In der neuen Heimat nicht willkommen, die alte für immer verwehrt: Ein Sans-Papiers (36) über sein Leben in der Schweiz, das es offiziell gar nicht gibt.
Wenn ich neue Leuten treffe, stelle ich mich immer mit meinem vollen Namen vor. Er klingt fremd, und manchmal spüre ich die Ablehnung. Das kümmert mich aber nicht: Mein Name gehört zu meiner Identität, er ist ein Relikt aus meinem Heimatland. Darauf bin ich stolz. Aber meine tatsächliche Heimat, da wo ich mich zuhause fühle, das ist seit 14 Jahren die Schweiz. Auch wenn ich per Gesetz gar nicht mehr hier sein dürfte.
Als ich 2004 in die Schweiz kam, war ich voller Hoffnung: Ich hatte die Zusage mehrer Universitäten in Deutschland, Österreich und der Schweiz für einen Master in Wirtschaft. Ich informierte mich und war mir sicher: in der Schweiz, einem unabhängigen Land, würde zählen, was man erreicht, nicht, woher man kommt. Wirtschaft wollte ich eigentlich nie studieren, sondern Architektur. Aber ich stamme aus einer Ärztefamilie, für die der Beruf Architekt keiner mit Ansehen war. Diese engen Familienstrukturen sind einerseits ein Segen: In einem Dorf von 9000 Leuten war ich mit 500 verwandt. Alle stehen ungefragt hinter dir, wenn du ein Problem hast. Das liebe ich an meiner Familie und an meiner alten Heimat. Andererseits fühlte ich mich seit meiner Kindheit dadurch auch extrem eingeengt. Man bekommt von der Gesellschaft eine Rolle zugeschrieben, die man erfüllen soll. Jeder weiss, was du machst, der Staat ist korrupt, und nur das Geld zählt. Als ich das Visum und die Zusage für das Studium in der Schweiz bekam, dachte ich: Endlich frei sein, ein Leben ohne Zwänge leben. Ich freute mich darauf, zu Ende zu studieren und für meinen Traum zu arbeiten.
Mein erstes Jahr in der Schweiz war eine unglückliche Verkettung von Ereignissen. Als ich endlich mein dreimonatiges Visum bekam, hatte das Herbstsemester schon begonnen. Ich meldete mich für einen viel zu teuren Deutschkurs an, suchte sieben Monate intensiv, aber vergeblich eine WG. Bei der Jugendherberge, bei der ich unterkam, bezahlte ich im Monat fast 1200 Franken. Das Geld, mit dem ich in die Schweiz gekommen war – 900 Dollar, 900 Euro und 400 Franken –, war bald aufgebraucht. Ein Bekannter vermittelte mir schwarz einen Job, bei dem ich mir den Arm brach und der mich arbeitsunfähig machte.Trotzdem war ich glücklich, in der Schweiz zu sein. Früher hatten mich meine Kollegen manchmal ausgelacht, weil ich ständig ihre Zigarettenstummel vom Boden aufsammelte und in meinem Abfallsack verstaute. Hier machen das alle. Überall ist es sauber. Und nie werde ich vergessen, wie ich damals im November zum ersten Mal Schnee berührte. Ich freue mich jedes Jahr darauf, wenn es endlich wieder schneit.
Den Sprachkurs konnte ich mir nicht mehr leisten. Deutsch hat mich begeistert, darum hatte ich mich im deutschsprachigen Raum beworben. Es ist Ironie, dass ich nun grad deshalb ein Sans-Papiers bin – denn weil ich zweimal knapp durch die Deutschprüfung an der Universität fiel, verlor ich meine Aufenthaltsbewilligung als Student. Zurückkehren war keine Option für mich. Jahrelange Versuche mit einem Anwalt, eine erneute Bewilligung zu bekommen, scheiterten. Als meine Mutter schwer krank wurde, konnte ich sie nicht besuchen. Das schmerzt mich sehr. Kollegen wollten mir mehrmals Scheinehefrauen vermitteln, auch eine Bekannte bot mir an zu heiraten. Aber das will ich nicht. Heiraten, das soll aus Liebe sein. Genau wie die eigene Heimat: keine Bescheinigung auf Papier, sondern ein Gefühl.
Heute, nach 14 Jahren in der Schweiz, bin ich noch immer glücklich. Kürzlich war ich am Walensee wandern. Sehen die Schweizer eigentlich noch, wie schön die Natur hier ist? Ich fühle mich frei, viel freier als ich es an meinem Geburtsort war, selbst als Sans-Papiers. Ich habe eine zweite Familie hier, einen tollen Freundeskreis und Menschen, die mich unterstützen, eine WG und einen Gelegenheitsjob gefunden. Die Hoffnung, irgendwann legal hier sein zu können, eine Ausbildung zu machen und keine Angst mehr haben zu müssen, auf öffentlichen Plätzen kontrolliert zu werden, habe ich noch nicht aufgegeben.