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US-Expertin Annika Brockschmidt: Das Ende des Abtreibungsrechts ist erst der Anfang

US-Expertin Annika Brockschmidt: Das Ende des Abtreibungsrechts ist erst der Anfang

Autorin Annika Brockschmidt ist US-Expertin und aktuell vor Ort. Für annabelle beschreibt sie den Zorn der Demonstrant:innen, erklärt, welche Rolle der Katholizismus beim Ende des Abtreibungsrechts spielt – und wirft einen Blick in die Zukunft.

«Keine Gerechtigkeit», ruft die Frau mit dem Mikrofon. «Kein Frieden!», schallt es ihr aus der Menge entgegen. «Keine Gerechtigkeit!» «Kein Frieden!» Wieder und wieder, bis die Stimme der Ansagerin vor Zorn zu brechen droht. Doch sie macht weiter. In der drückenden Hitze hat sich am 24. Juni 2022 eine grosse Menschenmenge vor dem Obersten Gerichtshof in Washington versammelt. Einige haben ihre Arbeit unterbrochen, um herzukommen.

Es ist eingetreten, wovor Expert:innen seit Jahren warnen: Der Oberste Gerichtshof hat die Urteile in den Fällen Roe v. Wade (1973) und Planned Parenthood v. Casey (1992) gekippt. Es ist das Ende des jahrzehntealten verfassungsmässig geschützten Rechts auf Abtreibung in den USA. Die Folgen für Frauen und Schwangere sind katastrophal und treten teils sofort ein.

Idaho, Louisiana, Texas, Arkansas, Kentucky, Mississippi, Missouri, Oklahoma, North Dakota, South Dakota, Tennessee, Wyoming und Utah – diese 13 Staaten verfügen über «Trigger-Gesetze», von denen mindestens acht in dem Moment in Kraft getreten sind, als der Oberste Gerichtshof sein Urteil verkündet und die Entscheidung über das Recht auf Abtreibung in die Verantwortung der Bundesstaaten übergeben hat. Der Rest folgt innerhalb der nächsten 30 Tage.

Abtreibung in einem anderen Bundesstaat könnte illegal werden

Doch damit nicht genug: Insgesamt wird Abtreibung in etwa 26 Staaten ganz verboten oder so extrem eingeschränkt, dass sie damit effektiv illegal wird.  Einzelne Bundesstaaten überlegen bereits, Schwangeren zu verbieten, eine Abtreibung in einem anderen Bundesstaat vornehmen zu lassen, wo sie noch legal ist. 

Einer der Demonstranten am Freitagmittag vor dem Obersten Gerichtshof ist Dan, ein Mann mittleren Alters, der ein «Catholics for Choice»-Schild hochhält. «Es ist wichtig, dass wir heute hier sind, um unsere Unterstützung zu zeigen», sagt er. «Frauen müssen die Wahl haben, abzutreiben. Ich denke, viele Katholik:innen sind dieser Meinung.» Umfragen bestätigen seine Vermutung: Mehr als die Hälfte aller amerikanischen Katholik:innen sind «pro-choice» – doch die rechte, deutlich kleinere Minderheit sitzt am längeren Hebel.

Verschmelzung von nationaler und christlicher Identität

Das Urteil des Obersten Gerichtshofs ist das Ergebnis eines jahrzehntelangen politischen Projekts religiöser und erzkonservativer Gruppierungen. Für sie ist Amerika ein christliches Land – gegründet von und für Weisse Christ:innen. Nur ein Christ – und zwar ein Christ, der ihre eigenen rechtskonservativen Ansichten teilt, kann in ihren Augen ein «wahrer» Amerikaner sein.

Diese Verschmelzung von nationaler und christlicher Identität ist das Herzstück des christlichen Nationalismus. Doch entgegen eigener Behauptungen begannen bekannte Gesichter der Weissen Evangelikal:innen – der einflussreichsten Glaubensrichtung der Bewegung – wie Jerry Falwell erst Ende der 70er-, Anfang der 1980er-Jahre damit, sich den Kampf gegen Abtreibung auf die Fahnen zu schreiben.

Davor hatte sie der Kampf gegen die Aufhebung der Segregation an Schulen und der damit drohende Verlust des steuerfreien Status christlicher Privatschulen, die weiter diskriminierten, politisch bereits aktiviert – aber auch Feminismus, die wachsende Gay-Rights-Bewegung und die Ausweitung der Bürgerrechte. Die Entscheidung, den Katholik:innen, die schon lange gegen Abtreibung kämpften, auf ihrem Kreuzzug gegen Abtreibung beizustehen, war ein genialer Schachzug: Die Vermarktung der Republikaner:innen als «Partei des Lebens» war in den 90er-Jahren komplett.

Wer Zahl von Abtreibungen senken will, müsste in Sexualkunde investieren

Weshalb aber überhaupt Abtreibungen verbieten? Das versteht, wer sich die in der Religiösen Rechten vorherrschenden Rollen- und Geschlechterbilder genauer anschaut. Dort haben Frauen nur eine Rolle, und zwar eine, die Gott ihnen zugeschrieben habe: die der Mutter, die ins Heim an den Herd gehört. Das Amerika des Weissen, christlichen Nationalismus ist ein zutiefst patriarchales und reaktionäres: Die Gesellschaft, die der Religiösen Rechten vorschwebt, ist eine, in der christliche, konservative Weisse die politische und kulturelle Deutungshoheit innehaben.

