Ich muss gestehen: Ich habe mich beim Versuch, Ihr Engagement griffig zu beschreiben, eben ziemlich verheddert. Erst wollte ich das Bild von David und Goliath heraufbeschwören, doch das schien mir irgendwie zu aufgeblasen und vor allem, zu abgedroschen. Dann spielte ich in Gedanken kurz mit Jeanne d’Arc. Aber die war mir zu kriegerisch, allenfalls können wir uns Jeanne für später aufbewahren. Vielleicht lasse ich alles Bildliche einfach auf der Seite und sage es so, wie es ist: Sie haben sich aufgemacht, der Spitze Ihrer Mutterpartei, der SP Schweiz, die Stirn zu bieten; sie herauszufordern, sie zum Nachdenken zu zwingen, etwas über die Parteigrenzen hinaus in Bewegung zu setzen. Und zwar längst nicht so provokativ-plump wie es Ihre Genossinnen und Genossen der JUSO oft so gern tun, sondern klug, pointiert, argumentativ stark und – mutig. Kurz: Sie stellen sich in der Islamdebatte gegen die gängige Parteimeinung und fordern eine so unerschrockene wie differenzierte Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Herausforderungen, die mit dem sogenannt politischen Islam einhergehen – und zwar eine Auseinandersetzung fern jeglichen Kulturrelativismus und fern jeglicher Polemik.
Konkret heisst das: Sie engagieren sich gegen eine staatliche Anerkennung islamischer Verbände, setzen sich für ein Kopftuchverbot an Kindergärten und Schulen ein und wagen es sogar, sich klar für ein Verbot der Burka auszusprechen. «Denn Religionsfreiheit», erklären Sie, «kann nur so weit gehen, als dass sie die persönliche Freiheit des Einzelnen nicht beschränkt.» Damit machen Sie sich explizit für jene Frauen und Mädchen stark, die aufgrund familiären Drucks und/oder religiöser Konditionierung nicht selbstbestimmt handeln können, sprich, etwa ein Kopftuch oder eben eine Ganzkörperverschleierung tragen müssen.
Natürlich ernten Sie für Ihre Haltung Kritik. Von Islamverbänden, von Feministinnen, die das Recht der muslimischen Frau verteidigen, ein Kopftuch zu tragen, und vor allem auch aus den eigenen Reihen. Und natürlich, die Diskussion ist hochemotional und ebenso komplex. Man kann es eigentlich fast nur falsch machen. Denn in dieser Diskussion gibt es kein Schwarz-Weiss, kein Richtig oder Falsch, sondern eine unendliche Palette von Schattierungen und Zwischentönen. Das erfahre ich selber immer wieder. So kenne ich, um beim Thema Kopftuch zu bleiben, viele muslimische Frauen, die ihren Hijab mit Inbrunst tragen. Aber ich kenne genauso viele, die still darunter leiden, sich bedecken zu müssen, und mehr noch: Ich begegne immer wieder Frauen in Europa wie in Ländern des Nahen Ostens, die das Kopftuch ablegen, obwohl sie mit diesem Akt ihr Leben riskieren. Angesichts dessen erstaunt es mich immer wieder von neuem, dass es kaum westliche Feministinnen, oder sagen wir, feministische Politikerinnen gibt, die sich gerade für diese Frauen stark machen. Deshalb sind Sie mir sofort aufgefallen. Auf eine Stimme wie die Ihre habe ich lange gewartet.
Wir begegneten einander vor etwas über einem Jahr an der Eröffnung der Ibn-Rushd-Goethe Moschee in Berlin. Sie waren da, um sich wie ich, ein Bild darüber zu machen, wie sich die Initiantin der Moschee, die Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ates, ihr Konzept von einer Moschee vorstellte, in der Frauen und Männer gemeinsam beten, die Predigt auch von Frauen gesprochen werden kann, und in der Homosexuelle wie verschiedene islamische Konfessionen gleichermassen Platz finden sollen.
