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Philosophin Barbara Bleisch: «Wir müssen uns dem Leben aussetzen»

Zeitgeist

Philosophin Barbara Bleisch: «Wir müssen uns dem Leben aussetzen»

Was das Narrativ der mittleren Lebensjahre betrifft, dominiert ein Begriff: die Midlife-Crisis. Die Philosophin Barbara Bleisch plädiert in ihrem neuen Buch dafür, diese Phase anders zu sehen – als Zeit der Blüte und als Chance, das Leben neu zu gestalten.

annabelle: Barbara Bleisch, Sie widmen sich in Ihrem neuen Buch der «Mitte des Lebens», einem, wie Sie sagen, weissen Fleck auf der Landkarte der Philosophie. Weshalb wird gerade diese Lebensphase ignoriert?
Barbara Bleisch: Ganz ignoriert wird sie nicht, aber die Publikationen zum Thema lassen sich an einer Hand abzählen. Möglicherweise liegt das am sogenannten «Midlife Bias»: am Umstand, dass der mittelalte Mensch in fast allen Fragen der praktischen Philosophie die Standardposition einnimmt und so gleichzeitig zum blinden Fleck wird. Wenn wir zum Beispiel darüber nachdenken, ob ich lügen darf, wie umweltfreundlich ich sein muss oder was es bedeutet, glücklich zu sein, haben die meisten Philosoph:innen diesen mittelalten Menschen im Fokus. Kindern und alten Menschen widmet man schon länger gesondert Aufmerksamkeit. Das sollte man auch mit den mittleren Jahren tun, weil sonst ihre spezifischen Fragen ausser Acht geraten.

Wann sind wir in der Mitte des Lebens angekommen? Rein theoretisch kann das ja bereits ab der ersten Sekunde nach der Geburt sein.
Genau, weil die rein numerische Mitte abhängt vom Alter, das wir erreichen. Mich interessiert aber die Mitte des Lebens als Phase, und die verortet die Entwicklungspsychologie zwischen 40 und 65, mit ausgefransten Rändern zu beiden Seiten hin. Oder ich würde sagen, wenn einem die Freund:innen am Geburtstagsfest mit dem Spruch zuprosten: «Herzliche Gratulation! Immer noch 25!», und man ist eigentlich schon 45, dann ist man in der Mitte des Lebens angekommen.

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«In der Antike galt die Mitte als Blüte des Lebens. Da ist nichts von Krisenerzählung, sondern die Betonung der Fülle!»

Paradoxerweise beginnt man aber gerade im mittleren Alter, das Älterwerden kleinzureden. Es ist auf einmal peinlich, sein wahres Alter zu offenbaren. Warum eigentlich?
Das hat auf den ersten Blick natürlich etwas mit unserer Gesellschaft zu tun, in der ewige Jugend als erstrebenswert angesehen wird, und ältere Menschen befürchten, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Aber das allein reicht nicht aus, um diese Scham des Älterwerdens zu verstehen. Ihr liegt eine kollektive Erzählung der Krisenerfahrung zu Grunde, jener der Midlife-Crisis: die Panik vor der zerrinnenden Zeit, das gnadenlose Bilanzieren. Wenn wir uns mit dieser Lebensphase befassen, tun wir es meist aus einem Problembewusstsein heraus. Es gibt viele Bücher aus der Psychologie, die diese Krisenerzählung aufnehmen und Ratschläge geben, wie wir aus der Midlifecrisis herauskommen oder – mit Bezug auf Frauen – die Wechseljahre überstehen.

Ratgeber zu den Wechseljahren haben Hochkonjunktur. Das ist eine längst überfällige Enttabuisierung, die einem in ihrer Allgegenwärtigkeit fast schon wieder auf die Nerven gehen kann.
Nun, es scheint mir richtig und wichtig, offen darüber zu sprechen, was in den Wechseljahren genau passiert. Aber das ist nur ein Bruchteil der Geschichte. Wir bestehen ja nicht nur aus Hormonen, sondern haben auch noch andere Fragen: Wo stehe ich heute? Und wie will ich leben? In den mittleren Jahren brechen solche Fragen vermehrt auf. Der deutsch-schweizerische Philosoph Karl Jaspers beschrieb die Krisenerfahrung als «Existenzerhellung». Das klingt doch schon besser.

In dieser Beziehung von Krise als Chance zu sprechen, wäre aber zu platt, oder?
Die Krise als Existenzerhellung ist vielleicht insofern eine Chance, als uns bewusst wird, was wirklich zählt, als würden wir mit einer Taschenlampe unser bisheriges Leben ausleuchten, auch die dunklen Stellen, die wir gern verdrängen. Das kann schmerzhaft sein. Gleichzeitig ist das Schöne, dass wir, wenn alles gut geht, noch viel Zeit vor uns haben, dass wir also mit der Lebenserfahrung, die wir heute haben, noch viel anfangen können. In der Antike galt die Mitte als Blüte des Lebens. Da ist nichts von Krisenerzählung, sondern die Betonung der Fülle!

