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Bestsellerautor Philipp Blom: «Wir stehen am grössten Wendepunkt der Menschheit»

Politik

Bestsellerautor Philipp Blom: «Wir stehen am grössten Wendepunkt der Menschheit»

Kriege, Klimakrise, schwächelnde Demokratien: Wir stehen vor der grössten Zäsur, die die Menschheit je erlebt hat, sagt der Historiker und Bestsellerautor Philipp Blom im grossen Interview. Aber er sieht auch Hoffnung.

annabelle: Philipp Blom, wenn man auf die Welt blickt, entsteht der Eindruck, als würden sich gerade alle tektonischen Platten gleichzeitig verschieben. Verstehen Sie, was ich meine?
Philipp Blom: Natürlich, mir gehts ähnlich. Im Moment verändert sich die Welt so rasch und so radikal, dass es schwierig ist, sich zu orientieren, weil man selbst auf einer dieser vielen Schollen sitzt, die gerade nebeneinanderher schwimmen.

Ist das für Sie furchteinflössend oder interessant?
Nun, ich interessiere mich für Wendepunkte – und tatsächlich leben wir heute am grössten Wendepunkt, den die Menschheit bisher erlebt hat. Das ist für mich als Historiker fantastisch, für mich als Individuum weniger.

Wir befinden uns heute also in einer noch nie dagewesenen Umbruchszeit.
Ja. Zwar war schon jede Generation überzeugt, die Generation vor der Apokalypse zu sein. Aber diesmal ist es anders: Wir stehen kurz davor, die Welt so weit zerstört zu haben, dass das Klima zusammenbricht. Das ist in der Geschichte der Menschheit noch nie vorgekommen. Es hat immer schon Klimavariationen gegeben, die sich auf menschliche Kulturen ausgewirkt haben, und in einem begrenzten Ausmass hat menschliche Aktivität auch Einfluss aufs Klima gehabt. Aber dass die Menschheit Technologien wie Verbrennungsmotoren und Pestizide entwickelt hat, die nun ganze natürliche Systeme global entregeln, das ist neu.

Damit aber nicht genug: Derzeit wird vor einem dritten Weltkrieg gewarnt. Mit dem Eingreifen Irans in den Israel-Gaza-Krieg ist die Lage im Nahen Osten fragiler denn je. Es gibt Flottenaufmärsche vor Taiwan, im Sudan sind Millionen von Menschen vor Kampfhandlungen auf der Flucht, und mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine herrscht vor der Haustüre Europas wieder ein territorialer Krieg – etwas, das man bis vor kurzem nicht mehr für möglich gehalten hätte.
Ja, das ist grauenhaft. Leider aber sind Kriege nichts Neues. Und auf lange Sicht sind sie wohl sogar wesentlich weniger schwerwiegend, als was mit dem Klima passiert – es sei denn, es geschieht ein Atomkrieg.

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«Die Klimakrise und die sich verringernde Artenvielfalt bedrohen nicht nur unsere Demokratien, sondern gefährden ganze komplexe Gesellschaften»

Wie meinen Sie das?
Das Klima wird Jahrhunderte brauchen, bis es wieder einigermassen ins Lot kommt. Nehmen wir zum Beispiel das Schrumpfen der Artenvielfalt: In unseren Ländern sind achtzig Prozent der Insektenbevölkerungen verschwunden. Menschen, die über fünfzig sind, können sich daran erinnern, wie es war, alle hundert Kilometer anhalten zu müssen, um die Windschutzscheibe des Autos von Mücken und anderen Insekten zu befreien. Das ist heute nicht mehr so. Die Klimakrise und die sich verringernde Artenvielfalt bedrohen nicht nur unsere Demokratien, sondern gefährden ganze komplexe Gesellschaften.

Wie muss man sich dieses Szenario vorstellen?
Enorme Landstriche versteppen und unzählige Menschen, die kein Wasser mehr haben, werden gezwungen, in andere Regionen zu fliehen. Im Sommer ist es monatelang über
vierzig Grad heiss, und es entsteht ein Gefälle zwischen jenen Bevölkerungsschichten mit Klimaanlage und jenen ohne. Handelsnetze brechen zusammen, dadurch ist unter anderem die Nahrungsmittelsicherheit nicht mehr gegeben, was selbstverständlich auch europäische Nationen betreffen wird. Ganze natürliche Systeme kollabieren, weil Schlüsselspezies wie Plankton oder Algen daraus verschwinden. Das ist eine unglaublich grosse Katastrophe, die sich da ankündigt, wogegen wir aber sehr wenig tun.

