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Plädoyer fürs Verkleiden: Warum mich das Streben nach dem eigenen Stil langweilt

Zeitgeist

Plädoyer fürs Verkleiden: Warum mich das Streben nach dem eigenen Stil langweilt

Als Kind war Verkleiden spielen die Lieblingsbeschäftigung unserer Autorin. Als Erwachsene? Soll man seinen eigenen, wahren Stil finden. Aber was, wenn der am Ende auch nur Verkleidung ist? Und wo bleibt dann der Spass?

Wenn ich behaupte, als Kind seien meine Träume die Treppe hinabgaloppiert, dann stimmt das. Auf einem düsteren Dachboden wohnte nämlich ein nur von Riesen zu schleppender, zerfledderter Umzugskarton, der regelmässig die Stufen zu meinem Zimmer runterschlittern durfte. Selten hat das Ungetüm den wilden Ritt unbeschadet überstanden.

Was sich dann ergoss, war mein samtweicher Sehnsuchtsort: die funkelnden Stoffe alter Fasnachtskostüme, gross gemusterte Kleider aus den Siebzigern, fluffige Fellmützen – von meiner Oma genäht, vom Rest des Hauses für Albernheiten gesammelt. Manchmal bin ich in die vollgestopfte Schatzkiste hineingeklettert und habe in meinen Träumen gebadet.

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«Wenn das, was an meinen Bügeln baumelt, Verkleidung ist – ist dann meine pure Existenz schlicht kindisch?»

Heute bin ich angeblich erwachsen. Und es gibt Leute, die verschwinden in meinem Schlafzimmer, bevor sie auf Mottopartys gehen. «Fundus» nennen sie das, was mein Kleiderschrank ist, verlassen ihn völlig verändert wie durch die Zauberkugel der «Mini Playback Show». Da hängt zum Beispiel ein absolut seriöser Piratenhut, der eigentlich nicht für tanzende Seefahrer:innen gedacht ist. Wenn das, was an meinen Bügeln baumelt, Verkleidung ist – ist dann meine pure Existenz schlicht kindisch?

Kinder dürfen nämlich völlig legitimiert so tun, als ob. Sie dürfen träumen. Sie steigen in Cowboyboots nicht aus dem Tram, sondern vom Pferd. Wenn Verkleiden infantiles Spielen ist – dann muss man sich als Erwachsene:r zusammenreissen. Was bei Kindern süss ist, ist bei Grossen peinlich. Ernst genommen wird «Über-den-Teller-rand-hinaus-Kleiden» selten.

Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht. So wird man in ländlichen Gegenden skeptisch beäugt, wenn man nicht im Funktionsjacken-Brei mittreibt und optisch aus der in Softshell gehüllten Reihe tanzt. Scheint der Pulli zu gross oder die Socke zu hoch, wird man schnell gefragt: «Trägt man das jetzt so?» Was soll man da antworten? Die Frage ist rhetorisch. Und frech.

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«Wichtig ist, dass niemand merkt, dass man sich Mühe gegeben hat»

Diese Leute sollten mal auf eine Fashionweek gehen – wo es kaum mehr um die an sich schon exaltierten Kollektionen geht, sondern um das Schaulaufen von Influencer:innen. Bis in die Haarspitzen ausstaffierte Menschen, von denen sich die erfolgreichsten inzwischen Stylist:innen leisten sollen. Heisst: Ihren eigentlichen Job – nämlich sich inspirierend anzuziehen – heimlich outsourcen. Welch Theater!

Beim Hype-Label Miu Miu scheinen die Models diese Saison dagegen mit ganz viel Sorgfalt schlampig angezogen. Perfekt kuratiert aus dem Bett gefallen. Wichtig ist, dass niemand merkt, dass man sich Mühe gegeben hat. Dass der verrutschte Kragen Styling – pures Sich-Rausputzen, ja: irgendwie Kostümierung – ist. Sogenannte Styling-Hacks, wie die Bluse nur einseitig in den Hosenbund zu stopfen, Risse in die Jeans zu leben oder das virtuose Schichten von Shirt, Cardigan und Jacke – ist all das nicht konstruiertes Chaos und somit nichts weniger als Verkleidung?

 

«Ist nicht jeder Trend, jeder Stil, eine Verkleidung, die man sich überstülpt und eine Saison später wieder ablegt?»

Ein allzu kalkuliertes Erscheinungsbild gilt heute als Todsünde. Nur zufällige Eleganz ist Beleg für wahren Stil. Nicht umsonst trendete vor einiger Zeit der Begriff Quiet Luxury: Dank Luxusbrands wie The Row oder Loro Piana und deren schlichter Designs hasten die, die es sich leisten können, auffällig unauffällig durch die Modeblase.