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«Was zählt denn wirklich angesichts der Tatsache, dass ich nicht ewig lebe?»

Derzeit werden Milliarden in die Longevity-Forschung investiert, die uns vom Altern befreien soll. Der Alterungsprozess wird scheinbar zunehmend als Krankheit empfunden. Was halten Sie davon?
Die französische Philosophin Simone de Beauvoir schrieb als Fünfzigjährige angesichts ihrer Tränensäcke von einer «Seuche, die meinen Kopf befallen hat», was tatsächlich nach einer Krankheit klingt. Und es gibt Biolog:innen, die davon sprechen, dass die altersbedingte verlangsamte Zellteilung Krankheitswert habe. Doch der Tod lässt sich nicht wegtherapieren. Wir können ihn zwar verdrängen, ausweichen aber nicht. Selbst wenn wir bis 99 top fit bleiben.

Sie schreiben vom Tod als Lebenshilfe. Damit implizieren Sie, dass sich das Nachdenken über den eigenen Tod in positive Energie verwandeln lässt. Wie kann das gelingen?
Das ist natürlich eine Herausforderung. Die Idee des Todes als Lebenshelfer stammt vom dänischen Philosophen Sören Kierkegaard, und die gefällt mir sehr gut. Nicht weil ich glaube, dass dem Tod damit die Spitze genommen wird, sondern weil die eigene Endlichkeit mir hilft, auf mein Leben zu blicken und zu fragen: Was zählt denn wirklich angesichts der Tatsache, dass ich nicht ewig lebe? Und vor allem: Was möchte ich nicht länger aufschieben? In der Mitte des Lebens wird die Endlichkeit des Lebens für viele realer: Vielleicht werden die Eltern krank oder sterben, es treten in der eigenen Umgebung schwere Krankheitsfälle auf, man verliert eine Freundin oder einen Freund. Umso dankbarer ist man, dass man noch hier ist und realisieren darf: Mir bleibt noch Zeit, es gilt sie gut zu nutzen.

Das Leben angesichts der eigenen Endlichkeit zu betrachten, generiert natürlich auch Druck. Ich zum Beispiel sage seit Jahren, dass ich im Umbruch bin, aber nicht weiss, wohin ich umbrechen soll. Also mache ich einfach weiter, was mich wiederum stresst, weil die Zeit ja abläuft. Eine Pattsituation.
Was für ein schönes Bild: im Umbruch sein, aber nicht wissen, wohin. Das geht wohl vielen so. Diese scheinbare Pattsituation liegt möglicherweise darin begründet, dass wir schon ganz viel geworden sind und dadurch auch viel Sicherheit gewonnen haben. Wir haben uns vielleicht ein Zuhause eingerichtet, haben eine Beziehung, die uns erfüllt, vielleicht eine Familie gegründet, sind beruflich «angekommen», wie man sagt. Ist es nicht entlastend, sich zu sagen: Ich bin schon so viel geworden, jetzt darf ich auch mal sein? Nur, was ist, wenn sich diese Gehäuse, in die ich mich eingenistet habe, plötzlich bedeutungslos anfühlen, oder sogar wie ein kalter Kerker, in dem ich mich kaum noch bewegen kann? Dann bricht die Frage auf: Bin ich bereit, mich noch einmal neu zu entwerfen, in ungeschütztes Gelände hinaus? Ist es mir die Freiheit wert, Stabilität und Sicherheit zu opfern?

Freiheit kann auch ambivalent sein?
Ja, Freiheit ist immer ambivalent. Es gibt die schöne Idee der «Bleibefreiheit» der deutschen Philosophin Eva von Redecker: Nicht nur im Ausbrechen liegt Freiheit, sondern auch im Bleiben, weil wir nicht weitersuchen und optimieren müssen. Das heisst keinesfalls, sich gar nicht mehr zu verändern. Aber Veränderung geschieht ja auch im Kleinen. Es gibt nicht nur die Dimensionen des Wohnens, der Lebensform und des Berufes, sondern wir können auch ausbrechen, indem wir uns eine neue Freizeitbeschäftigung suchen. Vielleicht entdecken wir eine Leidenschaft, die bis anhin irgendwo in einer Ecke unseres Ichs geschlummert hat, und plötzlich haben wir dafür Raum, weil zum Beispiel die Kinder ausziehen.

