Leidet unsere Gesellschaft an einer Penis-Schüchternheit? Das fragt sich unsere Autorin Stephanie Hess nach einem Winter, in dem sie viel Zeit in der Sauna verbracht hat.
Ich habe diesen Winter mehr Penisse gesehen als zusammengezählt in meinem bisherigen Leben. Nicht in medizinischen Büchern, auch nicht in Pornos – sondern leibhaftig. Seit Herbst gehe ich mehrmals pro Woche mit meinem Freund in die gemischte Sauna. Erst da wurde mir, schwitzend und mit Blick auf all die friedlichen, im Schosse ruhenden Organe klar, welch zurückgezogenes Leben der gemeine Penis im Allgemeinen zu führen hat.
So ein Glied hats nicht einfach. Wenn es sich für einen öffentlichen Auftritt entscheidet, will es kaum jemand sehen. Wir erinnern uns an Männer in langen beigen Mänteln, die mit plötzlich entblösstem Organ für Schrecken sorgen. Und an unaufgefordert per SMS oder Mail versandte Penisbilder. Übergriffiges Verhalten, phallisches Machtgebaren. Penisse ohne verletzende Absichten dagegen, die vielleicht sogar noch schön anzusehen wären, finden sich in freier Wildbahn kaum.
Mit der weiblichen Nacktheit verhält es sich ja so ganz anders. Hunderte Schweizerinnen von nebenan zogen sich für 400 Franken für die «Blick»-Titelseite aus, Schauspielerinnen und Models für den «Playboy», den Pirelli-Kalender. Oder auch für Duschgels, Fitnessabos, Küchenmesser. Um gegen Pelzträger zu kämpfen oder für Kleider zu werben.
Vaginen werden im Facebook-Zeitalter zwar bisweilen ebenfalls verdeckt. Im Vergleich zu Penissen sind weibliche Genitalien in der Öffentlichkeit aber weiterhin überpräsent; auch solche, die mit Farbe gepinselt oder aus Stein geschlagen wurden. Schon das erste Kulturgut, das Menschen vor 30 000 Jahren fertigten, war eine Frauenfigur mit grossen Brüsten und einer gut sichtbaren Vulva, die Venus von Willendorf. Und heute – so zählte die Feministinnengruppe Guerilla Girls – sind im Metropolitan Museum of Art in New York 83 Prozent der nackt dargestellten Menschen Frauen.
Viele werden nun denken, dass ihnen diese Penis-Schüchternheit durchaus gelegen kommt. So ein männliches Genital, das mögen die meisten heterosexuellen Frauen nur dann, wenn es einem Mann gehört, den sie lieben. Ansonsten wollen, zumindest in meinem Umfeld, die wenigsten von einem fremden Penis visuell behelligt werden.
Aber: Ist es wirklich noch zeitgemäss, dass wir grundsätzlich nackte Frauen schöner anzusehen finden als nackte Männer? Wäre es nicht auch an uns, die wir erdrückende Ideale der äusseren Erscheinung kritisieren, unseren Schönheitsbegriff zu erweitern? Und gehört es nicht auch zur sexuellen Selbstbestimmung, sich als heterosexuelle Frau für das männliche Geschlechtsteil zu interessieren?
Ich glaube, es würde uns und ihn entlasten, vielleicht sogar beflügeln, wenn wir beginnen, den Penis nicht nur als Ding der Notwendigkeit zu betrachten, als phallisches Pornoteil oder übergriffiges Machtinstrument, sondern als das Organ, das er ist; interessant – und schön.
annabelle-Redaktorin Stephanie Hess empfiehlt, als Annäherung an die Nacktheit unbekannter Männer «M7» und «Yves Saint Laurent» in eine Internet-Suchmaschine einzugeben.