Leben
Orchideen: Das geheime Liebesleben der Schweizer Orchideen
- Text: Mathias PlüssFotos: Claudia & Beat Wartmann
Orchideen sind zauberhaft. Aber auch ein bisschen fies. Zur Freude von Pflanzenfan Mathias Plüss wachsen die edlen Blumen mit ihren nicht ganz so edlen Verführungsmethoden auch in der Schweiz.
Orchideen sind zauberhaft. Aber auch ein bisschen fies. Zur Freude von Pflanzenfan Mathias Plüss wachsen die edlen Blumen mit ihren nicht ganz so edlen Verführungsmethoden auch in der Schweiz.
Exotisch, exklusiv, erlesen: Noch vor wenigen Jahren galten Orchideen in Europa als teure Rarität. Sie wurden im tropischen Regen-wald von den Bäumen geholt, aufwendig hertransportiert und waren schwierig zu halten. Inzwischen hat die Zuchttechnik grosse Fortschritte gemacht – Orchideen wachsen heute millionenfach auch in europäischen Gewächshäusern. So sind sie zu Allerweltszimmerpflanzen geworden.
Wie schade! Denn diese Pflanzenfamilie ist wirklich etwas Besonderes. Die kleinsten Orchideen sind drei Millimeter lang – die grössten bilden Horste von mehreren Hundert Kilo. Vanillepflanzen wiederum, die auch zu den Orchideen gehören, wachsen als Lianen und können mehr als zwanzig Meter lang werden. Wenn man die verschlungenen Blüten und abenteuerlichen Fortpflanzungsmethoden mancher Arten sieht, so kann man nur staunen, dass die Natur so etwas hervorbringen konnte. Wie bieder sehen daneben doch Margeriten, Tulpen oder Löwenzahn aus mit ihren simplen Konzepten.
Obwohl in absoluten Zahlen nicht häufig, sind Orchideen die arten- und formenreichste Pflanzenfamilie der Welt. Etwa 25 000 Arten kennt man schon, jährlich kommen etwa 300 neue hinzu. Sie wachsen in allen Lebensräumen, von den Meeresküsten bis an die Schneegrenze, auf Wüstensand und im Sprühregen von Wasserfällen, von Grön- bis Feuerland. Das Schönste ist, dass es wilde Orchideen auch in der Schweiz gibt: immerhin 74 Arten. Darunter sind Blumen, die man recht häufig in den Bergen antreffen kann, etwa das betörend duftende Männertreu oder das leuchtend rosarote Mannsknabenkraut – aber auch spektakuläre Seltenheiten wie der Frauenschuh, dessen riesige Blüten an Holzpantoffeln erinnern, oder die Bocksriemenzunge mit ihren züngelnden Spirallippen.
Ja, Orchideen haben etwas Verführerisches. Ihre stolze Ausstrahlung macht sie zur Adelsfamilie der Pflanzenwelt. Allerdings gleichen manche Arten weniger der edlen Prinzessin als vielmehr der heimtückischen Königin der Nacht.
Die Orchidee, eine Fleur Fatale
Überspitzt formuliert: Die Orchidee ist eine Betrügerin. Das beginnt schon damit, dass sie einen Wurzelpilz benötigt, der ihr beim Keimen hilft und auch später Nährstoffe liefert. Zwar leben auch die meisten anderen Pflanzen in Symbiose mit einem Pilz, aber bei vielen Orchideen ist das Verhältnis einseitig. Manche Arten sind sogar reine Schmarotzer, die nur nehmen und nichts zurückgeben. Noch unfairer als mit den Pilzen gehen manche Orchideen mit den Insekten um. Der übliche Deal ist: Das Insekt verbreitet den Pollen und bekommt dafür Nektar. Nicht so bei jenen Orchideen, die man als Täuschblumen bezeichnet. Auch sie benutzen das Insektentaxi für ihre Fortpflanzung, liefern aber keine Belohnung.
Beispiel Frauenschuh: Seine spektakuläre Blüte ist reine Fassade. Die aufgemotzte Lippe und der Duft täuschen grosse Mengen Nektar vor, die in Wahrheit gar nicht vorhanden sind. Wollen Insekten auf der Blüte landen, rutschen sie unweigerlich an den glatten Innenwänden hinunter – man spricht von einer Kesselfalle. Beim Hinauskrabbeln durch den engen Ausgang bekommen sie schmierige Pollenmasse auf den Kopf, mit der sie dann automatisch den nächsten Frauenschuh bestäuben.
Noch raffinierter treiben es die Ragwurze. Sechs Arten gibt es in der Schweiz, zwei davon sehen wir am Hessenberg bei Effingen unter der Führung des Biologen Beat Wartmann, einem der besten Orchideenkenner des Landes. Das Orchideenfieber hat ihn zwar relativ spät gepackt, dafür dann umso intensiver. «Ich habe bald begonnen, wie wild zu kartieren», sagt Wartmann. «Ich mache nichts halbbatzig.» Rund tausend Fundmeldungen liefert er jährlich an die nicht öffentlich zugängliche Schweizer Orchideen-Datenbank. Laut Beat Wartmann behagen die lichten, sonnigen Föhrenwälder des Aargauer Juras den Orchideen – von der seltenen Kleinen Spinnen-Ragwurz wachsen hier etwa hundert Stück. Auf den ersten Blick sieht sie unscheinbar aus: vielleicht zwanzig Zentimeter hoch, keine auffälligen Farben, originell geformte Blüten mit braunem Pelz. Doch das Blümchen hat es in sich. Weil die einzelnen Blüten jeweils im Abstand von einigen Tagen aufgehen, kommt diese Ragwurz auf eine Blühzeit von bis zu fünf Wochen. «Fast so viel wie eine Phalaenopsis, die auf Blühfreudigkeit gezüchtet ist», sagt Beat Wartmann. Die Phalaenopsis ist jene Orchidee, die in jeder zweiten Stube steht.