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«Wer nicht will, dass Frauen arbeiten gehen, sorgt dafür, dass sie ständig schwanger sind, zwingt sie zum Austragen von Schwangerschaften, die sie nicht wollen»

Annika Brockschmidt

Denn insgeheim geht es auch bei diesem Urteil nicht um den Schutz «ungeborenen Lebens». Wer wirklich die Zahl von Abtreibungen senken will, der müsste in Sexualkunde und Verhütungsmittel investieren, statt Abtreibung zu verbieten. Die Forschung zeigt: Durch Verbote sinkt nicht die Zahl der Abtreibungen – es steigt die Sterberate unter Schwangeren. Es geht nicht um «ungeborenes Leben», sondern um Kontrolle über die Körper von Frauen und Menschen mit Uterus.

Die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung sind jetzt Bürger:innen zweiter Klasse

Wer nicht will, dass Frauen arbeiten gehen, sorgt dafür, dass sie ständig schwanger sind, zwingt sie zum Austragen von Schwangerschaften, die sie nicht wollen. Degradiert sie zu Gebärmaschinen, die nicht mehr über ihren eigenen Körper entscheiden dürfen. Die Hälfte der amerikanischen Bevölkerung sind jetzt Bürger:innen zweiter Klasse.

Schon jetzt mehren sich Berichte aus Abtreibungskliniken, in denen das Personal ihre Patientinnen, die bereits im Wartezimmer auf den Beginn ihrer Abtreibung warteten, nach Hause schicken muss, ohne ihnen eine Alternative anbieten zu können. Das Pflegepersonal berichtet von Tränen und Verzweiflung. Viele der betroffenen Schwangeren sind ratlos. Sie müssten, je nachdem in welchem Staat sie sich befinden, weite Strecken auf sich nehmen, um eine Abtreibung zu erhalten. Währenddessen tickt die Uhr und lässt es unwahrscheinlicher werden, dass die betreffende Person noch vor Ablauf der staatlichen Fristen eine Abtreibung erhalten kann.

Landesweit Proteste gegen das Urteil

Nicht nur in D.C., sondern landesweit regen sich Proteste gegen das extrem unbeliebte Urteil: Zwischen zwei Drittel und drei Viertel aller Amerikaner:innen unterstützen ein Recht auf Abtreibung. Diesen Montag waren laut CNN mehr als ein Dutzend Demonstrationen landesweit angekündigt. Die bisherigen Proteste liefen überwiegend friedlich ab – es kam jedoch zum Einsatz von Polizeigewalt gegen Demonstrant:innen, beispielsweise in Los Angeles.

Die Frage lautet jetzt: Wird die Wut, wird die Empörung der Bevölkerung bis zu den Midterm-Wahlen im November dieses Jahres anhalten? Oder wird sie, wie es bei dem restriktiven texanischen Anti-Abtreibungsgesetz namens SB 8, das der Oberste Gerichtshof lange vor seinem Urteil in Kraft treten liess, schnell verpuffen? Die Stimmung im progressiven Lager ist gereizt – und müde. Der Wille, demonstrieren zu gehen, hat man den Eindruck, ist bei vielen geschwunden, aufgerieben von dem Gefühl, ohnehin nichts bewegen zu können. Das trifft sicher nicht auf alle potenziellen Demokraten-Wähler:innen zu, doch die Erschöpfung ist deutlich spürbar.

Der Angriff ist noch nicht vorbei

Es bleibt zu hoffen, dass das progressive Lager nicht in eine Schockstarre verfällt, sondern sich vehement gegen diesen massiven Angriff auf die Bürgerrechte der Hälfte der Bevölkerung wehrt. Denn der Angriff ist noch nicht vorbei: Clarence Thomas, einer der Richter am Supreme Court, bestätigte nämlich in seiner concurring opinion im Urteilstext genau das, wovor Expert:innen gewarnt haben: Dass sich der SCOTUS jetzt mit der Legalität von Verhütungsmitteln (Griswold v. Connecticut), der Aufhebung der Sodomie-Gesetze (Lawrence v. Texas) und der gleichgeschlechtlichen Ehe (Obergefell v. Hodges) befassen müsse – implizierend, diese Urteile seien ebenfalls falsch gefällt worden.

Sarah Wald, die Leiterin des «Law and Policy»-Studiengangs an der Harvard Kennedy School, analysiert: «Die Entscheidung von Dobbs ist herzzerreissend für alle, die sich für die Autonomie und Gleichberechtigung von Frauen einsetzen. Die Entscheidung hat auch möglicherweise verheerende Auswirkungen auf andere Rechte, von denen viele seit langem bestehen und derzeit Teil des sozialen, historischen und moralischen Gefüges Amerikas sind.»

Wald sagt weiter: «Die ursprüngliche Entscheidung Roe v. Wade basierte auf der Feststellung des Gerichts, dass der Zugang zur Abtreibung ein ‹Grundrecht› sei, das sich aus der Vorstellung von der Privatsphäre des Einzelnen als Grundlage der individuellen Freiheit ergebe. Dieses grundlegende Recht auf Privatsphäre war die Grundlage für mehrere äusserst wichtige Gerichtsentscheidungen, in denen die individuellen Rechte anerkannt wurden, darunter der Zugang zu Verhütungsmitteln, die Möglichkeit, zwischen verschiedenen races zu heiraten, gleichgeschlechtliche Intimität zu pflegen und die gleichgeschlechtliche Ehe.»

Es wird immer deutlicher: Das Ende des Rechts auf Abtreibung war erst der Anfang.

Annika Brockschmidt ist Autorin und Journalistin und Podcast-Produzentin. Sie ist studierte Historikerin und Konfliktforscherin, und schreibt über die Religiöse und politische Rechte in den USA – und anderswo. Ihr Buch «Amerikas Gotteskrieger. Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet» ist im Herbst 2021 bei Rowohlt erschienen.

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