Einordnung: So steht es um die Frauen und Mädchen in Afghanistan
- Text: Helene Aecherli
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In Afghanistan spielt sich im Schattenwurf des Kriegs in der Ukraine eine stille Katastrophe ab: Seit die Taliban wieder an der Macht sind, werden Frauen und Mädchen Schritt für Schritt in die Finsternis zurückgedrängt. Eine Einordnung von Reporterin und Nahostexpertin Helene Aecherli.
Inzwischen sind es über 200 Tage her, seit Mädchen in Afghanistan, die älter sind als zwölf, zur Schule gehen durften. Die Taliban hatten bei ihrer Machtübernahme im vergangenen August aufgrund der Corona-Pandemie sämtliche Schulen geschlossen, zwei Monate später alle Jungen, aber nur noch Mädchen im Primarschulalter wieder zum Unterricht zugelassen.
Zwar hatten die Taliban stets versichert, dass sie das Recht auf Bildung achten würden, dass sie, die neuen Machthaber, so erklärten sie es auch Abgeordneten der internationalen Gemeinschaft, die Schulen für 12- bis 19-Jährige bloss geschlossen hätten, weil ihnen noch Mittel und Wege fehlten, die Sicherheit der Schülerinnen zu gewährleisten.
Am 21. März, kurz nach dem persischen Neujahrsfest, versprachen sie, die Schulen ab dem 23. März für alle zu öffnen – um dann an jenem Tag eine Kehrtwendung zu machen: Die Sekundarstufen sollten weiterhin geschlossen bleiben. Man sei sich uneins über Organisatorisches, unter anderem über den Stil der Schuluniformen, hiess es. Die jungen Frauen wurden vor den Türen ihrer Klassenzimmer wieder nach Hause geschickt. Dauer des Schulausschlusses: unbestimmt.
«Das Erwürgen unser aller Zukunft»
Schülerinnen und Lehrerinnen waren ausser sich: Auf Facebook und Twitter kursierten unzählige Bilder und Filme von schluchzenden, zutiefst enttäuschten Mädchen und aufgebrachten Lehrerinnen. Menschen im ganzen Land reagierten schockiert, die internationale Gemeinschaft kritisierte die Schulschliessungen scharf. «Ich habe schon über viele schreckliche Geschehnisse berichtet», schreibt der afghanische Journalist Fazelminallah Qazizai in seinem Essay «Why the Taliban view education as a weapon». «Aber die erneute Schulschliessung für Mädchen an jenem 23. März war einer der schlimmsten Augenblicke, den ich je erlebt habe. Es war ein Akt der nationalen Selbst-Sabotage, das Erwürgen unser aller Zukunft.»
In der Tat: Mit diesem Akt verhöhnen die neuen Machthaber am Hindukusch die Emanzipation der Frauen Afghanistans, die in den letzten zwanzig Jahren stark vorangeschritten ist, und drehen die Zeit in die Ära ihrer Vorgänger in den 90er-Jahren zurück, als jeglicher Schulunterricht für Mädchen verboten war, und Lehrerinnen – oft unter Todesgefahr – ihre Klassen heimlich in Kellern unterrichteten. Mehr noch, der erneute Schulausschluss junger Frauen droht die dringend benötigte humanitäre Hilfe aufs Spiel zu setzen.
62 Prozent der Bevölkerung sind auf Nothilfe angewiesen
Zur Erinnerung: Die Machtübernahme der Taliban sowie die Auswirkungen der internationalen Sanktionen auf die Bevölkerung haben die bereits existierende humanitäre Krise in Afghanistan massiv verschärft. Gemäss Schätzungen der UNO sind innerhalb eines Jahres über 700 000 Menschen intern vertrieben worden. Mehr als 24 Millionen Afghaninnen und Afghanen, 62 Prozent der Bevölkerung, sind auf Nothilfe angewiesen, davon fast 13 Millionen Kinder. Bis heute sind knapp 2,4 Milliarden Euro Hilfsgelder gesprochen worden. Die Geberkonferenz der Vereinten Nationen hat die Zahlungen unter anderem an die Bedingung geknüpft, dass die Menschenrechte und insbesondere das Recht auf Bildung für Mädchen eingehalten werden.
Doch davon scheinen sich die Taliban kaum beeindrucken zu lassen, auch nicht von der längst verbrieften Tatsache, dass das gesamtwirtschaftliche Wachstumspotenzial eines Landes eng mit der Gleichstellung von Frauen und Männern verbunden ist. Im Gegenteil: Kaum hatten sie Ende August das «Islamische Emirat Afghanistan» ausgerufen, drängten sie Frauen aus öffentlichen Ämtern und untersagten ihnen – ausser dem Lehrer- und Pflegeberuf – fast jegliche Erwerbstätigkeit.
