Der Pantoffelheld: Interview mit Pianist Chilly Gonzales
- Interview: Frank Heer; Foto: Alexandre Isard
Der kanadische Pianist Chilly Gonzales mischt mit Anarchie und Fantasie die Klassikszene auf. Oder die Popmusik? So oder so: Jetzt kommt der Alleskönner in die Schweiz.
Er hat die ausgelatschten Turnschuhe in eine Ecke gekickt. Nun sitzt Chilly Gonzales in Socken auf dem Sofa seiner Garderobe in der Münchner Philharmonie und reibt sich das unrasierte Kinn. Vor ihm liegen – hübsch nebeneinander parkiert – die berühmten Filzpantoffeln. In ein paar Stunden wird er in sie hineinschlüpfen und den seidenen Morgenmantel vom Bügel nehmen. Er wird sich vor dem grossen Spiegel mit den vielen Glühbirnen eine Locke aus der Stirn wischen und einem Assistenten zum Bühnenaufgang folgen. Wenn er, pünktlich um acht und tänzelnd wie ein Boxer, ins Scheinwerferlicht tritt, hebt er strahlend den Arm. Schäumender Applaus und muntere Pfiffe. Der Maestro setzt sich an den Flügel und senkt den Kopf. Dann wird es still im Saal.
Anfang der Neunziger, als Chilly Gonzales noch Jason Charles Beck hiess und Klavier und Komposition an der Musikhochschule in Montreal studierte, mochte er es laut. Sein Herz schlug für derben Hip-Hop: Ice-T, Notorious B. I. G., Eminem. Klassik war ihm zu weltfremd, Jazz zu gediegen. Er legte sich einen Künstlernamen zu und gründete eine Rockband. Die Band floppte, und Chilly Gonzales zog nach Berlin. Dort hatte niemand auf einen seltsamen Kanadier mit spanisch klingendem Namen gewartet. Dafür brodelte in den Clubs gerade eine ungestüme Musik namens Electroclash. Gonzales warf sich mit wahnwitzigen Rap-Tiraden und Tanzeinlagen in Szene, Hemd bis zum Bauchnabel aufgeknöpft, Goldkette im nassen Brusthaar. Seine Texte waren fiese Punchlines, doch er bluffte nicht mit dicken Autos (wie die bösen Rapper), sondern mit cleveren Arrangements und surrealem Witz. Und weil man damit kein Geld verdient, produzierte er Platten für Jane Birkin und Charles Aznavour, spannte mit Peaches, Daft Punk und Feist zusammnen.
Rap-Musik in Filzpantoffeln
2004 erschien sein Album «Solo Piano». Eine Sammlung stiller Klavierstücke, alles Eigenkompositionen, die klingen wie der Nachspann eines französischen Films. Kritiker beschrieben Spuren von Satie und Debussy, mit Schlenkern in den Jazz. Einfühlsam, schlicht und frei von Ironie. Da kam eine Sensibilität zum Vorschein, die niemand erwartet hatte, am wenigsten seine Fans. Der Erfolg des Albums war überwältigend. Es folgte «Solo Piano 2» (2012) und kürzlich «Chambers», das sich vor der französischen Salonmusik verneigt. Chilly Gonzales rappt noch immer hie und da, nicht mehr im Club und ohne Goldkette, dafür in Filzpantoffeln im schnieken Konzerthaus. Das Streichquartett, das ihn begleitet, ist echt, nur die Beats kommen vom iPad: Das bisschen Hiphop muss sein.
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annabelle: Chilly Gonzales, warum haben Sie sich eigentlich einen Künstlernamen zugelegt? Ihr richtiger Name, Jason Beck, klingt doch auch nicht schlecht.
Chilly Gonzales: Aus Minderwertigkeitskomplexen und einem Schuss Arroganz. Künstlernamen sind eine tolle Sache, um sich vor sich selbst zu verstecken. Ich war schon immer ein grosser Hip-Hop-Fan und fasziniert von den monströsen Bühnen-Egos, die sich die Rapper zulegten. Zuhälter, Drogendealer, Gangster … Sie täuschen Authentizität vor, aber eigentlich sind Rapper ja eher so etwas wie Theaterautoren. Sie beschreiben die Realität des Ghettos als kapitalistisches Rachedrama.
In der klassischen Musik, wo Sie heute vor allem zuhause sind, sind solche Rollenspiele doch eher unüblich.
Ich weiss nicht, denken Sie an Franz Liszt. Von ihm hiess es, er war vom Teufel besessen. Es kam seinem Image vermutlich nicht ungelegen, dass ihm etwas Diabolisches anhaftete.
Chilly Gonzales ist ein egomanischer Dandy im seidenen Bademantel, der sich als verkanntes Genie versteht. Die intellektuelle Variante des Gangsta-Rappers?
Chilly Gonzales hatte ich erfunden, damit mir jemand zuhörte. Mich ans Klavier zu setzen, reichte nicht, um von der Musik leben zu können. Natürlich war auch Frust mit im Spiel. Ich war lange erfolglos. In eine Rolle zu schlüpfen, macht die Frustration erträglicher.