Ich muss Ihnen gestehen, dass mich eine 32-jährige SP-Delegierte aus Basel-Stadt, die zu diesem Anlass nach Berlin gekommen war, neugierig machte. Denn damit hatten Sie – in meinen Augen – jegliche Komfortzone hinter sich gelassen. Sie erklärten mir, dass Sie sich schon lange für progressive Stimmen innerhalb des Islams interessierten. Für kritische Stimmen, die aus den aufgeheizten Islam-Debatten herausführen und für ihre Gesellschaften neue Wege aufzeigen, für Stimmen wie etwa die ägyptisch-amerikanische Journalistin Mona Eltahawy, die sich als säkulare radikale feministische Muslimin bezeichnet, die Baslerin Jasmin El Sonbati, Begründerin der Offenen Moschee Schweiz, oder die schweizerisch-jemenitische Politologin Elham Manea, eine der weltweit führenden Kritikerinnen des politischen und fundamentalistischen Islams. Und Sie verrieten mir, dass Sie solche Stimmen in der Schweizer Parteienlandschaft vermissten, besonders innerhalb Ihrer eigenen Partei. «Ich habe seit Jahren das Gefühl», sagten Sie, «wir können in Bezug auf nicht-christliche Bürgerinnen und Bürger kaum mehr nüchtern über Frauenrechte diskutieren. Es herrscht ein eklatantes Unwissen, gepaart mit einer totalen Verwirrung. Gerade Muslime werden in der Schweiz nicht als Individuen betrachtet, sondern als Angehörige eines Kollektivs. Dieses Kollektiv muss stereotypen Vorstellungen entsprechen, und die stereotype muslimische Frau ist durch einen Hijab markiert. Wer dies kritisch hinterfragt, wird häufig als rassistisch oder islamophob bezeichnet oder gar in die Nähe der SVP gerückt. Irgendwann wurde mir dieses Scheuklappendenken zu viel. Ich habe mich in ein inneres Exil zurückgezogen.»
Als ich Sie nach dem Auslöser für Ihr Interesse fragte, nach dem, was Sie antreibt, erzählten Sie, dass Sie in Ihren Teenagerjahren in einem Basler Alters- und Pflegeheim jobbten und dort eine afghanische Pflegerin kennenlernten, die in ihrer Heimat Juristin gewesen und von den Taliban gezwungen worden war, Burka zu tragen. Später, als junge Lehrerin wurden Sie Zeugin davon, wie eine Ihrer Schülerinnen von einer Zwangsheirat bedroht wurde. «Ich erlebte immer wieder Müsterli von Schicksalen», sagten Sie, «die mir zeigten, dass in der Gesellschaft, in der ich mich befand, andere Realitäten vorherrschten, die sehr frauenfeindlich sind. Das hat mich geprägt.»
Glücklicherweise dauerte Ihr inneres Exil nicht lange. Denn als die SP vergangenen Juli zur Islamtagung lud, um die öffentlich-rechtliche Anerkennung islamischer Verbände zu diskutieren, gründeten Sie mit einer Handvoll Gesinnungsgenossen die parteiinterne Gruppe Integra-Universell und präsentierten einen Gegenentwurf, in dem Sie erst mal eine «ergebnisoffene Diskussion über das grundsätzliche Verhältnis von Religion und Gesellschaft» fordern. Das mag sich nun kompliziert anhören, bedeutet aber einfach, dass Sie Ihre Partei dazu aufrufen, sich auf die traditionellen sozialdemokratischen Prinzipien der universellen Menschenrechte, der Gleichstellung von Mann und Frau sowie der Trennung von Staat und Religion zurückzubesinnen. Sie hoffen, damit gerade die Debatte um den Islam in der Schweiz aber auch in Europa auf eine neue Ebene zu bringen. Und das ist allerhöchste Zeit.
Denn allzu viele Menschen fürchten sich davor, als rassistisch oder islamophob bezeichnet zu werden, wenn sie Kritik laut werden lassen, die sich gegen «den Islam» richtet. Selbst Musliminnen und Muslime, die sich kritisch gegenüber ihre Religion äussern, werden rasch als Netzbeschmutzerinnen abgestempelt. Dies verunmöglicht eine nüchterne, konstruktive Diskussion, was wiederum rechtskonservativen Parteien und Gruppierungen in die Hände spielt, die sich diese Themen umso plakativer auf ihre Banner heben. Diese Gruppierungen sehen sich als einziges Sprachrohr für all jene, die schweigen. Dem wollen Sie entgegenwirken. Als Sozialdemokratin, als Juristin und Historikerin, aber vor allem als junge Frau in einer Gesellschaft, die sich neu definieren muss. «Ich bin felsenfest davon überzeugt», sagen Sie, «dass ein kritischer Umgang der Linken mit diesem Thema, den Linken Aufwind verschaffen und möglicherweise auch unsere gesamte politische Debatte verändern wird.»
Ehrlich gesagt, es wird eine Herkulesaufgabe sein. Aber jemand muss damit anfangen. Im Prinzip ist es mir egal, wo dieser Jemand politisch steht, Hauptsache, es geschieht. Und ich bemerke gerade, dass ich nun trotz aller Vorsicht ein abgedroschenes Heldenbild bemüht habe. Den Herkules. Aber hier stimmt es. Abgesehen davon, dass Herkules ein Mann war. Doch darüber sehen wir hinweg, okay?
Bis zur nächsten Begegnung. Dann auch gern in Basel. Ich freue mich drauf.
Herzlichst,
Helene Aecherli