Älterwerden, das tun nur die anderen. Und der eigene Hund. Auch unsere Autorin dachte mal so – und dann ging sie eines Tages Schlittschuhlaufen.
Altwerden hatte ich nicht geplant. Das heisst nicht, dass ich früh sterben wollte. Nur eben, dass ich nicht alt werden wollte. Wie man beides kombinieren könnte – spät sterben, ohne alt zu werden – habe ich noch nicht raus, und irgendwie ist es auch fast zu spät. Jetzt, mit 53. Beispielsweise habe ich mir im vergangenen Jahr die Schulter gebrochen, es brauchte ewig, bis sie wieder zusammengewachsen war. Und es tut immer noch weh. Schlimmer als der endlose Heilungsprozess war, was geschah, wenn ich erzählte, dass ich die Schulter gebrochen hatte. Fragte der andere: «Wie denn?» Sagte ich: «Beim Schlittschuhlaufen.» Und dann lachte er: «HAHAHA!» Schlittschuhlaufen! Mit Anfang fünfzig! Kein Wunder! – Bis dahin hatte ich nicht gewusst, wie alt ich war. Zu alt, um Schlittschuh zu laufen zum Beispiel.
Ich dachte, Älterwerden sei etwas, das anderen passiert. Wie Dickwerden, Unfälle, eine schwere Krankheit und Scheidung. Ich dachte es ziemlich lang. Komisch. Da ich im Verlauf meines Lebens schon ein paarmal dick und zweimal geschieden war, hätte ich es besser wissen sollen. Tat ich aber nicht. Als ich mit Anfang vierzig einen Bekannten wiedertraf, den ich lang nicht mehr gesehen hatte, hatte ich Mühe, mein Erschrecken zu verbergen. «Ui!», dachte ich. «Der ist aber alt geworden!» Dass er Ähnliches denken könnte, über mich, zog ich damals noch nicht in Betracht. Jetzt, mit Anfang fünfzig, halte ich es bisweilen für möglich. Ich meine: Nach längeren Autofahrten steige ich gebückt aus dem Auto und habe Mühe, mich wieder zu meiner vollen Körpergrösse zu entfalten. Beim Hüpfen und Treppensteigen tun mir die Knie weh. Und neulich, im Restaurant, musste ich mir vom Unbekannten am Nachbartisch die Brille ausleihen, damit ich auf der Karte erkennen konnte, was es zu essen gab.
Das vergeht wieder, denke ich gern. Es ist nur temporär. Eine kleine Wehleidigkeit. Es ist nur das Wetter. Es hat nichts mit Alter zu tun. Und schon gar nicht muss es das Schlimmste bedeuten. Wie etwa: Dass das jetzt gnadenlos immer so weitergeht. Mit der gebückten Haltung. Den müden Augen. Und den schmerzenden Knien. Dass nichts davon jemals wieder vergeht. Dass es nie mehr besser wird. Sondern: schlimmer. Dass es von nun an nur immer so weitergeht. Bergab, bis zum Ende. Wie sollte man so eine Vorstellung ertragen? Wir alle glauben offenbar, dass das Älterwerden nur anderen passiert. Als ich zum dritten Mal schwanger war (mit Mitte zwanzig!) und meinen Söhnen erzählte, dass sie in ein paar Monaten ein Geschwisterchen haben würden, grübelte der Zweitälteste, damals drei, ein paar stumme Minuten. Dann sagte er: «Mama – das Baby wird doch mal gross werden, oder?» Das, immerhin, konnte ich mit einiger Sicherheit bestätigen. Mein Kind strahlte: «Wenn es so gross ist wie du, kann es mich vom Kindergarten abholen!» Nimm das, Lauf der Zeit!
Dass ich erkannt habe, dass andere altern, heisst selbstverständlich nicht, dass ich deren Altern einfach so akzeptiere. Ich drücke mich gern vor Begegnungen mit Menschen, die ich längere Zeit nicht gesehen habe. Ich möchte nicht sehen, «wie alt die geworden sind!». Da ich mein Heimatland vor über zehn Jahren verliess und seither nur einmal dorthin zurückgekehrt bin, gibt es eine Menge Menschen, die ich «längere Zeit» nicht gesehen habe. Ich muss geglaubt haben, mein Weggehen verschaffe mir eine Art Status quo. Mindestens aber einen Aufschub des Fortlaufs der Zeit. Alles auf Pause, bis ich zurückgekehrt bin.
