung zum Spenden sind denn auch ungebrochen, tendenziell sogar steigend. So sind etwa die Spenden der «Glückskette» in akuten Krisen immer sehr hoch. Natürlich, Spenden können nicht alle Probleme in Konfliktregionen oder Katastrophengebieten lösen. Aber wir dürfen diesen Beitrag auch nicht kleinreden.
Derzeit werden die Briefkästen mit Spendenaufrufen geflutet. Der Bedarf scheint immens: Es geht um Geld für Empowerment von Frauen, für Wasser- oder Bildungspatenschaften, für Kinder in Not, für Hospize in der Schweiz oder für lokale Igelauffangstationen. Wofür soll man angesichts dieser Fülle spenden?
Thematisch gibt es kein richtig oder falsch. Klar, wir tendieren dazu, mehr Empathie zu empfinden für Anliegen oder Organisationen, die uns emotional oder geografisch näher sind. Doch unabhängig davon, wofür jemand spenden will, ist es ratsam, weniger Organisationen zu berücksichtigen, diese aber dafür mit grösseren Beträgen zu unterstützen. Dadurch wird der administrative Aufwand der begünstigten Organisationen verringert. Das heisst, es wird mehr von meinem Spendenfranken ins Projekt investiert.
Ich spende also lieber hundert Franken an eine Organisation als je zwanzig Franken an fünf kleine?
Genau. Denn als Spender:in sollte ich mir – bei aller Betroffenheit – überlegen, wie ich am meisten bewirken kann.
«Grundsätzlich ist die Hilfe am wirkungsvollsten, die systemische Veränderungen anstösst»
Wie spende ich am effizientesten?
Am einfachsten ist es, wenn Sie bei der Organisation, die Sie unterstützen möchten, einen Dauerauftrag einrichten, bei dem monatlich eine bestimmte Summe abgebucht wird. Dadurch werden die administrativen Kosten reduziert.
Welche Art der Hilfe kann vor Ort tatsächlich eine Veränderung zum Besseren bewirken?
Grundsätzlich ist die Hilfe am wirkungsvollsten, die systemische Veränderungen anstösst. Das heisst, wenn nicht nur Schulhäuser, Gesundheitszentren oder Brunnen gebaut, sondern gleichzeitig die verantwortlichen lokalen Institutionen so gestärkt werden, dass sie diese essenziellen Dienstleistungen langfristig betreiben und bei Bedarf ausbauen können.
Doch dafür braucht es auch die lokalen Behörden, die das Projekt tragen – Stichwort «local ownership».
Genau. Der Dialog und die enge Zusammenarbeit mit den lokalen Verantwortlichen sind von Beginn weg grundlegend. Das Projekt, etwa der Aufbau einer Schule, muss gemeinsam mit den Behörden des jeweiligen Gebiets oder Bezirks geplant, die Verantwortung dafür von ihnen übernommen werden. Ansonsten kann das Projekt nicht langfristig funktionieren.
Was aber, wenn es um Spendenprojekte geht, die in einem Kontext sind, wie Afghanistan zum Beispiel, in dem es kaum möglich ist, mit dem Regime zusammenzuarbeiten?
In solchen Fällen ist es wichtig, genau hinzuschauen, durch welche lokalen Partner die Organisation die Spendengelder vor Ort einsetzt, sodass sie nicht indirekt dem Regime zugutekommen. Sinnvoll in diesem Rahmen können zivilgesellschaftliche Projekte sein, die die Resilienz von Individuen nachhaltig erhöhen, zum Beispiel mit Projekten zur Verbesserung der Ernährungssicherheit oder durch Gesundheitsdienstleistungen. Eine andere Herausforderung sind beispielsweise Projekte zur Bekämpfung von Gewalt an Frauen in Ländern mit sehr patriarchalen Normen und mit Strukturen, die Frauen generell und insbesondere alleinerziehende Frauen systematisch diskriminieren. In solchen Situationen ist die Bereitschaft der Behörden zur Zusammenarbeit oft gering, Polizei und Justiz bleiben bei konkreten Vorfällen meist untätig. Viele Projekte leisten deshalb direkte Hilfe für die Betroffenen, Frauen und Kinder.
