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ICAN-Direktorin Beatrice Fihn über die nukleare Bedrohung: «Es ist absolut normal, Angst zu haben»

Politik

ICAN-Direktorin Beatrice Fihn über die nukleare Bedrohung: «Es ist absolut normal, Angst zu haben»

Beatrice Fihn setzt sich als Chefin der ICAN (International Campaign to Abolish Nuclear Weapons) für die Abschaffung der Atomwaffen ein. Im Interview erklärt sie, in welchem Ausmass ein Atomangriff ausfallen könnte, weshalb sie die toxische Maskulinität von politischen Machtführern als extrem gefährlich empfindet und warum sie bei Instagram für die Angst vor der nuklearen Bedrohung sensibilisiert.

annabelle: Beatrice Fihn, bei unserem letzten Gespräch 2018 hatte ICAN soeben den Friedensnobelpreis erhalten. Sie sagten damals: «Die Gefahr ist real. Solange wir diese Waffen behalten, werden sie auch irgendwann benutzt.» Vier Jahre später klingt ihre Warnung von damals aktueller denn je. Wie erleben Sie die aktuelle Situation?
Beatrice Fihn: Es ist eine schreckliche Zeit. Zunächst einmal, die Verwüstung in der Ukraine zu sehen und das menschliche Leid, das dort geschieht. Aber auch auf einer persönlichen Ebene trifft mich dieser Konflikt. Da ist auch eine Frustration da, manchmal denke ich: Wir haben doch schon so lange davor gewarnt, oder? Doch die Staats- und Regierungschefs haben sich geweigert, sich auf den Vertrag einzulassen, der Atomwaffen verbietet. Sie sagten so oft Nein dazu, weil die Gefahr so weit weg schien. Deshalb wollten auch Journalist:innen nicht über das Thema berichten.

Ich gebe zu, auch mir ging es so. Nach unserem Gespräch verschwand das Bewusstsein für eine atomare Bedrohung irgendwann wieder aus meinem Alltag. Gerade hier in der Schweiz wägen wir uns gerne in Sicherheit.
Das geht den meisten Menschen so. Wenn ich frustriert bin, muss ich mich daran erinnern, dass es nicht in der menschlichen Natur liegt, sich um Dinge zu kümmern, die einen im Moment nicht betreffen. Ich bin auch nicht auf normale Bürger:innen wütend – natürlich nicht. Wir alle haben 100 Millionen schwierige Dinge, mit denen wir jeden Tag umgehen müssen, erleben seit zwei Jahren eine Pandemie, sind besorgt über den Klimawandel, über Themen wie Gleichberechtigung und Gerechtigkeit. Wütend bin ich auf die politischen Führer:innen. Denn sie hatten alle Informationen. Wir haben mit ihnen und den Diplomat:innen hier bei der UNO, den Beamt:innen des Aussenministeriums und der Verteidigungsministerien unzählige Gespräche geführt – und sie alle wussten und wissen, dass das Risiko real ist.

Was hätte in den letzten vier Jahren passieren müssen?
Regierungen wie die der Schweiz hätten unseren Vertrag zum Verbot von Atomwaffen unterzeichnen sollen. Dann könnten wir nun sagen: Das, was Russland mit den Atomwaffen macht, und die Drohungen, die Putin ausspricht, sind illegal. Das Schweizer Parlament hat 2019 den Beschluss gefasst, diesem Vertrag beizutreten. Aber der Bundesrat hat es einfach nicht durchgezogen. Und doch beziehen sich jetzt auch die Ukraine oder die USA auf diesen Vertrag, auch wenn sie ihn nicht unterzeichnet haben. Sie sagen, wenn Putin Atomwaffen einsetzen würde, wäre das ein Kriegsverbrechen. Das zeigt, dass unser Vertrag bereits jetzt eine Grundlage bietet, auf der diskutiert wird.

Sie setzen sich für die atomare Abrüstung ein. Doch es gibt auch die Theorie, dass die fünf Atomwaffenstaaten für politische Stabilität sorgen.
Von der Vorstellung, dass diese fünf Länder verantwortungsbewusste Atomwaffenstaaten sind und irgendwie die Welt beschützen und die Stabilität aufrechterhalten, können wir uns verabschieden. Das wurde immer offensichtlicher. Denn die Tatsache, dass die westlichen Länder Atomwaffen haben, bedeutet einzig und allein, dass sie sich nicht in den Konflikt einmischen können. Russland konnte ungestört in die Ukraine einmarschieren. Und wenn die Ukrainer:innen um militärische Unterstützung bitten, können die USA nicht helfen, weil sie ebenfalls Atomwaffen haben. Um uns also vor unseren eigenen Waffen zu schützen, können wir nicht anderen helfen. Deshalb wäre es natürlich besser, wenn Russland diese Waffen nicht hätte. Wollen wir ein Russland ohne Atomwaffen haben, müssen wir klar sagen, dass Atomwaffen illegal sind. Doch wenn das nicht mal die Schweiz schafft, können wir das kaum von Russland erwarten. Wir ermutigen Putins Verhalten im Grunde genommen.