Mit anderen Worten, angesichts von Klimakrise und dem Schrumpfen der Artenvielfalt erachten Sie die Kriege als relativ trivial.
Für den Zustand unserer Erde, ja. Für unsere politische Ordnung hingegen sind die Kriege natürlich alles andere als trivial. Zumal es Vladimir Putin nicht nur um die Ukraine geht, sondern darum, eine internationale Ordnung wegzukicken. Nämlich eine Ordnung westlichen Zuschnitts, die zwar nie im Interesse der gesamten Weltbevölkerung war, aber in der Nachkriegszeit doch einiges an politischer und wirtschaftlicher Stabilität geliefert hat. Diese Stabilität wird jetzt von einem neuen Bündnis, zu dem China, Brasilien, Indien und eben auch Russland gehören, herausgefordert. Noch wissen wir nicht, wie der Krieg in der Ukraine ausgeht und ob der Westen einen genügend langen Atem hat, um als Macht auf der Weltbühne zu bestehen.

Sie haben einmal gesagt, Europa hätte nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 Ferien von der Geschichte gehabt. Nun aber sei die Geschichte nach Europa zurückgekehrt.
Ja, deswegen sage ich auch: Kriege sind nichts Neues. Nur kam Ende der 80er-Jahre im Westen diese seltsame Idee auf, die der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama mit seinem Aufsatz «The End of History» auf den Punkt brachte: Man glaubte, dass liberale Demokratien und Marktwirtschaften so attraktiv seien, dass sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dem einzigen ernstzunehmenden Gegner des Westens, alle Länder darauf einigen würden. Dann würden die Märkte funktionieren, würden Menschen geboren und sterben, aber abgesehen davon würde es keine grossen Ereignisse mehr geben. Das bezeichnete Fukuyama eben als das Ende der Geschichte. Und diese These wurde in Politik- und Wirtschaftskreisen weitherum geteilt.

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«Man hat nicht bedacht, dass sich der Gang der Geschichte nicht an Thesen hält »

Rückblickend muss man sagen: Das war wohl naives Wunschdenken.
Es war eine totale Verblendung. Denn man hat nicht bedacht, dass sich der Gang der Geschichte nicht an Thesen hält und dass die kulturellen Prioritäten vieler Regierungen ausserhalb Europas und der USA völlig andere waren. In Afghanistan und im Irak hat der Westen mit Geld und überwältigender militärischer Macht versucht, Demokratien zu installieren und westliche Werte einzuführen. Das ist schiefgegangen. Zudem hat man ausser Acht gelassen, dass es grosse Verwerfungen gibt zwischen den alten Kolonialmächten und den einstigen Kolonien, die es aufzuarbeiten gilt, ebenso, wie der Westen von der Kolonialisierung profitiert hat. Dass kolonialistische Tendenzen noch immer im Spiel sind, kristallisierte sich während der Pandemie heraus. Da entstand auf einmal eine Impfstoff-Apartheid, weil Europa nicht von seinen Patenten ablassen wollte, um auch ärmeren Ländern zu ermöglichen, ihre Bevölkerungen zu impfen. Das kam einem moralischen Bankrott gleich, der dem Ansehen Europas geschadet hat.

Dennoch: In den vergangenen Jahrzehnten wurden auch Fortschritte erzielt. Viele Länder erlebten einen wirtschaftlichen Aufschwung. Wir schienen auf einem guten Weg zu sein. Was haben wir übersehen?
Klar, vielen Ländern ist es zumindest wirtschaftlich besser gegangen. Alle diese Fortschritte sind jedoch nur um den Preis der Zerstörung unserer Lebensgrundlage erreicht worden. Das kann man nicht voneinander trennen. So ist etwa ein Grossteil dieser Fortschritte Huckepack geritten auf dem Erdölboom,es wurden Kriege geführt, Landschaften verwüstet, natürliche Ressourcen und Menschen ausgebeutet. Das sehen wir hier nicht. Wir brauchen nur die Handys. Dass die Seltenen Erden, die nötig sind, um die Handys herzustellen, in den Rohstoffminen Kongos oftmals von Kindern geschürft werden, wird gern verdrängt. Es geht nicht um Gut und da Böse. Aber wir können wirtschaftliches Wachstum und die Zerstörung der Natur nicht voneinander trennen, und das macht es kompliziert.