Im Schattenwurf des Kriegs in der Ukraine
Unmittelbar nach den erneuten Schulschliessungen warteten sie mit weiteren Restriktionen auf – bestens getarnt durch den globalen Schattenwurf des Kriegs in der Ukraine: So können Frauen in Afghanistan nur noch an bestimmten Wochentagen öffentliche Parkanlagen besuchen – Sporttreiben ist verboten. Ohne einen männlichen Begleiter, einen Mahram, dürfen Frauen nicht ins Flugzeug steigen oder im Inland eine längere Reise unternehmen.
Selbst der Gang auf ein öffentliches Amt wird ohne Mahram erschwert. Professorinnen sind von Sitzungen mit männlichen Kollegen ausgeschlossen. Darüber hinaus wird der Zugang zu internationalen Medien blockiert, da sie, so die Machthaber, islamische und afghanische Werte unterwandern würden.
«Es gibt nur eine Gruppe, die schlimmer ist als sie: der IS»
«Die Taliban machen uns verrückt mit ihren immer neuen Regeln», sagt Khadija, die bis vor wenigen Monaten als HR-Managerin an einer Universität in Kabul gearbeitet hat. «Ich verstehe nicht, wie die Taliban das Land ohne die Mitwirkung von Frauen regieren wollen. Ich verstehe nicht», fügt sie wütend hinzu, «was das überhaupt für Menschen sind. Es gibt nur eine Gruppe, die schlimmer ist als sie: der IS.»
Khadija ist verheiratet und Mutter von zwei kleinen Kindern, einer Tochter und einem Sohn. Sie, die leidenschaftlich ihrem Beruf nachgegangen ist und vor kurzem sogar an Demonstrationen gegen das neue Regime teilgenommen hat, verlässt das Haus heute nur noch, um im Laden um die Ecke einkaufen zu gehen. Denn das Vordringen in den öffentlichen Raum ist für Frauen wieder zum Spiessrutenlauf geworden, nicht zuletzt auch deshalb, weil der Schritt aus den eigenen vier Wänden mit neuen Kleidervorschriften geahndet wird.
«Dass wir diesen schwarzen Schleier tragen müssen, belastet mich sehr»
Während die Taliban der 90er-Jahre Frauen unter die Burka zwangen, haben ihre Nachfolger einen schwarzen Hijab zur Pflicht erklärt – jenes «Stück Stoff», notabene, das von manchen westlichen Feministinnen hartnäckig als Ausdruck der Selbstbestimmung verteidigt wird.
«Dass wir nicht einmal mehr anziehen können, was wir wollen, sondern diesen schwarzen Schleier tragen müssen, belastet mich sehr», entgegnet Khadija. «Nun sollen sogar kleine Mädchen ihr Haar bedecken. Das ist furchtbar. Auf diese Weise lernen sie schon früh, jeden Schritt in der Öffentlichkeit mit Angst zu tun.»
Eine schallende Ohrfeige für jegliche feministische Aussenpolitik
Die demonstrative Entrechtung der Frauen Afghanistans ist unerträglich. Mehr noch, sie ist eine schallende Ohrfeige für jegliche feministische Aussenpolitik, für die Bestrebung, die Gleichstellung der Geschlechter weltweit nachhaltig zu fördern und zu implementieren. Doch stehen die Taliban mit ihrer geradezu aufsässig misogynen Machtpolitik keineswegs alleine da. Die Diskriminierung von Frauen gehört zum festen Repertoire reaktionärer religiös-fundamentalistischer Bewegungen.
Nicht umsonst gelten die Rechte von Frauen als «the low hanging fruit», die tiefhängenden Früchte – die Früchte, die bei einer Machtübernahme, sei es in einem Land oder innerhalb einer Community, am schnellsten und mit der sichtbarsten Wirkung vom Baum geholt werden können. Das haben etwa auch die Huthi-Rebellen vorgemacht, als sie 2015 die jemenitische Hauptstadt Sana’a besetzten.
Eine ihrer ersten Amtshandlungen war es, Kleidervorschriften für Frauen zu erlassen, ihre Reisefreiheit zu beschränken und sie aus politischen Ämtern zu jagen. Die einstige Informationsministerin brachte es damals wie folgt auf den Punkt: «Sie wischen die Errungenschaften von uns jemenitischen Frauen weg, als wären sie nichts als ein simpler Irrtum.»
«Es gibt in diesem Sinne nicht DIE Taliban»
Reaktionäre religiös-fundamentalistische Bewegungen sind jedoch keine homogenen Gruppen, sondern bestehen aus verschiedenen, sich oft sogar rivalisierenden Fraktionen. Dies lässt sich gerade daran erkennen, wie die Rechte der Frauen gruppenintern interpretiert werden. «Es gibt in diesem Sinne nicht DIE Taliban», erklärt Michael Kunz, Präsident der Afghanistanhilfe, einer Schweizer NGO, die seit über 30 Jahren in verschiedenen Provinzen des Landes Kliniken, Schul-, Waisen- und Frauenhäuser betreibt.