Auch die Französinnen mit ihrem nonchalanten Stil sind viel kopierte Ikonen. French Girls wälzen sich gar fabelhaft aus dem Bett, streichen sich das charmant-derangierte Haar aus dem so attraktiv verlebten Gesicht und gleiten in ihre zeitlose Garderobe. Der einfache Look aus Jeans und T-Shirt entzündet eine modische Amour fou.

Aber ist nicht jeder Trend, jeder Stil eine Verkleidung, die man sich überstülpt und eine Saison später wieder ablegt? Wer sich very french kleidet, hat trotzdem den Schweizer Pass. Ist gewissen Strömungen zu folgen, nicht so etwas wie kulturelle Aneignung? Den Fischerhut trägt schliesslich kaum jemand zum Angeln, in den Taschen von Cargopants schleppt niemand – wie vorgesehen – Werkzeug mit sich herum. Im Poloshirt reiten die meisten eher Bürostühle als Pferde. Sogar das gekünstelte Understatement des Quiet-Luxury-Phänomens ist im Grunde sanfte Fasnacht.

«Mit Verkleidungen spielt man explizite Rollen. In dieser Rolle hat man einen gewissen Schutzraum»

Karl-Heinz Renner, Institut für Psychologie der Bundeswehr-Universität München

Apropos: Warum verkleiden sich Menschen? Ich klopfe bei einem an, der es wissen muss: Karl-Heinz Renner vom Institut für Psychologie an der Bundeswehr-Universität München forscht im Bereich Selbstdarstellung. Er trägt Sakko, Weste und Chino aus schottischem Tweed und legt nach eigener Aussage – im Gegensatz zu anderen Professorenkollegen – viel Wert auf seinen Look.

«Mit Verkleidungen spielt man explizite Rollen», erklärt Renner. Wer zur Fasnacht als König kommt, ist für alle ersichtlich als Monarch da. «In dieser Rolle hat man einen gewissen Schutzraum oder Spielmöglichkeiten, um Verhaltensweisen zu erproben, die man normalerweise nicht umsetzen kann oder sich nicht umzusetzen traut. Zum Beispiel selbstsicherer zu sein und Frauen oder Männer anzusprechen», so Renner.

Der Vorteil: Kommt das nicht an, könne man es auf die Verkleidung schieben: Das war der miese König, nicht ich! Dann öffnet Renner die Tore ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten: «Wenn es aber funktioniert, kann alles Denkbare passieren. Dieser Effekt kann bei der Wahl eines bestimmten Outfits auch im Alltag eintreten. Die Frage lautet: Wo hört Kleidung auf und wo beginnt Verkleidung?»

«Wenn ich ein bestimmtes Selbstbild vermitteln will, hat das mit Selbstdarstellung zu tun»

Karl-Heinz Renner

Ist also schon der Blazer, den wir überwerfen, um im Meeting seriös zu wirken, eine Verkleidung? Mimen wir die Selbstsicherheit bloss? Renner weiss: Wir alle spielen Rollen. Aber die alltäglichen Rollen sind uns oft schon so in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir sie gar nicht mehr wahrnehmen und hinterfragen. «Studien belegen, dass Kleidung zur symbolischen Selbstergänzung beitragen kann. Heisst: Wenn ich ein bestimmtes Selbstbild vermitteln will, hat das mit Selbstdarstellung zu tun», so der Psychologe.

Victoria Beckham soll mal gesagt haben, sich in flachen Schuhen nicht konzentrieren zu können. Am Mythos, dass Highheels selbstbewusster machen, könnte tatsächlich was dran sein. Renner weist auf eine Studie der US-Sozialpsychologen Hajo Adams und Adam Galinsky hin, die zwei Versuchsgruppen Aufgaben lösen liessen. Die erste trug dabei einen weissen Kittel, der zuvor als Arztkittel deklariert wurde. Die zweite trug denselben, man verkaufte ihn aber als schnöden Malerkittel. Und Simsalabim: Die Gruppe im vermeintlichen Arztkittel schnitt besser ab.

Eine weitere Studie untersuchte den Look von BWL-Studierenden: Zu Beginn des Studiums waren sie massgeblich ordentlicher gekleidet als am Ende, trugen sogar dicke Uhren. Heisst? Ihr Selbstbild stand anfangs auf wackeligen Beinen, sie mussten mit Protz kompensieren.

«Der eigene Stil als heiliger Gral. Aber braucht man den? Ist Authentizität nicht eh ein albernes Ideal?»