Sie schreiben in Ihrem Buch «Die Unterwerfung. Anfang und Ende der menschlichen Herrschaft über die Natur», dass wir Menschen uns selbst und unser Handeln als ausserhalb der Natur stehend betrachten und dass wir diese Illusion aufgeben müssen. Wie stellen Sie sich das vor?
Wir müssen akzeptieren, was der niederländische Philosoph Baruch de Spinoza schon vor knapp 400 Jahren formulierte: «Es gibt nichts ausserhalb der Natur. Alles ist Natur.» Wenn wir lernen könnten, so über uns selbst nachzudenken, würden wir realisieren, dass wir uns selbst ins Knie schiessen, wenn wir diese Systeme zerstören. Es gibt diese schöne Idee des französischen Philosophen Bruno Latour, die besagt, dass wir nicht auf der Erde leben, sondern in der kritischen Zone, in jener ganz dünnen Membran aus Gas, die unseren Planeten umgibt. Um diese Membran so zu erhalten, dass wir darin atmen und Pflanzen darin wachsen können, braucht es Milliarden von Akteuren, von Mikroben über tektonische Platten bis zum Menschen. Das ist eine realistischere Sicht auf unsere Rolle auf diesem Planeten und auch unsere beste Überlebensstrategie. Nur, wenn wir begreifen, dass wir abhängig sind vom Funktionieren des ganzen Systems, können wir in diesem System nachhaltig gedeihen.

Ein schönes Bild. Das setzt aber einen globalen, kollektiven Willen voraus. Und der ist eine Utopie.
Vielleicht, aber was ist die Alternative? Wir können gerade im kleinen Europa viel tun, was eine globale Wirkung entfalten kann. Etwa auf Kurzstreckenflüge verzichten oder Technologien zur nachhaltigen Energieerzeugung entwickeln, die dann als globale öffentliche Güter vertrieben werden. In der Folge müssten Länder, die sich keine Patente für neuartige Energiekraftwerke leisten können, gar nicht erst Kohlekraftwerke bauen und wären trotzdem in der Lage, ihre Bevölkerung zu entwickeln, wie es ihr gutes Recht ist. Das heisst, der Kampf fürs Klima geht nur über globales Handeln, globale Solidarität, auch über globale Umverteilung.

«Erwachsen zu sein, bedeutet auch, verschiedene Dinge gleichzeitig in seinem Bewusstsein zu behalten. Das ist anstrengend. Niemand sagt, dass es einfach ist»

Seit langem wird in Europa wieder über Atomwaffen geredet. Die globalen Militärausgaben liegen heute höher als während des Kalten Krieges. Zudem erleben wir weltweit einen massiven Rechtsrutsch. Haben wir angesichts all dessen die Kapazität dafür, übers Klima nachzudenken?
Nun, erwachsen zu sein, bedeutet auch, verschiedene Dinge gleichzeitig in seinem Bewusstsein zu behalten. Das ist anstrengend. Niemand sagt, dass es einfach ist. Immerhin haben wir in Europa das Glück, in Demokratien zu leben. Das heisst, wir dürfen diese Kompetenzen an Menschen delegieren, die dafür sorgen, dass wir uns gegen Aggressoren verteidigen können. Und an solche, die uns daran erinnern, dass unser Langzeitinteresse immer noch darin liegt, den Klimawandel unter Kontrolle zu bekommen.

