Modelbookerin: «Niemand hat ihnen beigebracht, sich zu wehren»
- Text: Kerstin Hasse
- Bild: Vera Hartmann
Esther Kinnear-Derungs (30) hat schon als Jugendliche davon geträumt, Modelbookerin zu werden. Sie ging nach London – und merkte, dass ihr die Strukturen des Business nicht passten. Also gründete sie ihre eigene, faire Agentur.
Über den Laufsteg stolzieren. In tollen Kleidern. Vor prominenten Menschen. Im Scheinwerferlicht, das funkelt und blitzt. Man kann ihn durchaus verstehen, den Traum junger Frauen, Model zu werden. Aber Modelagentin? Esther Kinnear-Derungs ist 15 Jahre alt, sitzt in ihrem Zimmer, zuhause im St. Galler Rheintal, als sie genau dies beschliesst. Sie studiert in einer Ausgabe der «Vogue» gerade verschiedene Berufsprofile in der Modebranche. Ein in Paris lebender Schweizer berichtet darin von seiner Arbeit als Modelbooker.
Das ist es, was auch sie machen möchte: durch die Welt reisen, mit wichtigen Leuten verhandeln, Models managen. Also ruft sie ihn kurzerhand an. «Er war sehr nett», erinnert sich Kinnear-Derungs. Doch was sie, 15 Jahre ist das nun her, nicht weiss: Es ist ein schlechter Zeitpunkt. Fashion Week. Hochsaison. «Er meinte, dass ich mich in einer Woche nochmal melden sollte – mit zehn Fragen, die ich gern beantwortet haben möchte.» Doch sieben Tage später ist der Mut weg. Es dauert Monate, bis sie sich traut, ihn erneut zu kontaktieren. Sein Ratschlag: «Verlass die Schweiz, zieh in eine grosse Stadt, mach ein Praktikum.» Und so macht sie es.
Ihre Berufung gefunden
Nach einer kaufmännischen Ausbildung arbeitet Kinnear-Derungs zwei Jahre in der Finanzbranche, zieht dann nach London, wo sie ein Praktikum bei einer Modelagentur beginnt. Nach wenigen Monaten folgt die Festanstellung. Sie weiss jetzt, dass sie nicht bloss einer Idee hinterhergeeilt ist, sondern dass sie ihre Berufung gefunden hat. Doch sie merkt auch, dass es Dinge in diesem Business gibt, die ihr überhaupt nicht gefallen.
Esther Kinnear-Derungs, unterdessen dreissig Jahre alt, steht im annabelle-Fotostudio in Zürich. Ihre langen roten Haare fallen glatt über die Schultern. Sie ist für ein paar Tage hier, um Termine wahrzunehmen und um ihre Familie zu besuchen. Sie steht kerzengerade, spricht schnell, und auch wenn in ihrem Schweizerdeutsch mittlerweile ein paar Lücken klaffen, die sie mit englischen Ausdrücken füllt, so hört man ihr ihre Rheintaler Herkunft nach wie vor an.
«Sie werden einfach an andere Agenturen ausgeliehen»
«Ich kam aus der Finanzbranche, aus einer Corporate World, in der jeder Arbeitsprozess genau durchdacht ist. In der Modebranche war das überhaupt nicht so», erinnert sie sich. Ungenauigkeiten bei der Administration, chaotische Kommunikation zwischen den Abteilungen – «alles war sehr Old School aufgebaut». Doch es sind nicht nur die strukturellen Probleme, die ihr missfallen. Sie stört sich vor allem auch an der Art, wie in Modelagenturen mit den jungen Frauen umgegangen wird und dass Agenten über deren Köpfe hinweg entscheiden. «Sie werden einfach an Shootings geschickt oder an andere Agenturen ausgeliehen. Sie werden nicht darin gefördert, über sich oder ihre Arbeit nachzudenken und Selbstverantwortung zu übernehmen.» Das führe dazu, sagt sie, dass viele dieser Mädchen ausgenutzt würden.
Die Vorwürfe, die im letzten Jahr im Zuge der #Me-Too-Debatte um Starfotografen wie Mario Testino oder Bruce Weber aufkamen, sind deutliche Indizien für sexistische und ausbeuterische Strukturen in der Modebranche. Gemäss Recherchen der «New York Times», sollen Testino und auch Weber gegenüber zahlreichen weiblichen und männlichen Models jahrelang ein übergriffiges Verhalten an den Tag gelegt haben. Esther Kinnear-Derungs sagt, sie habe solche Vorwürfe während ihrer sechsjährigen Tätigkeit als angestellte Bookerin selber nie gehört. «Das heisst aber nicht, dass nichts passiert ist. Ich denke, oft wurde einfach nicht darüber geredet.»
