Politik
Ein Opfer von häuslicher Gewalt erzählt: «Es war Alltag, dass ich mich einsperrte, weil ich so Angst hatte»
- Text: Anna Böhler
- Bild: Stocksy
Selina L.* (22) hatte Angst, das Haus zu verlassen. Nachdem sich die KV-Angestellte aus ihrer von häuslicher Gewalt geprägten Beziehung lösen konnte, stalkte und bedrohte ihr Ex-Partner sie. Wie wichtig die gesetzliche Ausgangslage und die Reaktion der Polizei in solchen Fällen sind, zeigt Selinas Geschichte.
«Kevin* erzählte mir zu Beginn allerlei Dinge, die nicht stimmten. Ich lernte ihn kennen, als ich mit zwei Freundinnen unterwegs war. Wir hatten kein Feuerzeug und er bat uns seines an. Er sagte mir, er habe eine eigene Wohnung, einen Hund und einen Job. Es stellte sich dann später heraus, dass er nicht arbeitete, sondern von der Rente seines Vaters, bei dem er auch wohnte, lebte. Auch den Hund, von dem er sprach, hatte er schon lang nicht mehr. Aber zu diesem Zeitpunkt war es bereits um mich geschehen. Ich verliebte mich in einen Menschen, den es gar nicht gab.
Er hatte keine Familie, die hinter ihm stand, geschweige denn jemanden, der sich für ihn interessierte. Er tat mir leid, ich hatte irgendwie das Bedürfnis, diese Lücke zu füllen. Aber etwas war komisch, etwas stimmte mit ihm nicht. Manchmal veränderten sich seine Augen plötzlich, dann lag in seinem Blick etwas Eiskaltes, Unberechenbares – als wäre ein Schalter umgelegt worden. Zum ersten Mal bemerkte ich diesen Blick, als ich herausfand, dass er seiner Ex-Freundin eine Liebeserklärung schickte, in der er schrieb, dass er nur sie liebe – und das, obwohl wir da bereits ein Paar waren. Mein Instinkt setzte ein, ich wollte nicht wieder so einen Typen an meiner Seite. Da habe ich die Beziehung zum ersten Mal beendet.
«Manchmal veränderten sich seine Augen plötzlich, dann lag in seinem Blick etwas Eiskaltes»
Er schrieb meiner Mutter und meiner Grossmutter, was für eine Schlampe ich sei, und schickte ihnen ein Video, das uns beide beim Sex zeigte. Ich wusste nicht einmal, dass dieses Video existierte, er hatte es ohne mein Einverständnis aufgenommen. Auch meinem Ex-Freund schickte er das Video und drohte sogar, es meinem damaligen Arbeitgeber zu schicken. Ich hatte grosse Angst, die Wohnung zu verlassen, und wurde von morgens bis abends mit seinen Nachrichten bombardiert. Er wusste zu jedem Zeitpunkt, wo ich mich gerade aufhielt und was ich machte.
Ich ging daraufhin zum ersten Mal zur Polizei, das war 2018. Der Polizist auf dem Revier hätte falscher nicht reagieren können. Er fragte weder nach meinem Namen, noch machte er sich Notizen. Ich erzählte ihm alles: Von den Drohungen und wie sehr ich mich vor Kevin fürchte. Das schien ihn alles herzlich wenig zu interessieren. Ich zeigte dem Beamten den Whatsapp-Chatverlauf, nahm den Laptop mit, den Kevin in einem Wutanfall zerstört hatte, und erzählte auch, dass er mich verfolgen würde. Der Polizist redete alles klein und riet mir von einer Anzeige ab. Seiner Erfahrung nach generiere dies nur noch mehr Probleme – ich solle einfach abwarten, bis sich die Situation von selbst lege. «Wer hilft mir, wenn nicht Sie? Wieso muss zuerst etwas passieren?», fragte ich ihn unter Tränen. Resigniert und wütend ging ich wieder nachhause.
«Ich dachte, Männer seien einfach so – und es sei die Aufgabe von uns Frauen, nachsichtig zu sein»
Und dann herrschte plötzlich Ruhe – die Ruhe vor dem Sturm, dachte ich mir. Irgendwann schrieb mir Kevin, er hätte gern ein klärendes Gespräch. Er war sehr sachlich und wir sprachen uns aus. Er wollte eine zweite Chance – und ich war dumm genug, ihm diese zu geben. Er verbrachte viel Zeit mit mir und las mir jeden Wunsch von den Lippen ab. Ich vergass dort, wie anders er sein konnte. Ich versuchte, sein Verhalten von früher zu entschuldigen, und sagte mir immer wieder, dass ich vielleicht auch so wäre, hätte ich seine schwierige Kindheit gehabt. Ich suchte keinen Grund, ihn zu verlassen, sondern immer nur Gründe, um bei ihm zu bleiben. Ich hatte noch nie einen Mann in meinem Leben, der sich anständig benehmen konnte. Ich dachte unterbewusst immer, Männer seien einfach so – und es sei die Aufgabe von uns Frauen, nachsichtig zu sein.