Gerade die Demokratien scheinen angezählt. Weltweit setzen sich autoritäre Herrscher durch. Und wie die Trendstudie «Jugend in Deutschland 2024» zeigt, steht die rechtspopulistische Partei AfD mit 22 Prozent aktuell an der Spitze der Wählergunst bei den unter Dreissigjährigen. Das ist alarmierend.
Die Demokratien schwächeln, ja. Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn Sie sich den grossen Kontrast zwischen den magischen Nachkriegsjahren und heute ansehen. Damals ging es in jeder europäischen Demokratie wirtschaftlich aufwärts, und es gab diese Idee, dass es den eigenen Kindern mal besser gehen würde und dass man sich, wenn man
sich wirklich einsetzt, eine Reihenhaushälfte, ein Auto und eine Waschmaschine leisten kann. Das war eine historisch aussergewöhnliche Situation, auch deshalb, weil durch die Zerstörung von zwei Weltkriegen viel Aufbauarbeit nötig war. Heute aber glaubt kaum mehr jemand an diese Idee. Dass es unseren Kindern besser gehen wird als uns, scheint eher lachhaft – leider. Und dass alle durch die eigene Arbeit sozial aufsteigen können – auch das ist kaum mehr realistisch.

Treiber dieser Entwicklung ist die Globalisierung und damit die Deindustrialisierung Europas, was die arbeitende Klasse und später auch den bürgerlichen Mittelstand geschwächt hat. Stimmen Sie dem zu?
Absolut. Es gibt eine Grafik der OECD, die zeigt, wie sich Produktivität und Einkommen entkoppelt haben: So gab es zwischen 1945 und etwa 1980 einen fast hundertprozentigen Produktivitätsschub. In derselben Zeit stiegen auch die Löhne um gut hundert Prozent. Und dann kam die Zeit der englischen Premierministerin Margaret Thatcher und von US-Präsident Ronald Reagan, die Zeit der finanziellen Liberalisierung und der Globalisierung. Danach stagnieren die Löhne inflationsberichtigt auf dem Niveau von 1980, die Produktivität steigert sich aber um weitere 150 Prozent. Daran aber hat die arbeitende Bevölkerung kaum mehr Anteil. Die Gewinne gehen, man muss es wirklich so sagen, hauptsächlich an Bosse und Aktionär:innen. Und das ist einfach nicht fair.

«Linke Parteien sind mitverantwortlich dafür, dass die Debatten zur Migration nicht ehrlich geführt werden»

Das gehört zur Hauptkritik an der Globalisierung.
Natürlich, denn es gibt immer mehr Menschen, die im Prinzip zutiefst gedemütigt sind, weil sie ohne Perspektiven in dieser Gesellschaft leben. Sie werden von der Automatisierung abgehängt, arbeitslos und nicht mehr wirklich gebraucht. Klar, sagen die dann irgendwann: Wisst ihr, was? Dieses tolle System Demokratie, das funktioniert nicht so gut für uns. Ganz abgesehen davon, dass unsere Meinungen auch nicht mehr so wertvoll zu sein scheinen, wie sie das früher mal waren. Dass wir das Gefühl haben, wir leben nicht mehr in unserem eigenen Land.

Sie sprechen die Migration an.
Die geflüchteten Menschen, die ab 2015 nach Europa gekommen sind, haben vielerorts das Strassenbild verändert. Und dass manche Menschen in Deutschland oder Österreich, aber auch etwa in Schweden und sogar in der Schweiz diese Welt nur noch schwer wiedererkennen und verunsichert sind, finde ich sehr verständlich. Die Frage ist nur, wie man diese Verunsicherung rationalisiert.

Eine Erklärung für den massiven Rechtsrutsch, der in vielen Ländern zu beobachten ist, liegt darin, dass gerade rechte Parteien geschickt darin sind, die Ängste aufzufangen, die in weiten Teilen der Bevölkerung vorherrschen, während es linke Parteien versäumt haben, diese Ängste zu thematisieren.
In dieser Beziehung hat die Linke total versagt, ja. Von rechts werden Sorgen um strapazierte Sozialsysteme oder ein erhöhtes Gewaltpotenzial instrumentalisiert, um Migration an sich zum Problem zu machen. Sie sagen: «Wenn wir nur eine schöne hohe Mauer bauen um unser intaktes Land, und alle Leute rauswerfen, die nicht aussehen wie wir, dann brauchen wir unsere Haustür nicht mehr abzuschliessen.» Das ist ein zynisches Instrumentalisieren von verständlichen Ängsten, weil sie Migrant:innen zu Sündenböcken macht. Menschen, die wir brauchen, weil es in unseren Ländern nicht mehr genug Leute gibt, die arbeiten können oder bestimmte Arbeiten verrichten wollen. Aber Menschen, die natürlich auch ihre eigenen Geschichten, Kulturen und Traditionen mitbringen, was im Zusammenleben miteinander nicht immer einfach ist.

