Pflegenotstand: «Ich war für 22 Suizidgefährdete allein verantwortlich»
- Text: Marie Hettich
- Symbolbild: Shutterstock
Der Pflegenotstand in Spitälern und Kliniken ist akut. Karin* (36), die temporär in Psychiatrien in der Deutschschweiz arbeitet, bekommt ihn deutlich zu spüren.
«Mein Werdegang ist für Pflegeberufe ziemlich typisch: Nach zwei Jahren Vollzeitanstellung in einer Psychiatrie habe ich erst mein Pensum runtergeschraubt, dann gekündigt, danach eine lange Pause gemacht – und nun arbeite ich seit vier Jahren temporär. Heisst, ich arbeite einige Monate, spare, so gut es geht, vermiete mein WG-Zimmer und gehe dann für ein paar Monate ins Ausland.
Nur so, mit diesen grossen Pausen, schaffe ich es, überhaupt im Job zu bleiben. Die meisten Pflegefachpersonen, die ich kenne, steigen nach circa fünf Jahren entweder komplett aus oder sie schrauben ihr Pensum drastisch nach unten, weil sie so ausgebrannt sind. Einige machen auch eine Weiterbildung, damit sie künftig weniger an vorderster Front arbeiten müssen.
Als temporäre Mitarbeiterin war ich bei meinen letzten Einsätzen teilweise für 22 depressive und suizidgefährdete Patient:innen allein verantwortlich. Ich musste während meiner Schicht ihre Medikation kontrollieren und verabreichen, auf Nebenwirkungen achten und gegebenenfalls intervenieren, Krisen vorhersehen, abwenden und Suizidalität ad hoc einschätzen.
Weiter: das Essen vorbereiten, Blut abnehmen, Austritte dokumentieren und vorbereiten und betagte Personen beim Toilettengang unterstützen. Ausserdem habe ich therapeutische Gruppen mitgeleitet, alles dokumentiert, Anliegen der Patient:innen aufgenommen, diese an Ärzt:innen weitergeleitet sowie Therapien organisiert. Und das ist noch nicht einmal alles.
«Manchmal kann ich während der Schicht kein einziges Mal etwas essen oder zur Toilette gehen»
Immer wieder kommt es vor, dass ich sieben Tage am Stück arbeiten muss. Manchmal habe ich keine Zeit, auf die Toilette zu gehen oder etwas zu essen, bis die Schicht vorbei ist. Nach der Arbeit fühle ich mich oft ausgelaugt, leer und frustriert. Wie nach einem Marathon, bei dem ich am Ende das Ziel verpasst habe. Teils gehe ich im Geiste noch stundenlang Gespräche und Protokolle durch, aus lauter Angst, dass ich etwas Wichtiges vergessen habe.
Das Schwierigste ist für mich die psychische Belastung. Das Gefühl, dass es unmöglich ist, die eigene Arbeit gut zu machen, weil die Arbeitsbedingungen so schlecht sind, ist manchmal unerträglich. Auf Dauer kann das krank machen. Darum fallen auch viele langfristig aus – ein Dominoeffekt, denn der Personalausfall treibt die Belastung der Verbleibenden weiter in die Höhe.
Zur Prävention für unsere psychische Gesundheit wird so gut wie nichts angeboten. Leider erlebte ich es schon mehrmals, dass sich Patient:innen auf den Abteilungen suizidieren – und es danach keinerlei Begleitung für die Pflegefachperson gibt, die die Person vorgefunden oder sie betreut hat.
Meine WG-Mitbewohner:innen wissen, dass ich nach einer Schicht erstmal ein bis zwei Stunden wenig bis gar nichts rede. Ich brauche Zeit, um alles zu verdauen. Duschen finde ich nach der Arbeit immer extrem wichtig – ich muss den Geruch, die Geschichten, den Frust abwaschen. Wenn ich mich nach Feierabend verabrede, dann eigentlich nur mit Leuten, die ebenfalls in der Pflege arbeiten. Wir verstehen uns meist ohne grosse Worte.
«Die Qualität der Pflege wird immer schlechter»
Die Krankenkassenprämien steigen stetig, jedoch wird die Qualität der Pflege immer schlechter – das ist zumindest meine Beobachtung, seit ich 2009 meine Ausbildung abgeschlossen habe. Neu ist dieser immense Bürokratie-Aufwand: Wir Pflegefachpersonen müssen so viel vor dem PC sitzen und Abrechnungen schreiben; die Krankenkassen wollen mittlerweile jeden kleinsten Entscheid begründet haben. Diese Zeit bräuchten wir so dringend für die Patient:innen.
Ich finde, die Pflegeinitiative, die im November 2021 angenommen wurde, hatte einen guten Grundgedanken. Der Fokus wurde meiner Meinung nach aber viel zu sehr auf die Ausbildung gelegt. Die Motivation ist bei vielen da – das wahre Problem ist doch, dass die wenigsten im Job bleiben.
Das hat definitiv auch mit unserem Lohn zu tun. Für einen Beruf mit so einer hohen Belastung und Verantwortung sind die 5000 Franken, die ich mit einem 80%-Pensum verdiene, nicht genug. Dass unsere Lohnforderungen immer noch nicht gehört wurden, finde ich höchst problematisch. Der Pflege fehlt als typischer Frauenberuf die Anerkennung – wir werden eben immer noch mehrheitlich von alten weissen Männern regiert.»
* Der Name wurde von der Redaktion geändert
Dir geht es nicht gut? Unter Tel. 143 ist rund um die Uhr eine ausgebildete Person erreichbar. Der Schweizer Verband Die dargebotene Hand bietet auch Beratung via E-Mail oder Chatfunktion.