Als ich und zwei Freundinnen unsere WG auflösten, wurde mir klar, dass ich gezwungenermassen mit ihm wohnen werde. Er wohnte ja bereits vor meinem Auszug aus der WG bei mir, denn er hatte keine eigene Wohnung. Wo wollte er sonst hin? Vor meinen Mitbewohnerinnen konnte er mir nichts allzu Schlimmes antun. Wenn ich jetzt einen Rückzieher machen würde, würde er mir vor meiner eigenen Wohnung auflauern und meinen Ruf zerstören. Dieses Mal würde mir keine Mitbewohnerin helfen können, ich musste da allein durch. Das machte mir Angst – ich fühlte mich ausgeliefert. Alle sagten, ich solle ihn einfach verlassen, aber niemand verstand, welche Konsequenzen das mit sich bringen würde. Die ganze Zeit in der Angst zu leben, Steine in den Weg gelegt zu bekommen. Wenn er drohte, er würde die Bremsleitungen durchschneiden, bremste ich sicherheitshalber in der Tiefgarage.
Kevin schlug mich vor allem gegen Ende unserer Beziehung oft. Ich dachte mir dann jeweils: Besser schlägst du mir ins Gesicht, anstatt mich mit Worten zu verletzen – die hallten danach noch ewig in meinem Kopf. Wenn er mich schlug, tat es nur kurz weh. Einmal hielt er mir ein Messer an den Hals. Ich hatte Todesangst. Immer wieder riefen Nachbarn die Polizei. Und das Schlimmste ist, dass Kevin nicht der erste Freund ist, wegen dem die Polizei gerufen wurde. Unter meinem Namen gibt es zahlreiche Einträge wegen häuslicher Gewalt. Zuhören wollte mir trotzdem niemand.
Neben der rohen, physischen Gewalt gab es natürlich auch psychischen Terror. Er bezeichnete mich regelmässig als Schlampe und diskreditierte alles, was ich ihm zu sagen hatte. «Du bist eine Psychopathin, weisst du das nicht?», sagte er etwa. Ich hatte keine Privatsphäre. Nicht nur wohnte er hier, er kontrollierte auch immer wieder mein Handy. Jede App, Chat für Chat. Ich konnte nicht in einem Gruppenchat sein, in dem noch Männer waren – er wäre ausgerastet. Es gehörte zu meinem Alltag, dass ich mich mit meinem Hund in meinem Zimmer einsperrte, weil ich so Angst vor ihm hatte. Und dann zitterte und wartete ich, bis auch sicher genug Zeit vergangen war, damit er sich beruhigen konnte.
«Ich zog die Anzeige zurück – das bereue ich so sehr»
An meinem neuen Wohnort kam die Polizei zum ersten Mal im Juni 2020. Zwei Bekannte von Kevin und ich waren unterwegs nach Zürich, als dieser nicht aufhörte, anzurufen und Nachrichten zu schreiben. Weil ich mein Handy nicht dabeihatte, terrorisierte er seinen Bekannten. «Komm sofort nachhause, sonst reisse ich dir alle Haare aus!», schrie er durch die Freisprechanlage. Weil die zwei Angst hatten um mich, begleiteten sie mich nachhause. Ich sagte ihnen, sie würden nur Öl ins Feuer giessen, und bat sie, zu gehen – ohne Erfolg. Der Streit in der Wohnung eskalierte so sehr, dass Kevin und sein Freund sich verprügelten. Überall waren Blutspritzer. Wir verliessen die Wohnung und die anderen riefen die Polizei. Ich wusste, die Polizei würde die Situation entschärfen, langfristig würde es jedoch alles noch schlimmer machen. Es kamen insgesamt sechs Polizisten, drei gingen hoch in die Wohnung, die anderen drei befragten uns unten vor dem Haus. Nach langer Wartezeit führten sie ihn ab. Am Sonntagmorgen darauf musste ich auf dem Polizeiposten aussagen. Er verbrachte eine Nacht im Gefängnis. Wir zeigten ihn alle drei an.