Putin hat seine Atomstreitkräfte in Bereitschaft gesetzt. Wie schätzen Sie die Gefahr eines Atomangriffs ein – und in welchem Ausmass könnte so ein Angriff ausfallen?
Wir wissen es wirklich nicht. Denn Russland gibt kaum Informationen über die eigenen Atomwaffen preis. Tatsache ist: Das Risiko eines atomaren Angriffs ist deutlich höher als noch vor vier Wochen. Die Nato und die USA haben ein sehr klares Signal gesendet, indem sie ihren Status nicht verändert haben, was sehr gut ist. Denn es zeigt, dass sie keine Eskalation wollen. Aber es zeigt eben auch auf, dass sie die Lage als sehr ernst einschätzen. Wenn das Ganze nur ein Machtspiel wäre, hätte die USA ebenfalls drohen können. Aber man will Putin ganz klar nicht provozieren, weil seine Drohung glaubwürdig scheint. Ich will nicht behaupten, dass es wahrscheinlich ist, dass er diese Waffen einsetzt, weil man einen Atomkrieg eigentlich gar nicht gewinnen kann. Aber gleichzeitig hätte ich auch nicht gedacht, dass er in die Ukraine einmarschieren würde. Und ich würde die Sicherheit meines Landes und die Sicherheit der Welt nicht von der Hoffnung abhängig machen, dass Putin rational handelt.

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«Ich denke, wir müssen viel Mitgefühl haben – auch mit den Russ:innen, die sich nicht äussern dürfen und für diesen Krieg nicht verantwortlich sind.»

Damals bei unserem Gespräch 2018 lieferten sich Donald Trump und Kim Jong-un auf Twitter gerade eine Diskussion darüber, wer die grösseren Bomben hat. Nun fürchtet die ganze Welt, wie sich Putin verhalten wird, wenn er sich in die Ecke gedrängt fühlt. Dass diese Männer mit ihren Machtspielen die ganze Welt in Angst versetzen, wirkt wie ein schlechter Scherz.
Das ist eine Art von toxischer Männlichkeit, die sehr gefährlich ist. Man drängt diese Männer in eine Ecke, in der sie hart aussehen müssen. Wer nachgibt, wird als schwach angesehen. Ich denke, wir müssen sehr klug darüber nachdenken, wie wir diesen Führungspersönlichkeiten eine Möglichkeit bieten, aus solchen Situationen wieder herauszukommen. Ich bin klar für Sanktionen, aber es ist eben auch zentral, dass Gespräche geführt werden und man versucht, einen diplomatischen Weg zu gehen. Wir dürfen Russland nicht die Türe verschliessen für einen Ausweg. Wichtig ist ausserdem gerade jetzt Empathie. Die Auswirkungen der Sanktionen gegen Russland wie die massiven Auswirkungen auf Finanzen und Lebensmittelsicherheit werden nicht nur Putin und seine Leute, sondern auch die normale Bevölkerung spüren. Ich denke also, wir müssen viel Mitgefühl haben – auch mit den Russ:innen, die sich nicht äussern dürfen und für diesen Krieg nicht verantwortlich sind.

Tatsache bleibt: Nukleare Waffen sind ein Gamechanger. Der Spieleinsatz, wenn man so will, wird in einem internationalen Konflikt durch sie dramatisch erhöht.
Ja, absolut. Und ich denke, das ist wirklich der Schlüssel: Solange es diese Waffen gibt, werden wir immer wieder an diesen Punkt zurückkommen. Wir wissen nicht, was das nächste Mal passieren wird. Vielleicht will China nach Taiwan einmarschieren und sagt: Wenn ihr euch einmischt, dann werden wir einen Atomkrieg beginnen. Oder es sind die USA, die etwas tun. Sie sind schon einmal illegal in den Irak einmarschiert.