Manche Orchideen imitieren Insektenweibchen, und die Bienenmännchen fliegen drauf
Die Ragwurze haben eine derart hoch entwickelte Fortpflanzungstechnik, dass jeweils nur eine ganz bestimmte Bienen- oder Wespenart sie bestäuben kann. Jedes Detail des Blütenbaus hat seinen Zweck. «Es ist alles darauf angelegt, diese spezifische Insektenart anzulocken», sagt Beat Wartmann. «Das Insekt wird dabei hereingelegt. Ragwurze sind Sexualtäuschblumen.» So langsam beginnt man zu ahnen, was es mit dem seltsamen braunen Pelz auf sich hat. Tatsächlich: Die Ragwurzblüten imitieren Insektenweibchen. Und zwar auf allen Sinnesebenen. Fürs Auge etwa haben sie Form und Körperteile des Bienenweibchens nachgebildet, für die Nase den Sexuallockstoff, und fürs richtige Gefühl sorgen die Pelzhaare und die nachgeahmten Geschlechtsorgane. Die Bienenmännchen fliegen darauf! Und machen auf dem Pelzding, wie es in der Biologensprache so schön heisst, Begattungsbewegungen. Der Rest läuft wie gehabt: Pollenpakete bleiben am Insektenmännchen hängen und befruchten bei der nächsten Pseudokopulation eine andere Ragwurzblüte.
Das Verrückte ist der Aufwand, der für die Täuschung betrieben wird. «Die Blüten variieren alle ein wenig im Aussehen», sagt Beat Wartmann. «Die Bienen sind ja nicht dumm. Wenn alle Blüten genau gleich aussähen, würden sie schnell lernen, dass sie da nichts bekommen.» Aber dank der Variabilität gibt es kein klares Signal, das «Attrappe» bedeutet. Schier unglaublich ist die Präzision beim Nachbauen des Sexuallockstoffs. Jede Insektenart hat ihr eigenes Gemisch, und dieses kann ein Dutzend entscheidende Inhaltsstoffe haben. Die Ragwurze bilden alle Komponenten nach, und zwar in der richtigen Dosierung. Täten sie es nicht, so würden die Insekten rasch merken, was gespielt wird. Wichtiges Detail: der Jungfrauenduft. Begattete Bienen riechen anders als jungfräuliche. «Weibliche Bienen können einen zusätzlichen Duftstoff absondern, der bedeutet, dass sie schon befruchtet sind», sagt Wartmann. «Und auch diesen Duftstoff machen die Pflanzen nach, sobald sie bestäubt sind.» Die Bienenmännchen kommen dann nicht mehr. Sie sollen die Pollen auf unbefruchtete Ragwurze tragen, alles andere wäre Verschwendung.
— Buchtipp: Beat A. Wartmann: Die Orchideen der Schweiz. Ein Feldführer. Haupt-Verlag 2008, 246 Seiten, ca. 44 Franken
Auf der nächsten Seite lesen Sie, wo man Orchideen in der Schweiz bewundern kann und worauf man achten muss.
Orchideen in der Schweiz
Der Juni ist die beste Zeit, um wilde Orchideen zu bestaunen. Gute Standorte sind etwa der Chilpen bei Diegten BL, das Gasterntal BE, der Hessenberg bei Effingen AG oder der Orchideenlehrpfad bei Erlinsbach AG (www.ageo.ch). Den Frauenschuh kann man etwa noch am Rossberg SZ, im Tannbüel bei Bargen SH oder am zürcherischen Hörnli sehen. Bitte Naturschutzgebiete respektieren, Wege nicht verlassen und sich zum Fotografieren nicht ins Gras legen.
Gefahr und Hoffnung für wilde Orchideen
Nur schauen. Orchideen sind geschützt. Es ist verboten, sie auszureissen oder auszugraben. Solche illegalen Aktionen haben etwa den Frauenschuh in der Schweiz arg dezimiert. Es bringt auch nichts: Orchideen werden zuhause im Garten nicht wachsen – denn da fehlt der Pilz, der die lebensnotwendigen Aminosäuren und Vitamine liefert.
Rückgang. Der Hauptgrund dafür, dass die Bestände vieler wilder Orchideen in den letzten Jahrzehnten dramatisch zurückgegangen ist, liegt in der Intensivierung der Landwirtschaft. «Die Orchideen sind Spezialisten für nährstoffarme Böden», sagt Beat Wartmann. Ungedüngte Wiesen gibt es aber immer weniger in der Schweiz. Im Kanton Zürich etwa hat die Fläche der Magerwiesen von 60 000 Hektaren (1939) auf 1000 Hektaren (1990) abgenommen. Sobald ein wenig Gülle in den Boden kommt, haben die licht- und wärmebedürftigen Orchideen das Nachsehen: Sie werden von schnell wachsenden Arten überwuchert und gehen darum ein.
Neuorientierung. Eine gewisse Hoffnung bilden sogenannte Sekundärstandorte: Bahnborde oder Strassenböschungen etwa, die für Orchideen gute Bedingungen bieten, ohne dass das je beabsichtigt war. Das schönste Beispiel sind die Flachdächer des Seewasserwerks Moos in Zürich-Wollishofen, wo sich rund 11 000 Orchideen angesiedelt haben.
1.
Männertreu
2.
Bocksriemenzunge
3.
Mannsknabenkraut
4.
Kleine Spinnen-Ragwurz