Ich zog die Anzeige zurück – das bereue ich so sehr. Aber ich hatte zu grosse Angst vor Kevin und seinem Zwillingsbruder, der nach der Verhaftung seines Bruders nicht aufhören wollte, mir zu drohen. Ich wurde dazu gedrängt, die Anzeige zurückzuziehen, und gab nach. Ich war mit der Kraft am Ende und sah keine andere Lösung, als wieder zur gleichen Situation zurückzukehren. Kevin bläute mir ein, ich sei wertlos und aufgeschmissen ohne ihn. Er bearbeitete mich so, wie er es immer machte, und zog schliesslich wieder bei mir ein. Als sein Zwillingsbruder nach Monaten ohne eine einzige Mietzinszahlung seine Wohnung verlor, zog auch dieser noch in meine 2.5-Zimmer-Wohnung. Er würde eine andere Lösung finden und brauche nur ein paar Tage. Ich liess ihn hier wohnen, obwohl ich wusste, dass er nicht einen Franken an die Miete zahlen würde. Ich fühlte mich ohnmächtig. Aus ein paar Tagen wurden zwei Monate, in denen ich mich in meiner eigenen Wohnung nicht zuhause fühlte.
Vor einigen Monaten dann warf ich beide aus meiner Wohnung. Meine beste Freundin und ihr Partner halfen mir. Allein hätte ich mich nicht wehren können, aber so traute er sich nicht, mich anzugreifen. Ich ging zur Polizei und erstattete Anzeige – und dieses Mal zog ich es durch. Ich nahm mein Leben wieder selbst in die Hand und fühlte, wie an die Stelle der Ohnmacht wieder ein Gefühl der Selbstbestimmung trat.
Ich ging also ein – hoffentlich – finales Mal auf den Polizeiposten und machte meine Aussage. Im Detail schilderte ich den Beamten alles, von A bis Z. Kevin gab alles zu und unterschrieb zu meiner Überraschung jeden vorgelegten Screenshot. Ich zeigte ihn wegen Bedrohung gegen Leib und Leben und wegen mehrfacher Beleidigung an. Er sagte bei der Befragung, er würde in seine Heimat, die Dominikanische Republik auswandern. Der Polizist erklärte mir, Kevin bekäme ohne Wohnsitz keine Sozialhilfe – er habe sich nie irgendwo angemeldet. Er ist nun also offiziell obdachlos. Egal, was er mir angetan hat: Das zu hören bricht mir das Herz. Das wünsche ich nicht einmal ihm. Er hat alles verloren und ist ganz unten angekommen.
Ich bete, dass nun endlich Ruhe in mein Leben kehrt. Ich wünschte, die Polizei hätte mir von Anfang an zugehört und gehandelt. Und wenn es rechtlich nicht möglich ist, einzugreifen: Nehmt die Frauen ernst, hört ihnen zu, notiert, was sie zu sagen haben, und erfasst ihre Aussagen. Gebt ihnen das Gefühl, dass sie im Recht sind und es in Ordnung ist, sich Hilfe zu suchen. Verweist auf Opferhilfestellen oder gebt ihnen eine Nummer, wo sie anrufen können. Denn es kann nicht sein, dass erst etwas unternommen wird, wenn bereits Schaden entstanden ist.»
* Name von der Redaktion geändert
Im Juli 2019 beschloss der Bundesrat, Opfer von Stalking und häuslicher Gewalt besser zu schützen. Änderungen im Zivil- und Strafrecht sollen die Opfer entlasten: Seit Juli 2020 entscheidet zum Beispiel die Strafbehörde, ob ein Verfahren eingestellt wird. So wird vermieden, dass das Opfer unter Druck die Anzeige zurückzieht. Weiter wird 2022 ein Gesetz in Kraft treten, das es einem Gericht ermöglicht, ein Kontaktverbot mittels elektronischer Fussfessel oder eines Armbands zu überwachen.
Hier finden Opfer von häuslicher Gewalt und Stalking Hilfe und Informationen:
Die Opferhilfe-Beratungsstellen in der Schweiz: opferhilfe-schweiz.ch , Links zu Schutzunterkünften: opferhilfe-schweiz.ch/de/was-ist-opferhilfe/schutz/
Beratungsstelle für Frauen gegen Gewalt in Ehe und Partnerschaft (BIF): bif-frauenberatung.ch, Tel: 044 278 99 99 oder Onlineberatung
Deutschsprachige Onlineberatungen für Hilfesuchende (Frauen, Kinder und Männer): violencequefaire.ch
Dachorganisation der Frauenhäuser der Schweiz und Liechtenstein: frauenhaus-schweiz.ch