Was gut und wichtig ist.
Natürlich. Es ist aber ebenso wichtig, parallel zur direkten Hilfe auf systemische Veränderungen hinzuarbeiten. Das heisst: die Bevölkerung zu sensibilisieren, die Zusammenarbeit mit den Behörden, mit der Polizei und Justiz zu suchen, um zu informieren und darauf hinzuwirken, dass betroffene Frauen bestehende Rechtsansprüche einlösen können und die Stellung der Frau grundsätzlich verbessert wird. Solche kulturellen Entwicklungen brauchen ganz besonders eine langfristige Perspektive.
«‹White Saviorism› ist in der Entwicklungszusammenarbeit seit langem ein Thema»
Spendenwillige kommen also nicht darum herum, sich eingehend mit den Projekten und der Organisation, der sie Geld geben wollen, auseinanderzusetzen.
Es ist sicher vorteilhaft, wenn sie etwas Zeit investieren und sich mit der entsprechenden Organisation und ihren Projekten auseinandersetzen. Hilfreich ist auch das Zewo-Gütesiegel für Hilfsorganisationen. Es gibt eine minimale Garantie, dass Strukturen und Mechanismen die Verantwortlichkeiten regeln und Integrität gewähren, dass die Organisation effizient arbeitet (Stichwort: Verwaltungskosten), Wirkungsziele definiert und über ihre Tätigkeit, Zielerreichung und finanziellen Belange jährlich transparent Bericht erstattet.
Im Zusammenhang mit Spenden wird häufig die Problematik des «White Saviorism» thematisiert. Es bezeichnet ein Phänomen, nach dem sich Menschen und/oder Organisationen aus dem globalen Norden dazu berufen fühlen, in Ländern des globalen Südens Entwicklungs-, Aufklärungs- oder Hilfsarbeit zu leisten – ohne sich jedoch mit den herrschenden Dominanzkulturen zu befassen, die die Missstände mitverursacht hätten. Dies führe zur Reproduktion von einem unterlegenen und mitleiderregenden Bild von Gesellschaften im globalen Süden. Inwiefern beeinflusst dieser Diskurs die Entwicklungszusammenarbeit?
«White Saviorism» ist seit langem ein Thema. Das Bewusstsein für die Problematik hat stark zugenommen. Immer mehr Organisationen treiben heute gezielt die «Lokalisierung» ihrer Arbeit voran. Das heisst, sie übertragen lokalen Akteur:innen mehr Kompetenzen und Verantwortung. Die wichtigsten Fragen für Spender:innen sind deshalb: Wie arbeitet eine Organisation mit ihren Partner:innen im globalen Süden zusammen? Wie wird «partnerschaftliche Zusammenarbeit» gelebt? Handelt es sich um echte Partizipation auf Augenhöhe oder ist es eine «Pseudo-Partizipation», bei der die lokalen Partner:innen einfach informiert oder konsultiert werden? Oder werden sie zwar thematisch einbezogen, haben aber keine Entscheidungsmacht?
Wie würden Sie eine partnerschaftliche Zusammenarbeit auf Augenhöhe beschreiben?
Zentral ist, dass die Menschen vor Ort darüber entscheiden, was ihre Prioritäten sind und welche Entwicklungsziele sie erreichen wollen. Die Aufgabe von Entwicklungsorganisationen ist es, mit Fachwissen, finanziellen Mitteln und Netzwerken beizutragen. Auf der Ebene der individuellen Hilfe bauen sogenannte «Unconditional Cash Transfer»-Programme auf dieser Idee auf. Sie zielen darauf ab, dass etwa armutsbetroffene Menschen regelmässige Geldüberweisungen ohne irgendwelche Restriktionen erhalten. Solche Programme sind nachgewiesenermassen wirkungsvoll, um Armut zu überwinden, und in der Umsetzung günstig. Trotzdem werden sie immer wieder skeptisch betrachtet, aus Angst, die Empfänger:innen brauchen das Geld dann für das – in den Augen hiesiger Organisationen – Falsche, was wiederum sehr paternalistisch gedacht ist. In der Folge setzt man auf «Conditional Cash Transfer». Das heisst, das Geld wird an bestimmte Auflagen gebunden, zum Beispiel an die Teilnahme an Beratungen, an die Impfung der Kinder oder den Schulbesuch.