Und genau diese Themen werden von linken Parteien gern verharmlost.
Sie sind mitverantwortlich dafür, dass die Debatten zur Migration nicht ehrlich geführt werden. Klar, es ist schwierig, über solche Themen ehrlich und konstruktiv zu sprechen und zu sagen: Wir wollen und brauchen pluralistische Gesellschaften, die für viele Lebensentwürfe Platz haben. Aber wir müssen einander auch verstehen, es ist ein bisschen wie im Strassenverkehr. Da gibts Regeln, die verbindlich sind für alle. Wenn eine Person rechts von mir an der Kreuzung steht, dann ist es nicht wichtig, woran sie glaubt oder welche Kleider sie trägt, sondern sie hat Vorfahrt, weil sie rechts steht. Und natürlich müssen diese Spielregeln von allen Seiten auch so akzeptiert werden, und man muss sie dann auch tatsächlich erzwingen können.

«Was mich überrascht, ist, wie schnell sich gerade jene Menschen, die sich ja eigentlich als inklusiv und antirassistisch verstehen, antisemitischer Klischees bedienen»

Aber genau das Umsetzen dieser Spielregeln bedingt das Funktionieren von demokratischen Strukturen.
Dieser Gedanke bringt mich zu einem Satz des deutschen Verfassungsjuristen Ernst-Wolfgang Böckenförde, den ich wichtig finde, wenn wir über die Krise der Demokratie nachdenken. Böckenförde sagt: «Der freiheitliche, liberale oder liberale säkulare Staat beruht auf Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.» Das heisst, ein Wahlsystem oder ein Gesetzbuch ist nur ein Katalog von Spielregeln, im Prinzip eine Fiktion. Man muss sich darauf verlassen, dass alle dieses Spiel mitspielen und die Regeln beachten. Was aber ist, wenn wir nicht mehr wissen, ob ein Donald Trump sein Amt auch wieder abgeben wird, würde er erneut zum US-Präsidenten gewählt? Wenn wir einander nicht mehr vertrauen? Dann bricht etwas ganz Fundamentales zusammen in der Gesellschaft und damit auch das Vertrauen darauf, dass das System funktioniert.

Der Krieg zwischen Israel und Gaza erzeugt auch in europäischen Ländern so viel Druck, dass es derzeit schwierig ist, zwischenmenschliches Vertrauen aufzubauen. Vielerorts zeigt der Antisemitismus wieder unverhohlen seine Fratze. Was sagen Sie dazu?
Antisemitismus ist unter allen Umständen unerträglich und inakzeptabel. Was mich überrascht, ist, wie schnell sich gerade jene Menschen, die sich ja eigentlich als inklusiv und antirassistisch verstehen, antisemitischer Klischees bedienen beziehungsweise auf sie hereinfallen. Das ist erstaunlicherweise auch der postkolonialen Sichtweise geschuldet, die Menschen in imaginäre Kollektive von weissen Unterdrückenden und nicht-weissen Unterdrückten kategorisiert – und mit der nun auch auf den aktuellen Nahostkrieg geblickt wird.

Eine Sichtweise, die den hochkomplexen historischen und politischen Hintergründen keineswegs gerecht werden kann.
Nein, und es bringt uns auch keiner politischen Lösung näher. Diese Sichtweise bedient sich auch stark antisemitischer Klischees von der jüdischen Weltverschwörung, von jüdischem Kapital und globalen Netzwerken, und die werden dann auch in der Linken ohne Bedenken übernommen. Lassen Sie mich festhalten: Natürlich hat Israel ein Recht darauf, sich gegen den grausamen Terrorangriff der Hamas zu verteidigen, und natürlich muss man den Staat Israel und seine Vertreter: innen genauso für Verletzungen des Völkerrechts und der Menschenrechte zur Rechenschaft ziehen wie die anderen Akteure in globalen Konflikten. Das ist jedoch die Domäne des internationalen Rechts. Sich in der politischen Analyse der Situation in Gruppen spalten zu lassen, die auch noch ethnisch konnotiert sind, das ist ganz einfach der Anfang eines neuen Rassismus. Wir gegen die. Und das ist gefährlich, in jedem Kontext.