Haben Sie denn noch Hoffnung?
Als der Konflikt anfing, hatte ich sehr viele Zweifel an unserer eigenen Arbeit. Und ich hatte das Gefühl, dass alles, was wir getan haben, falsch ist. Und damit meine ich nicht nur mich, sondern alle, die sich mit UN-Themen, Diplomatie und internationalem Recht beschäftigen. Aber dann hat Putin gedroht, Atomwaffen einzusetzen. Es folgte eine massive Opposition gegen Russland. Man stützte sich auf die UN-Charta, auf den Schutz der Zivilbevölkerung oder die Genfer Konventionen – all der massive Widerstand und die Proteste, die es gibt, beruhen auf diesen Gesetzen. Und das hat mir wieder ein bisschen Hoffnung gegeben. Das Völkerrecht hält ein Land vielleicht nicht immer davon ab, falsch zu handeln, aber es ist die Grundlage dafür, wie wir in solchen Situationen reagieren. In den letzten zehn Jahren haben sich Regierungen aus solchen Verträgen immer wieder zurückgezogen. Sie haben die Diplomatie untergraben, denken wir an Trump oder auch an Johnson, der sich aus der EU zurückgezogen hat. Ich hoffe, dass dieser Konflikt nun auch eine Gegenbewegung auslösen kann, die zeigt, dass internationale Verträge und völkerrechtliche Vereinbarungen tatsächlich funktionieren und wertvoll sind.

Sie glauben also, dass die aktuelle Bedrohung vielleicht sogar manchen Leuten die Augen öffnet?
Das haben wir zum Beispiel bei der Ermordung von George Floyd gesehen. Die Tatsache, dass er so eine massive Welle des Aktivismus ausgelöst hat, lag daran, dass es Kampagnen und Bewegungen gab, die auf den Bürgerrechtsbewegungen aufbauten. Und ich hoffe, dass uns der aktuelle Konflikt helfen kann, ICAN zu vergrössern. Dass wir diese Gelegenheit nutzen können, um zu zeigen, dass wir bereits an Lösungen arbeiten. Man muss nicht mehr ganz von vorne anfangen, die Sache ist in Bewegung. Und ich denke, das ist eine wichtige Botschaft, denn die Arbeit der Zivilgesellschaft und von Organisationen wie der unseren wird unterschätzt – weil sie nicht sehr sichtbar ist. Wenn also grosse globale Herausforderungen wie der Ukraine-Krieg auftauchen, ist es für die Menschen sehr einfach zu sagen: Oh, ich kann nicht glauben, dass niemand etwas dagegen unternimmt. Dabei gibt es so viele, die bereits etwas tun – und die brauchen genau das: Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit.

Auf Instagram nehmen Sie Stellung zur aktuellen Bedrohung. Sie betonen: Der nukleare Krieg hat noch nicht begonnen.
Ja, sich das in Erinnerung zu rufen, ist enorm wichtig. Viele Leute arbeiten daran, genau diese Eskalation zu stoppen. Die Situation ist beängstigend – und Angst kann ein Weckruf sein. Aber gleichzeitig ist es keine Lösung, wenn wir den Leuten einfach nur Angst machen, weil manche dann komplett dicht machen. Denn die Angst kann auch das Verlangen nach einer Aufrüstung und mehr Waffen antreiben, was nicht unser Ziel ist. Vor allem möchte ich das Bewusstsein dafür schärfen, dass diese Politik der nuklearen Abschreckung – die zum Beispiel Putin gerade betreibt – den Menschen auf der ganzen Welt psychologischen Schaden zufügt.

In Ihren Posts geben Sie deshalb auch Tipps, wie man mit der Angst vor einem Atomangriff umgehen kann. Damit sensibilisieren Sie für die grosse Angst, die diese nukleare Bedrohung in Menschen auslösen kann.
Ich habe ein Jahrzehnt damit verbracht, zu sagen: Es könnte passieren, und wenn es passiert, kann es wirklich schlimm sein. Dann gibt es Explosionen, dann sind da Feuerstürme und langfristige Auswirkungen für uns alle, für unsere Körper, unsere Kinder. Ich finde es fast unmöglich, diese Dinge jetzt auszusprechen. Und gerade jetzt über verdampfte Körper oder fallende Bomben zu sprechen, scheint nicht richtig. Unsere Organisation hat eine Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Leute mit diesen Informationen umgehen können. Also haben wir mit Expert:innen gesprochen und ein paar Tipps zusammengetragen, wie man diese aktuelle Situation aushält. Denn: Es ist absolut normal, Angst zu haben.

Beatrice Fihn (40) ist eine schwedische Juristin und seit Juli 2014 die Direktorin der Internationalen Kampagne zur Abschaffung der Atomwaffen (ICAN). ICAN wurde 2017 für ihren Einsatz mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

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