Eine weitere Studie untersuchte den Look von BWL-Studierenden: Zu Beginn des Studiums waren sie massgeblich ordentlicher gekleidet als am Ende, trugen sogar dicke Uhren. Heisst? Ihr Selbstbild stand anfangs auf wackeligen Beinen, sie mussten mit Protz kompensieren.

«Mark Zuckerberg kommt auch immer leger daher. Sein Status ist so hoch, dass er nicht mehr auf Normen achten muss, sie sogar brechen kann – was wiederum auch ein Statement sein kann», so Renner. Nachlässig underdressed zu sein, darf also in gewissen Kreisen als Ausdruck intellektueller Herkunft gewertet werden, bei der man absichtlich keinerlei Wert auf Äusserlichkeiten legt. Clever! Man verkleidet sich als schlau.

Andersrum fällt schnell die Phrase «sich verkleidet fühlen», wenn man Ungewohntes trägt – das Abweichen von der Norm gilt als negativ. Das entspräche nicht dem eigenen Stil, jammert man dann. Jaja, der eigene Stil als Heiliger Gral. Aber braucht man den? Diesen einen? Und ist Authentizität nicht eh ein albernes Ideal?

«Verkleidet aussehen» diffamiert blitzschnell die, die sich schamlos aus der Komfortzone wagen. Mit einer vermeintlich clownigen Blume am karierten Revers. Oder einer Westernkrawatte zum Strickpulli. Seien wir ehrlich: Der Versuch, sich selbst zu finden, ist eh aussichtslos.

 

«Verkleidung ist nicht immer fake, sondern das herrlich launenhafte Austarieren des Charakters. Sie transportiert Gefühle»

Karl-Heinz Renner fragt zu Recht: «Kann man denn keine Kraft daraus schöpfen, mal nicht man selbst sein zu müssen?» Ja, was ist so falsch daran, mal jemand anderes sein zu wollen? Sich für jemanden zu halten? Wer sagt, es gäbe nur das eine Ich? Die Gesellschaft fordert von uns, tolerant, facettenreich und flexibel einsetzbar zu sein, aber geht es um die Garderobe, gilt es, die Flexibilität zu drosseln.

Designerin Miuccia Prada sinnierte nach der Präsentation ihrer Kollektion für diesen Herbst: «Jeden einzelnen Morgen entscheide ich, ob ich fünfzehn Jahre alt sein will oder eine Lady, die dem Tod nahe ist.» Super! Man ist so alt (angezogen), wie man sich fühlt. Max Frisch schrieb in seinem Roman «Mein Name sei Gantenbein»: «Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.» Für Frisch gibt es also kein Entrinnen: Alles nur Illusion.

Dabei ist Verkleidung nicht immer fake, sondern das herrlich launenhafte Austarieren des Charakters. Sie transportiert Gefühle. Das ist es doch, was wir nach der joggingbehosten Pandemie unbedingt wollten! Raus! Uns aufbrezeln! In den Glitzertopf fallen und uns himmelhohe Absätze unter die Füsse schnallen. Stattdessen stecken wir im Selfcare-Wahn fest und wollen jeden Abend allein mit Körper und Seele sein, uns in ausgelümmelten Wollsocken die ungeschminkten Augen wund streamen.

«Das Leben ist Theater – entsprechend darf man sich kleiden»

Mode ist und bleibt ein Märchen. Wir denken ein paar Saisons zurück, als man eine Taube aus dem 3D-Drucker als Tasche mit sich herumtrug – Aschenputtels Kürbiskutsche fürs echte Leben! Die It-Bag von JW Anderson katapultierte uns für einen Flügelschlag aus der Realität. Und das Tier war so bescheiden: Es konnte nicht mehr fressen als Kreditkarte und Kaugummis – ein minimalistisches Tier, das symbolisch für eine unendliche Anzahl an möglichen Spielarten steht.

Zwickt das Fernweh, sind die Fransen einer Lederjacke geschredderte Freiheit zum Anziehen. In den Dimensionen eines ausladenden Fake-Fur-Mantels zu ertrinken, kann einem das Gefühl geben, mit diamantgeschmückten Fingern sündhaft teure Cocktails zu schlürfen, während man eigentlich sein Dosenbier am Kiosk säuft. Oder einem alternativ die Unerschrockenheit eines Zuhälters einhauchen. Wer das immer noch für kindisch hält, dem lege ich erneut Max Frischs Worte ans kalte Herz: «Ich probiere Geschichten an wie Kleider.» Das Leben ist Theater – entsprechend darf man sich kleiden.

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