«Sich in der politischen Analyse der Situation in Gruppen spalten zu lassen, die auch noch ethnisch konnotiert sind, das ist ganz einfach der Anfang eines neuen Rassismus»

Diese Entwicklung wird durch Social Media befeuert, die von allen Seiten so viel Propaganda verbreiten, dass man nicht mehr weiss, was oder wem man glauben soll.
Ja, doch geschieht Propaganda nicht nur im Krieg, sondern auch in Friedenszeiten. Wir wissen kaum mehr, was eine Tatsache ist und was keine. Sehen Sie, als ich ein Kind war, haben alle Menschen die «Tagesschau» geschaut. Die war stets anständig recherchiert und relativ unparteiisch. Und es gab damals auch nicht so viele verschiedene Kanäle. Am nächsten Tag hat man dann bei der Arbeit über die News aus der «Tagesschau» geredet, oft aus unterschiedlichen ideologischen Blickpunkten zwar, aber es ging um dieselben Fakten.

Heute reden wir nicht einmal mehr über dieselben Fakten.
Richtig. Wir werden immer stärker in Meinungssilos gedrängt, in denen wir keinem Widerspruch mehr begegnen. Diese Silos sind auch bewusst so konstruiert, dass sie uns emotionalisieren und unsere Meinung extremer machen, wodurch wir mehr Zeit auf diesen Kanälen verbringen, was uns wiederum für die Tech- Firmen lukrativer macht. Dass wir nicht mehr über dieselben Fakten sprechen und den Fakten auch nicht mehr trauen können, ist für eine Demokratie eine verheerende Entwicklung. Denn wie sollen wir die Entscheidungen unserer Regierungen, Eliten oder Wissenschafter legitimieren oder sanktionieren, wenn wir keinen einheitlichen Zugang mehr zu Fakten haben?

«Wir bewohnen noch zu sehr die Ruine unseres alten Sinns, um einen anderen erkennen zu können»

Sie haben gerade ein Buch fertiggeschrieben zu einem Thema, das uns wieder etwas Boden unter den Füssen geben kann: Hoffnung. Das Buch wird im Herbst erscheinen. Verraten Sie uns, was Hoffnung für Sie bedeutet?
Nun, Hoffnung heisst für mich nicht, dass ich weiss, es wird eh alles gut. Vielmehr besteht Hoffnung darin, davon überzeugt zu sein, dass ich im Wesentlichen das Richtige tue.

Was ist «das Richtige»?
Mich sozial zu engagieren, zum Beispiel. Hoffnung bedeutet für mich aber auch, dass ich die Möglichkeit habe, etwas zu verändern. Und das wiederum beruht letztlich auch darauf, dass ich etwas kann. Dass ich mir Kompetenzen oder auch geistige Gewohnheiten erwerbe, die es mir erlauben, etwas zu können und damit Teil einer grösseren Geschichte zu werden.

Einer grösseren Geschichte?
Lassen Sie mich das so erklären: Ich spiele Geige. Das ist für mich eine tätige Meditation, das heisst, ich setze mich täglich mit etwas auseinander, das grösser ist als ich, aber an dem ich meine Fähigkeiten steigern kann. Es ist eine Tätigkeit, die mich mit anderen Menschen durch die Zeit hindurch verbindet, weil das Instrument, das ich spiele, schon vor mir von anderen gespielt wurde und hoffentlich nach mir von anderen gespielt werden wird. Und so bin ich Teil dieser einen grösseren Geschichte. Dasselbe könnte ich natürlich auch über Fussballspielen oder das Erlernen einer Sprache erreichen.

Sind diese Tätigkeiten auch ein Gegennarrativ zur Social-Media- Flut?
Mehr noch: Sie sind ein Akt des Widerstands gegen einen digitalen Marktplatz, der nur daran interessiert ist, unsere Zeit zu monetarisieren, uns dabei aber völlig inkompetent zu halten.