Natürlich, ich habe auch hier Menschen kennengelernt und sehe sie altern. Aber: Zehn Jahre sind nur im Zusammenhang mit einem bereits gelebten Leben und in Bezug auf Menschen und Orte, die man zurückgelassen hat, eine lange Zeit. Für sich genommen, von aller Vergangenheit losgelöst, sind sie nur ein Augenblick. Ich glaube, darum nennt man es Neubeginn, wenn einer fortgeht. Auswandert. Wenn er jeden und alles hinter sich lässt. In dem Sinn bin ich an meinem neuen Ort also gerade mal zehn Jahre alt und könnte, darf man den aktuellen Lebenserwartungsversprechen vertrauen, gut und gern noch 65 Jahre leben. Vielleicht wandere ich von hier auch noch einmal woandershin aus, und dann noch einmal und so fort. Ich könnte das Altern so ins Niemals-Eintretende verschieben. Das Sterben auch.
Was man auf keinen Fall tun darf, wenn man sich diese Illusionen bewahren will, ist: Tiere halten. Tiere altern schnell. Viel zu schnell. Sie altern sogar innerhalb von zehn Jahren. Das weiss ich jetzt. Wo es zu spät ist. Der Hund, der hier als junger Springinsfeld mit uns neu begann, ist jetzt zwölf. In Hundejahren gerechnet, ist er beinahe ein Greis. Innerhalb unserer gemeinsam durchlebten Dekade hat sich der Springinsfeld vor meinen Augen erbarmungslos in einen Latschdurchsfeld verwandelt. Das Treppensteigen fällt ihm bisweilen schwer und nach Spaziergängen schafft er es nicht mehr allein ins Auto. In Amerika, das habe ich in einem Magazin gelesen, geben die Leute ihre alten Hunde ins Heim. Die amerikanischen Tierheime sind voller alter, gebrechlicher Hunde. «Weil alte Hunde pflege- und kostenintensiv sind und die Leute weder das Geld noch die Zeit in sie investieren wollen», stand dort. Ich dachte: vielleicht. Vielleicht geben sie ihre Hunde aber auch weg, weil ihnen bei deren gebrechlichem Anblick der Arsch auf Grundeis geht. So, wie mir meiner auf Grundeis geht, beim Anblick meines eigenen Hundegreises. Aus den gleichen Gründen. Denn tief im Inneren seines kleinen Herzens weiss man es ja: Es gibt keinen Status quo. Es geht niemals immer so weiter. Es kommt immer ein Ende.
Eine bekannte amerikanische Autorin – ihren Namen habe ich leider vergessen – hat einmal gesagt, dass man mit siebzig Jahren so eine Art Überraschungs-Schallgrenze passiere, was das Sterben betrifft. Habe man diese Grenze erstmal überschritten, könne man getrost sterben, ohne sich darüber wundern zu müssen, warum einem das nun passiert. Und auch die anderen, Hinterbliebenen, heulten einem nicht mehr fassungslos hinterher. Man gehört nicht zu den traurig Auserwählten, die der liebe Gott früh zu sich gerufen hat, weil er sie extra prima fand (ein Trost, den man ausschliesslich in den Todesanzeigen der Schrecklich-viel-jünger- als-Siebzigjährigen liest und der womöglich nur für Hinterbliebene funktioniert, nicht so sehr für die Auserwählten selbst). Und wenn in der Todesanzeige eines Über-70-Gewesenen floskelhaft «plötzlich und unerwartet» steht, dann schmunzeln die Leute und sagen: «Na ja.»
Theoretisch finde ich diese Einstellung vernünftig. Ich wäre bei dem Gedanken, demnächst, mit siebzig, ohne inneren und äusseren Aufruhr von der Bühne gehen zu können, sehr gern erleichtert. Praktisch bin ich schon 53 und rechne mit zitterndem Herzen: Es sind nur noch 17 Jahre, verflucht! Ganze drei Jahre weniger als vergangen sind, seit ich mein jüngstes Kind zur Welt gebracht habe! Und nur ein Jahr länger, als ich geschieden bin. Das ist – vorausgesetzt, dass alles gut geht – übermorgen! Was soll daran tröstlich sein?