Die meisten Künstler gäben bei so viel Selbstzweifeln auf.
Nicht ich! Im Gegenteil. Selbstzweifel sind der Treibstoff meiner Kreativität. Einer meiner grössten Helden ist der Filmkomponist Bernard Herrmann. Die Musik, die er für den Film «Vertigo» von Alfred Hitchcock geschrieben hat, steht Beethovens Neunter in nichts nach. Trotzdem war er einer der frustriertesten Musiker aller Zeiten.
Warum war er so frustriert?
Er glaubte, als Filmkomponist nicht die Anerkennung zu bekommen, die andere Komponisten seiner Zeit genossen. Auch Brahms oder Berlioz waren ziemlich frustriert. Frustration darf einen nicht davon abhalten, seinen künstlerischen Weg zu gehen.
In Ihrem Fall hat sich das Ausharren gelohnt. Heute treten Sie in grossen Häusern auf: Wiener Staatsoper, Gewandhaus Leipzig, KKL Luzern … Orte, die Sie lange als Inbegriff der musikalischen Elite ablehnten.
Ja, und inzwischen schätze ich dort die hervorragende Akustik und die aufmerksamen Zuhörer. Ich muss nicht gegen das Klirren der Gläser und das Geplapper des Publikums ankämpfen. Ich bin 43 und nicht mehr 25. Aber es ist ja auch ein gutes Zeichen, dass sich diese Stätten der Hochkultur für schräge Vögel wie mich öffnen. Es erfüllt mich mit Dankbarkeit, hier spielen zu dürfen – natürlich nicht ohne subversive Genugtuung.
Überrascht Sie Ihr Erfolg?
Ich betrachte ihn nicht als selbstverständlich. Mein Weg vom Berliner Underground an die Oberfläche war unkonventionell und dauerte etwas länger. Es war nicht immer lustig, Chilly Gonzales zu sein. Ich war verzweifelt genug, etwas zu wagen, mich lächerlich zu machen. Dass aus mir nie ein herkömmlicher Konzertpianist werden würde, wusste ich schon am Konservatorium. Technik interessiert mich nicht. Musik ist für mich ein Mittel der Kommunikation. Darum sah ich mich auch immer als Entertainer. Mit dem Elitären der Klassikszene konnte ich nichts anfangen. Ich bin mit MTV und Hip-Hop aufgewachsen und wollte ein Mann meiner Generation sein.
Erinnern Sie sich an Ihre erste Piano-Lektion?
Ja, ich war etwa sechs Jahre alt. Bei meinem Grossvater stand ein Klavier, und wenn wir ihn besuchten, setzte er mich davor. Mein Grossvater war mein erster Lehrer. Eine echte Autorität. Ein ungarischer Jude, der als Flüchtling nach Kanada gekommen war. Seine Mission war es, seine Verehrung für die grossen Komponisten der Alten Welt an mich weiterzugeben.
Mit Erfolg?
Es war ein zähes Ringen, vor allem, als ich mich für Michael Jackson, die Beastie Boys oder Eminem zu interessieren begann statt für Wagner. Erst viel später entdeckte ich die französischen Romantiker. Debussy, Satie, Ravel … oder den etwas in Vergessenheit geratenen Gabriel Fauré. Er hat diesen leichten Sound, der erst beim genauen Hinhören sehr komplex und tiefgründig ist. Er war eine grosse Inspiration, auch für mein neues Album «Chambers».
Auf Youtube kann man Sie noch in alten Liveauftritten als Rapper rumturnen sehen. Die wenigsten Ihrer Fans kennen Sie so.
Zum Glück stammen meine peinlichsten Auftritte aus einer Zeit, als es noch nicht üblich war, alles mit dem Handy zu filmen. Dass ich ein ausgebildeter Pianist bin, wussten damals die wenigsten. Manchmal, wenn irgendwo ein Klavier herumstand, setzte ich mich hin und begann zu klimpern. Die Leute waren verblüfft, weil sie nicht wussten, dass ich wirklich Klavier spielen kann. Heute ist es umgekehrt: Die meisten Leute kennen mich über meine Piano-Werke und nicht als surreale Rampensau, die mit Peaches und Feist um die Wette rappte.
– Chilly Gonzales spielt in Begleitung des Kaiser-Quartetts am 5. 10. im KKL Luzern und am 25. 10. in der Victoria Hall, Genf
– Aktuelle CD: Chambers (Disque Office)
– Klavierlehrbuch für Wiedereinsteiger: Chilly Gonzales, Re-Introduction Etudes
Das Konzert im KKL ist eine Veranstaltung des «Salad Days Club», dem diverse Luzerner Konzert-Institutionen angehören. Mehr Infos und Programm: www.saladdaysclub.ch.
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«Heute muss ich nicht mehr gegen das Geplapper des Publikums ankämpfen»: Chilly Gonzales mit Streichquartett