Geldüberweisungen sollen vor allem dann besonders gut funktionieren, wenn Frauen Gelder erhalten.
Das wurde zuerst bei der Vergabe von Mikrokrediten festgestellt, dass Frauen nachhaltiger mit Krediten umgehen. Es ist aber nicht so, dass alle Männer das Geld nur für Alkohol verwenden, das wäre auch ein zu einfaches Weltbild. Empirische Studien zeigen jedoch, dass Frauen, die viel Care-Arbeit verrichten, stärker in die Gesundheit, Bildung und das Wohlergehen der Kinder und Familie investieren.
Wie erkennt man denn, ob eine Organisation mit ihren lokalen Partnern auf Augenhöhe zusammenarbeitet?
Das ist nicht immer einfach. Im Spektrum von einem paternalistischen Umgang mit lokalen Partnern bis zur Zusammenarbeit auf Augenhöhe, die in einer gleichberechtigten Mitsprache bei Entscheidungen gründet, findet man alle Abstufungen. Spender:innen sind hier auf die Informationen der Organisationen angewiesen: Was erfahre ich auf deren Website über ihre Arbeitsweise, über Evaluationen und über die Wirkung von Projekten? Wie kommuniziert diese Organisation in der Schweiz, wie macht sie Werbung?
Sie sprechen die Bilder an, die oft Menschen, allen voran Kinder, in mitleiderregenden Situationen zeigen.
Ja, genau. Und auch in dieser Beziehung gilt es zu differenzieren. Es wäre voreilig zu sagen, «die Organisation macht paternalistische Werbung, die auf Mitleid setzt, deshalb macht sie auch paternalistische Arbeit vor Ort». Das kann sein, muss aber nicht. Vielmehr ist es oft so, dass die Fundraising-Abteilung emotionaler kommunizieren will, weil das mehr Spenden generiert, während die Fachleute der Organisation betonen, dass die Bildsprache nicht dem entspricht, wie vor Ort mit den Leuten zusammengearbeitet wird. Mit diesem Widerspruch richtig umzugehen, ist eine grosse Herausforderung für die Organisationen.
Dennoch: Solche mitleiderweckenden Bilder verstärken doch die Vorurteile und die Vorstellung davon, dass Menschen im globalen Süden nur arm sind und von unserer Hilfe abhängen.
Richtig, und diese Vorstellung ist antiemanzipatorisch. Mittlerweile hat sich bei den Organisationen das Bewusstsein für diese Problematik deutlich erhöht, es findet ein Umbruch statt. Es gibt Organisationen, die heute darauf verzichten, etwa mitleiderregende Kinderbilder zu verwenden, aber wir sind noch weit weg vom Ziel.
«Helfen auf Augenhöhe verlangt immer eine Reflexion, eine Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle als Spender:in»
Wie sähe Ihrer Meinung nach eine Bildsprache aus, die auf Augenhöhe mit den Begünstigten ist?
Es gab zum Beispiel vor ein paar Jahre eine interessante Kampagne einer Schweizer Entwicklungsorganisation, die Fortschritt durch langfristige Zusammenarbeit illustrierte. Es war eine Bildstrecke zu sehen von der Grossmutter, die nicht lesen konnte, über die Mutter bis zur Tochter, die heute studiert. Das ist eine Form der Kommunikation, die auf diese Augenhöhe abzielt.
Diese Kampagne erntete aber harsche Kritik. Die Präsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus sprach von einer paternalistischen Kampagne.
Die Reaktionen waren sehr geteilt, es gab auch ausgesprochen positives Feedback. Kritiker:innen haben sich am Fokus auf Afrika gestört und daran, dass es um Grundbedürfnisse ging. Das zeigt, wie unterschiedlich Bildsprache verstanden wird. Spätere Kampagnen haben darauf reagiert. Sie haben die Logik, positive Veränderungen über die Zeit sichtbar zu machen, beibehalten aber Beispiele aus verschiedenen Kontinenten und zu verschiedenen Themen verwendet.