Zum krummen Rücken, zu den müden Augen und wehen Knien hat sich Ungnädigkeit in mich geschlichen. Es gibt so viele und immer mehr Dinge, die ich immer weniger ertrage. Regen. Den Winter im Allgemeinen und im Besonderen Kälte und viel zu kurze Tage. Menschen, die fertig getankt und bezahlt haben, und dann vor der Tanksäule in ihrem Auto sitzen und telefonieren. Internet-Kommentare. Donald-Trump-Tweets. Menschen, die (womöglich in Kälte und Regen!) stundenlang Schlange stehen, um die Allerersten zu sein, die das allerneueste Handy haben, mit dem sie dann endlich das tun können und mit dem sie niemals mehr tun werden als das, was sie schon mit dem letzten, vorletzten und dem vorvorvorletzten Handymodell taten: telefonieren. Idiotische «Meinungen», die jeder Logik und allen Erfahrungen widersprechen. Fernsehsendungen, in denen verblödete Gäste und Moderatoren so tun, als sei Verblödung die wahre Erleuchtung. Ich habe immer gedacht, mit dem Alter käme grosse Weisheit und folglich Güte über mich. Ich sah mich als gesetzten Buddha. Lächelnd. In seiner Seelenruhe durch nichts und niemanden zu erschüttern. Tatsächlich verwandelte ich mich in Walter Matthau. Grantig. Garstig. Ich sehe auch zunehmend wie ein Matthau aus. Ich frage mich, ob diese wachsende Griesgrämigkeit so eine Art Versprechen ist. Darauf, dass man, wenn man erst so richtig alt ist – achtzig oder eher neunzig oder besser noch hundert –, auf das alles hier endlich mal keinen Bock mehr hat. Ob man, wenn es lang genug dauert, von selbst die Lust verliert. Nicht nur an miesem Wetter und Fernsehen. Sondern generell, am Leben. Vielleicht erscheint einem das Leben am Ende wie eine Party, auf der man zu lang geblieben ist. Man lehnt im Türrahmen, mit seinem leeren Glas, es spielen zum x-ten Mal dieselben Platten, man hat mit jedem und über alles gesprochen, hat mit ein paar Leuten gelacht, schon von allen Snacks genascht, man war gern hier, es hat Spass gemacht, keine Frage, und vor zwei Stunden oder auch einer hätte man im Leben nicht daran gedacht, zu gehen. Jetzt aber, ja, jetzt ist einem sterbenslangweilig. Haha. Man möchte nur noch heim, in sein warmes Bett. Respektive in die kalte Erde. Und wenn man schon nicht direkt möchte, dann ist es einem doch wenigstens tröstlich egal.
ES GIBT IMMER MEHR
DINGE, DIE ICH IMMER
WENIGER ERTRAGE.
REGEN. KALTE TAGE.
INTERNET-KOMMENTARE.
Ich kannte mal einen, der war 85. Ich ging ihn ganz gern besuchen. Und ich meine, er mochte es, wenn ich ihn besuchen kam. Er tischte dann Suppe auf oder Whiskey, und wir sassen auf seiner Terrasse in der Sonne und quatschten. Er war mal Haus-Tenor an einer Oper gewesen. Gab jetzt Gesangsunterricht und leitete einen Chor. An den Wänden in seinem Gesangszimmer hingen seine Bühnen-Bilder aus einer fernen Ära. In der trugen Männer stets Hut und Halstuch und gingen mit Gehstock. Auch Letzteres nur aus Gründen der Eleganz. Der junge Mann mit dem dichten dunklen Haar, den buschigen Brauen und mit dem Feuer in den Augen war er. Ein halbes Jahrhundert her. Er sah noch immer glänzend aus. Hatte noch immer dichtes, jetzt schlohweisses Haar und diese wilden Brauen. Er hatte noch immer Feuer. Wenn ich in seinem Gesangszimmer nur den schiefen Ton traf, war er jederzeit bereit, mich damit zu verbrennen.