Sie sagen, Hoffnung ist auch etwas Kollektives und hat viel damit zu tun, eine gemeinsame Geschichte zu kultivieren und zu stärken. Handkehrum bedeutet Hoffnungslosigkeit, unabhängig von materiellen Umständen, keine gemeinsame grössere Geschichte mehr zu haben. Was verstehen Sie unter dem Begriff «grössere Geschichte»?
Religion, zum Beispiel. Das Christentum hat Menschen eine starke Identität und eine solide Transzendenz gegeben. Diese grosse Geschichte verliert aber, zumindest in unseren Breitengraden, an Bedeutung, weil sie auch auf ausbeuterischen Machtstrukturen baut. Das Problem ist nur, dass sich diese grosse Geschichte nicht so einfach ersetzen lässt. Die Aufklärung, der Humanismus, die freie Marktwirtschaft – all diese Versuche sind gescheitert, weil sie eben nicht diese eine Wahrheit, diesen metaphysischen Nagel haben, an den man alles hängen kann. Zudem vermitteln Religionen Sinn. Und die Sehnsucht nach Sinn ist, ausser Sex und Todesangst, einer unserer stärksten Grundantriebe. Denn in einer Welt, in der wir nicht wissen, dass unser Handeln vorhersehbare Konsequenzen hat, dass Gutes belohnt und Schlechtes bestraft wird, hätte es keinen Sinn, irgendwas zu tun.

Wie kreieren wir als Gesellschaft eine neue gemeinsame Geschichte?
Das ist die grosse Frage. Das Problem ist, dass wir noch zu sehr die Ruine unseres alten Sinns bewohnen, um einen anderen erkennen zu können.

«Wenn wir jeden Morgen aufstehen und etwas Sinnvolles tun, kommt es vielleicht doch nicht zum Schlimmsten»

Sie meinen die Religion?
Genau, wir denken in vieler Hinsicht noch sehr theologisch. Das Gegenprogramm, die grösste und einzige Geschichte, die es zu erzählen gilt, steckt meines Erachtens in jenen drei kleinen Worten Spinozas: «Wir sind Natur.» Alles, was wir an Sinn brauchen, liegt darin, die Wunder der Natur und das Wunder, dass wir in dieser Natur sind, besser verstehen zu lernen.

Wie tun wir das?
Durch Wissenschaft, Neugier, Kunst, durch offenes Erleben. Letzteres kann man bei einem Spaziergang durch den Wald tun. Wenn man bei diesem Spaziergang versucht, sich empathisch in die Umgebung einzufühlen, gewinnt man vielleicht ganz neue Erfahrungen. Darüber hinaus zeigen wissenschaftliche Erkenntnisse von der Kosmologie über die Genetik bis zur Quantenphysik, dass die Welt radikal anders ist, als wir sie mit unseren Sinnen wahrnehmen können, weil die Sinne nur für einen winzigen Ausschnitt der Realität kalibriert sind. In dieser leuchtenden, wimmelnden, völlig fremden Welt könnten wir uns selbst neu entdecken. Darin steckt eine Geschichte, für die wir keine Proxy-Erzähler mehr brauchen, sondern die die Natur durch uns selbst erzählt. Darin liegt eine intellektuelle und philosophische Befreiung, die ihresgleichen sucht.

Was ist das Fazit Ihres Buchs?
Ich schliesse mit dem berühmten Zitat des italienischen Philosophen Antonio Gramsci: «Es gibt eine Zeit der Ungeheuer, in der das Alte stirbt, und das Neue noch nicht geboren werden kann. Diese Zeit bringt immer moralische Unordnung mit sich, und wir müssen Menschen schaffen, die umsichtig und geduldig sind und sich nicht über jede Narrheit aufregen.» Und dann sagt er: «Pessimismus der Intelligenz, Optimismus des Willens.» Damit kann ich sehr gut leben.

Das müssen Sie näher erklären.
Es läuft alles darauf hinaus, dass ich sterbe. Das ist sicher. Obwohl ich das weiss, stehe ich jeden Morgen auf und versuche, sinnvolle Dinge zu tun. Das ist der Pessimismus der Intelligenz und der Optimismus des Willens. Wenn wir jeden Morgen aufstehen und etwas Sinnvolles tun, kommt es vielleicht doch nicht zum Schlimmsten. Vielleicht sind wir ja nur hier, weil schon unzählige andere Generationen vor uns jeden Morgen aufgestanden sind im Angesicht der Sinnlosigkeit.