Was wäre Ihre bevorzugte Bildsprache?
Bilder sagen immer etwas aus über die Perspektive der Person, die fotografiert. Ich würde darum am liebsten sehen, wenn Fotograf:innen aus dem globalen Süden eine Plattform in den Kommunikationsmedien der Entwicklungsorganisationen erhalten, auf der sie – völlig unabhängig von der Projektarbeit der Organisationen – ihre eigene fotografische Arbeit vorstellen können. So lernen wir nicht nur interessante Kunstschaffende kennen, sondern auch den Blick der Leute vor Ort auf ihren Alltag und ihre Welt. Das wäre ein emanzipatorischer Ansatz. Ein solches Konzept in einem Spendenaufruf zu verwenden, ist aber natürlich schwierig.
Des Dilemmas der Bildsprache müssten sich Spender:innen im Prinzip bewusst sein.
Absolut. Das Problem ist, dass Spenden oft nicht rational entschieden werden. Die selbstkritische Frage lautet deshalb: Spenden wir, um uns gut zu fühlen, oder spenden wir, um etwas zu bewirken? Dazu kommt: Helfen hat grundsätzlich etwas Paternalistisches, auch in der Schweiz. Helfen auf Augenhöhe verlangt immer eine Reflexion, eine Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle als Spender:in.
Wie hilft man richtig?
Wichtig scheint mir, dass wir nicht einfach nur aus Mitleid helfen, das Gegenüber als hilfsbedürftiges Opfer oder als Mensch ohne eigene Wirkungskraft sehen, sondern als eine selbstbestimmte Person, die – aus welchen Gründen immer – punktuell Unterstützung benötigt. Das ist eine Haltung, die nicht bloss mit einem Nord-Süd-Verhalten zu tun hat, sondern eine Frage des Respekts gegenüber anderen Menschen.
Welchen Organisationen sollte man auf keinen Fall spenden?
Eine Sperrliste gibt es natürlich nicht. Vorsicht ist in der Regel angezeigt, wenn Individuen ein Projekt initiieren, weil sie jemanden auf einer Reise kennengelernt haben. Es gibt zwar viele Einzelinitiativen, die sich für gute Sachen einsetzen, doch stellt sich die Frage, inwiefern dieses Projekt aus einer zufälligen Betroffenheit lanciert worden ist und allenfalls ebenso schnell wieder aufgegeben wird – oder ob es eine systemische Wirkung hat. Und vor allem: Ist geklärt, was passiert, wenn die Person, die das Projekt initiiert hat, keine Lust mehr hat oder stirbt? Wenn sich seit zwanzig Jahren bei einem Projekt alles um eine Person dreht, ist das problematisch. Darüber hinaus erachte ich das Modell von Patenschaften – in der Regel für Kinder – als kritisch.
Warum?
Weil es sich dabei um Einzelhilfe handelt und das Kind meist gar nicht gefragt wurde, ob es das überhaupt will. Dadurch entsteht eine Abhängigkeit zwischen dem Kind und seinen Geldgebenden, zudem wird ihm eine spezielle Rolle und Verantwortlichkeit aufgebürdet. Denn was ist mit den Kindern, die keine Patenschaft haben? Wenn man anstrebt, dass ein Projekt eine systemische Wirkung haben sollte, die der jeweiligen betroffenen Gemeinschaft langfristig zugutekommt, sind Patenschaften eher die Inkarnation des Gegenteils.
Sollte man grundsätzlich lieber für Organisationen spenden, die Projekte in der Schweiz verfolgen?
Das lässt sich so nicht sagen. Wichtig ist, dass ich mir als Spender:in überlege, welche Ziele oder Anliegen ich unterstützen will. Und dann kläre, welche der verschiedenen Organisationen, die in diesem Bereich arbeiten, ich unterstützen soll. Die wichtigsten Kriterien sind auch hier: Partnerschaftlichkeit, Wirkung und Transparenz.
Fritz Brugger ist Co-Direktor des Center for Global Cooperation and Sustainable Development NADEL an der ETH Zürich. Er ist Politikwissenschafter und spezialisiert auf Länder in Subsahara-Afrika.