Aber manchmal glaubte ich schon, jene gewisse Müdigkeit zu spüren, von der ich mich fragte, ob es sie gab. Ich meine, sie schlich sich ein, wenn er von seinem Vater erzählte, der lang tot war. Und von seiner Frau, die noch nicht lang tot war. Und siehe: Das fand ich gar nicht tröstlich. Aber vielleicht war ich, mit meinen damals 43 Jahren, nur einfach noch zu jung. Ich wollte ihn gern fragen, wie das ist, wenn man da im Türrahmen steht. Wie sich das anfühlt, wenn man weiss: Nun ist es nicht mehr lang. Ob er Angst hatte oder sich freute, dass die Party bald zu Ende war? Oder war es ihm egal? Statt ihn zu fragen, ging ich irgendwann nicht mehr hin. Und obwohl man beides natürlich auf keinen Fall vergleichen und schon gar nicht entschuldigen darf: Ich kann mir vorstellen, warum die Amerikaner ihre alten Hunde ins Tierheim geben.
Ich habe meinem alten Hund eine Einstiegsrampe fürs Auto gekauft. Und möglicherweise werde ich, ihm zuliebe, demnächst mein Schlafzimmer ins Parterre verlegen. Das kostet, ist pflegeintensiv, ist schon wahr. Aber das macht mir nichts aus. Mir macht nur das aus, dass es jetzt immer so weitergeht. Dass er jetzt immer schneller immer noch älter wird. Und ich möglicherweise mit ihm. Denn im Grunde weiss man ja, wo das alles endet. Vor Kurzem noch hatte meine Tochter eine Zwerghamsterin, die war, in Zwerghamsterjahren gemessen, noch älter als mein Hund. Sie war zweieinhalb. Ein Methusalem. Der gewöhnliche Zwerghamster, so hatte ich gelesen, hat eine Lebenserwartung von maximal anderthalb Jahren. Trotzdem erschrak ich, als meine Tochter sagte: «Popcorn sieht in den letzten Tagen ganz schön alt aus.» Ich rief: «Warum?!» Als sei das eine ernsthaft berechtigte Frage. Als käme schon das «plötzlich und unerwartet»: Dass eine, die ganz schön alt ist, ganz schön alt aussieht.
Zwei Wochen später war die Hamsterin tot. Ich stand, als mich die Nachricht traf, gerade im Nirgendwo, auf einem Flughafen in South Dakota, und vielleicht brach ich darum in aller Öffentlichkeit in Tränen aus. Ich fragte meine üblichen Fragen: «Wie das denn? Warum denn? Und warum jetzt, so plötzlich!» – «Aber ich habe dir doch schon vor Wochen gesagt, dass sie alt aussieht», sagte die Ex-Hamsterbesitzerin konsterniert. Als hätte das etwas zu sagen!
Was mich betrifft: Solang kein Spiegel in der Nähe ist, bin ich immer noch Mitte dreissig. Nicht Mitte zwanzig, nein. Wieder Mitte zwanzig zu sein – gar für immer –, finde ich nicht verlockend. Ich war damals zwar herrlich jung, aber auch reichlich dumm. Siehe weiter vorne. Das Dümmste an diesem jugendlichen Dummsein war, dass ich nicht wusste, wie dumm ich war. Schaue ich heute auf mein zwanzigjähriges Selbst zurück, erschrecke ich, ähnlich, wie ich erschrecke, wenn ich einem gealterten Bekannten begegne. Möglicherweise mehr. Die Zeit Mitte dreissig dagegen war eine super Zeit. Ich war gerade zum zweiten Mal geschieden und hatte – anders als bei meiner ersten Scheidung mit Mitte zwanzig – schnell begriffen, dass es ein Segen war, dass das nicht nur anderen passiert. Eine Freundin sagte: «36 ist das perfekte Alter, um noch einmal neu zu beginnen.» Und das war es auch. Das Leben hätte meinetwegen auf ewig so weitergehen können, mit meiner Mitte-dreissig-Glückseligkeit, und eine Weile glaubte ich, das sei möglich. Dass das Leben «so weitergehen» kann, indem es stillsteht. Dann stürzte ich beim Schlittschuhlaufen und musste hören, ich sei alt. Shut up! Ich habe gerade einen jungen Hund gekauft.