«Bedauern ist die Grundmelodie eines menschlichen Lebens»

Sie sagen, dass mit dem Älterwerden das Leben freigelegt, der Mensch zunehmend «kenntlich» wird. Wie ist das zu verstehen?
Das «freigelegte Leben» ist kein Automatismus. Wir müssen dazu bereit sein, uns vom Leben prägen zu lassen und seine Lektionen zu lernen. Dann wird mit der Zeit klarer, worum es uns geht. Das bedeutet auch, kenntlich zu werden – für mich selbst, aber auch für andere. Um noch einmal auf die Antike zurückzukommen: Eine der wesentlichen Ideen von Aristoteles ist, dass wir vieles im Leben erfahren müssen. Es reicht nicht, übers Leben nachzudenken, wir müssen uns dem Leben aussetzen. Und üben. Das macht die Lebensmitte auch so kostbar: Wir sind hoffentlich in vielem souveräner, lassen uns nicht mehr so schnell beeindrucken. Das freigelegte Leben ist eines, in dem wir bejahen, was wir geworden sind, und zurücklassen, was nicht zu uns passt.

Der Blick auf die ablaufende Lebenszeit kann mit dem Eindruck einhergehen, dass das Leben an einem vorüber geglitten ist und merkwürdig leer blieb, während man von einem Termin zum anderen hetzt. Wie ist das philosophisch einzuordnen?
Dieses Gefühl der Leere hat Arthur Schopenhauer beschrieben: Entweder sind wir zwar voller Energie, weil wir etwas erreichen wollen, aber unzufrieden, weil wir es noch nicht haben. Oder wir haben erreicht, was wir wollten, sind aber gelangweilt, weil wir nach nichts mehr streben. Deshalb setzen wir uns, kaum haben wir etwas erreicht, gleich das nächste Ziel – das Leben als To-do-Liste, die wir abhaken. Und statt uns über Erreichtes zu freuen, entsteht dieser Eindruck, das Leben zerrinne zwischen den Fingern.

Sie diskutieren in Ihrem Buch sogenannte «telische», zielgerichtete Aktivitäten und «atelische» Tätigkeiten, die im Moment vertieft sind. Müssten wir uns vermehrt um eine atelische Lebensweise bemühen, damit die Gegenwart erfüllter wird?
Ich denke, es geht eher darum, eine Balance zu finden zwischen dem zielfixierten, telischen Handeln und dem atelischen, indem man Dinge um ihrer selbst willen tut. Zum Beispiel Tagebuch schreiben, weil es guttut, nicht weil ich es mir vorgenommen habe, oder Laufen gehen aus schierer Freude an der Bewegung in der Natur, nicht weil ich mir vorgenommen habe, für einen Marathon zu trainieren. Wenn wir in der atelischen Weise aktiv sind, schaffen wir es vielleicht, dem Sog des zielorientierten Denkens zumindest ein Stück weit zu entkommen. Zudem folgt auf die Zielerreichung nicht wieder die Leere, da die Tätigkeit an sich schon befriedigend ist. Oft sind es gerade diese Momente, in denen wir nichts erledigen, erreichen, abhaken oder uns beweisen müssen, aus denen wir Kraft schöpfen. Dennoch: Einfach nur noch im Moment zu leben, wäre für die wenigsten Menschen allein seligmachend. Ziele und Pläne geben unserem Dasein ja auch Struktur. Zudem ist es schön, sich auf etwas hin entwerfen zu können.

«Lebendig zu sein heisst sicher nicht einfach, dass unser Herz schlägt und wir am Leben sind»

In diesem Zusammenhang erwähnen Sie die Idee des «seriatim life», das serielle Leben, das es uns erlaubt, uns stetig zu wandeln. Das wirkt dem gängigen Konzept von Leben und Karriere als linearem Prozess entgegen.
Genau, die Vorstellung eines «seriatim life» regt an, sich das Leben nicht als Plan vorzustellen, sondern eher als eine Serie von immer neuen kleinen Projekten. Die Kritik am «career life» stammt aus der feministischen Philosophie: Wandel und Brüche, wie sie gerade Frauen erfahren, wenn sie Mutter werden, unterwandern die Autonomie nicht, sondern erweitern sie. Was bedeutet, dass neue Aufbrüche auch später im Leben möglich sind.

Sie sind 51. Wie würden Sie die Landkarte Ihres Lebens beschreiben?
Ich habe in meinem Leben dunkle Täler durchwandert und mich in tiefen Wäldern verirrt. Ich weiss, dass möglicherweise auch wieder solche Phasen auf mich zukommen. Aber im Moment fühle ich mich eher auf einem Hochplateau stehend, die Vergangenheit überblickend und die Zukunft erahnend. Und freue mich darauf, die Terra Incognita meines Lebens, diese Orte, die ich noch nicht kenne, zu entdecken.

Barbara Bleisch (51) ist Philosophin, Journalistin und Autorin. Seit 2011 moderiert sie die «Sternstunde Philosophie» beim Schweizer Fernsehen SRF, ist Mitglied des Ethik-Zentrums der Universität Zürich und hat verschiedene Lehraufträge inne. 2024 übernahm sie die Co-Intendanz des Philosophicum Lech und kuratiert die «Reflexionen» der Konzerte der Bach-Stiftung. Barbara Bleisch lebt mit ihrer Familie in Zürich. Ihr Buch: «Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre», 272 Seiten, erschien im Juli 2024 beim Hanser Verlag München.

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