Nun ist es aber relativ, was «sinnvoll» bedeutet. Für die einen ist es sinnvoll, sich um Angehörige zu kümmern, für die anderen, sich einer rechtsextremen Gruppe anzuschliessen. Lässt sich diese Ambivalenz überhaupt auflösen?
Nein. Auch die Nazis haben leidenschaftlich gehofft und Sinn in ihrer Vernichtungsstrategie gesehen. Das Einzige, was wir tun können, ist, uns auf gewisse moralische Mindestideen zu einigen. Nach dem amerikanischen Philosophen Richard Rorty ist es etwa die Reduktion von Grausamkeit. Wir können sagen: Grausamkeit ist immer schlecht. Was die Gesellschaft oder ein einzelnes Leben weniger grausam macht, oder was Freude stiften kann, ist gut. Das schliesst nicht alle moralischen Systeme mit ein, zum Beispiel patriarchale Systeme, in denen Werte wie Reinheit oder Ehre wichtiger sein können. Aber es wäre ein Anfang. Natürlich hängt da wiederum ein riesiger Rattenschwanz von Fragen daran, aber das ist gut so. Denn sonst hätten wir alle ja nichts mehr zu tun.

Philipp Blom (54) ist ein deutscher Historiker, Schriftsteller und Journalist. Er lebt in Wien. Sein Buch «Hoffnung. Über ein kluges Verhältnis zur Welt» erscheint Ende September im Hanser-Verlag.

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Niko Kindl

Sehr schönes Interview, das versucht unsere gegenwärtige Zeit und ihre Paradigmen zu beschreiben. Leider bleibt der Autor nicht objektiv. Gibt es es wirklich die eine links-politische richtige Sichtweise. Zustimmen kann ich dem Autoren darin, dass wir alle Natur sind und eine neue Geschichte erzählen müssen. Ob diese Geschichte den Sinn der Religion ausklammern muss? Ich denke das nicht. Sinn ist wichtig. Aber Ich denke für die Erklärung der Welt kann der Sinn auch manchmal unbeantwortet bleiben. Wir müssen die Spannung aushalten können, dass es Sinn gibt und wir diesen nicht verstehen können. Der Mensch hat sich von der Natur getrennt. Wenn er versucht den Sinn einzufangen und ethisch zu monopolisieren, dann trennen wir uns auch von diesem. Trotzdem sehr gelungenes Interview und sehr schöne Gedanken. Vielen Dank Dafür 🙂

Last edited 3 months ago by Niko Kindl
Real

Zu: «Es gibt nichts ausserhalb der Natur. Alles ist Natur.»

Dem stimme ich vollkommen zu.
Ein Problem sehe ich im Körper – Seele Dualismus.
-Siehe: Wie das Gehirn die Seele macht.
Diese Einstellung die per Dekret auch von der Kirche unterstützt wird
stellt die Seele ausserhalb der Natur und somit auch den Menschen.
Neurologen, Gehirnforscher und Psychologen arbeiten hart um diesen Dualismus aufzulösen.
Vielleicht kommen wir dann zu der Einstellung, dass der Mensch auch reine Natur ist und
dementsprechend mit ihr umgehen sollte.

einer

so ein unsinn! aber es wird immer irgendwelche menschen, auch experten geben die die große apokalypse kommen sehen. wir sind milliarden von menschen auf der welt und selbst die kleine schweiz (schweizer webseite hier) hat fast 10 millionen einwohner. da wird es immer irgendwelche experten gebe die glaube die große apokalypse würde kommen. und die medien werden diese leute immer wieder einladen und interviewen weil man mit solchen vorhersagen prima angst machen kann.

Marki Berchtold

Servus einer .
Wer weiss , vielleicht wächst aus diesem ” Unsinn ” einmal Sinn . Wächst zu einem grossen Baum ..der uns allen einmal Schatten spendet. Sei herzlich umarmte ..ein Anderer einsamer Wanderer

Scott Wallace

Wow. Ein Plädoyer für Hoffnung und Mitmachen. Danke, Phillipp.

Grüße aus sonnigem Wien, Scott