«Wir haben in jedem Projektgebiet mit einer anderen Fraktion der Taliban zu tun. In der südöstlichen Provinz Khost etwa, durften die Mädchen zur Schule, als es in anderen Provinzen verboten war. Die dortige Taliban-Führung hatte die Anweisungen von ganz oben entweder ignoriert oder wusste schlicht nichts davon.»
Schulschliessung für Studentinnen innerhalb der Taliban ist umstritten
So ist denn auch das aktuelle Dekret der Schulschliessung für Studentinnen auf der Sekundarstufe innerhalb der Taliban nicht unumstritten. «Es gibt zwei Lager: Auf der einen Seite steht die gemässigte Baradar-Fraktion um den stellvertretenden Regierungschef Mullah Abdul Ghani Baradar. Er hat das Doha-Abkommen zwischen den USA und den Taliban ausgehandelt und ist bereit, sich gegenüber dem Westen zu öffnen. Die andere Front bilden die Hardliner mit ihrem Anführer Sirajuddin Haqqani, dem Innenminister Afghanistans. Ihnen wird eine enge Verbundenheit zur Al-Kaida nachgesagt, weshalb sie von den USA auf eine Terrorliste gesetzt worden sind.»
Der Punkt ist nun, so Kunz weiter, dass sich beide Gruppierungen auf das sogenannte «Paschtunwali» beziehen, eine Methodologie der Rechtsprechung, die sich nach den Normen richtet, die in den Sittengesetzen der paschtunischen Stammesgesellschaft existieren. Und in diesen Sittengesetzen ist die Schulbildung von Mädchen nicht vorgesehen. Begründet wird dies als «Schutz» der Frauen, ein Konzept, das im Ehrverständnis der Paschtunen zentral ist. Doch ist die paschtunische Rechtsprechung nicht in Stein gemeisselt, sondern beruft sich grundsätzlich auf vier Rechtsschulen – und die legen das Recht anders aus.
Derzeit hat der extremistische Flügel der Taliban in Kabul die Überhand
Aus diesem Grund kommt es bei der Rechtsprechung zu denselben Themen oft zu unterschiedlichen Ergebnissen, was sich jene Gruppe zunutze machen kann, die gerade den Ton angibt. Derzeit hat das Haqqani-Netzwerk, der extremistische Flügel der Taliban, mit seiner rigiden Auslegung der Rechtsnormen in Kabul die Überhand. Es ist ein Regime, das für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gemacht wird, aber bei weitem nicht nur auf Ablehnung stösst, sondern vor allem im Süden des Landes viel Unterstützung erfährt.
Und das wiederum hat zur Folge, erklärt Michael Kunz, dass 70 bis 80 Prozent der nicht-paschtunischen Bevölkerung aus Afghanistan weg wollen. Sie haben mit ihrer Heimat abgeschlossen, sehen keine Perspektive für sich und ihre Kinder. Dieser drohende Exodus schmälert die Zukunftschancen des Landes zusätzlich. «Es gibt keine starke Zivilgesellschaft, nichts, was eine grössere Veränderung mit sich bringen könnte. Und das ist fatal. Erst wenn sich im ganzen Land eine breite Bevölkerungsschicht erheben und für Reformen auf die Strasse gehen würde, könnte sich in Afghanistan etwas bewegen.»
Befragte Männer ergreifen Partei für die Frauen
Möglicherweise beginnt eben diese Veränderung gerade anzurollen. Ein Indiz hierfür ist die Umfrage des amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Gallup, das das Befinden der Menschen in Afghanistan nach der Machtübernahme der Taliban untersucht hat. Dabei sticht vor allem ein Ergebnis heraus: Erstmals in der Geschichte der Gallup-Umfragen in Afghanistan ergreift die Mehrheit der befragten Männer Partei für die Frauen.
Waren vor zwei Jahren noch knapp 60 Prozent der Ansicht, dass Frauen in Afghanistan mit Respekt und Würde behandelt werden, sind es heute bloss noch 37 Prozent. Bei den befragten Frauen sank die Zahl jener, die das Gefühl haben, in Würde zu leben, von 29 auf 26 Prozent. Das sind zwar bei den Männern wie bei den Frauen noch immer nicht wenige.
Trotzdem: Die Männer nähern sich in Bezug auf die Wahrnehmung der weiblichen Lebensrealität den Frauen an. Oder anders gesagt: Die Afghaninnen scheinen in den afghanischen Männern im Kampf gegen geschlechterbasierte Diskriminierung Verbündete gefunden zu haben. Was dies für die nächsten Monate und Jahre bedeutet, wird sich weisen. Gut möglich, dass auch in Afghanistan Frauen gemeinsam mit den Männern einen gesellschaftlichen Wandel anstossen werden. Es lohnt sich auf jeden Fall, darauf zu hoffen.
Mit grossem Dank für diesen Bericht. Wir dürfen diese Menschen, insbesondere die Situation der Frauen, nicht vergessen!