«Teilweise noch Kinder»
Zwischen vielen Agenturen und deren Models habe keine Atmosphäre der Transparenz geherrscht, sagt sie – «und keine Sicherheit». Vielen jungen Models sei überhaupt nicht bewusst gewesen, dass sie nicht einfach alles aushalten müssen, was mit ihnen geschieht. «Das sind teilweise noch Kinder, die vermeintlich professionell wirken wollen. Niemand hat ihnen beigebracht, dass es wichtig ist, sich zu wehren.» Und wem sollten sie sich auch anvertrauen, fragt Esther Kinnear-Derungs. «Die Agenten wollen nichts davon hören.» Auch das kannte sie von ihrer Zeit in der Finanzwelt ganz anders. «Wenn in einer Bank ein Übergriff passiert, gibt es Fachleute, an die man sich wenden kann. Aber im Modelbusiness gibt es kein Human-Resources-Team.»
Die Modelbookerin ist überzeugt, dass es auch anders gehen muss – und findet in der Person von Tara Le Roux, die sie bei ihrer Arbeit in London kennen lernt, die ideale Businesspartnerin. Die beiden gründen 2016 «Linden Staub»: eine Agentur, die sich den Werten Fairness und Ehrlichkeit verschreibt.
Frauen sollen nicht wie Waren gehandelt werden
Linden Staub ist eine reine sogenannte Mutteragentur, das ist der grösste Unterschied zu anderen Modelagenturen. Das heisst: Linden Staub sucht Models, nimmt sie unter Vertrag und managt ihre Karrieren. Sie platziert ihre Models zwar auch bei Agenturen in anderen regionalen Märkten, dies aber nur, wenn es für deren Karriere hilfreich ist. Zudem werden keine Models von anderen Agenturen gebucht – in erster Linie, weil Kinnear-Derungs und Le Roux nicht wollen, dass Frauen wie Waren gehandelt werden. Models würden teils wie auf dem Viehmarkt von Ort zu Ort verschoben – ohne Rücksicht auf die Interessen und Bedürfnisse der Betroffenen, vielmehr aus rein finanziellen Beweggründen. Viele Models würden zudem als Tauschgeschäft an fremde Agenturen vergeben, weil die Mutteragentur ein Model aus deren Portfolio im Auge habe.
«Das ist nichts anderes als Handel, der da betrieben wird – mit Teenagern, die oft nicht wissen, wie ihnen geschieht», betont Esther Kinnear-Derungs. Zudem stünden viele dieser Mädchen aufgrund ihrer Herkunft unter doppeltem Druck: «Es gibt einige Models, die mit ihrem Lohn ihre Familie zuhause ernähren. Die trauen sich nicht, Nein zu sagen, weil jeder Job zählt.» Für Kendall Jenner sei es einfach, im «Love Magazine» darüber zu philosophieren, dass man als Model nicht jede Schau laufen müsse: «Sie spürt nicht den sozialen Druck, mit dem Tausende dieser Mädchen zu kämpfen haben.»
Über allfällige Übergriffe reden
Deshalb liegt Esther Kinnear-Derungs die Ausbildung ihrer Models so am Herzen. «Wenn man 14 oder 15 Jahre alt ist und gescoutet wird, dann sollte die Mutteragentur einen genau informieren: Wie viel sollte mir als Model bezahlt werden? Warum muss ich zehn Testshoots machen? » Und zu dieser Form der Betreuung gehöre es eben auch, mit den Models über allfällige Übergriffe zu reden. «Wenn man am Set von einem Fotografen begrapscht wird, was kann man dann machen? Oder wenn man sich umziehen muss vor der Crew und sich nicht wohl dabei fühlt, mit wem kann man dann reden?» Das sind Fragen, die geklärt sein wollen. Bei Linden Staub werden alle Mädchen unter 16 Jahren von einer Mitarbeiterin oder von einem Elternteil an Shootings begleitet, ältere dürfen entscheiden, ob sie diese Begleitung noch wünschen.
Die beiden Jungunternehmerinnen schrecken auch nicht davor zurück, in einer Branche, in der permanent Grenzen überschritten werden, vermeintlich Altbewährtes in Frage zu stellen. So bezahlt Linden Staub die Models schon am Tag nach dem Shooting, weil Kinnear- Derungs und ihre Partnerin die Models, die selbstständig arbeiten, nicht monatelang auf ihr Geld warten lassen möchten. Und: Als erste Modelagentur überhaupt gab die Agentur im Frühjahr bekannt, dass sie eine Fur-Free-Policy durchsetzt. Die Models werden also nicht mehr für Shootings und Walks zur Verfügung gestellt, bei denen Pelz gezeigt wird. Dieser furchtlose Ansatz funktioniert. Die Agentur läuft gut. Medien berichten über sie, und ihre Models wurden schon für das Magazin «Paper» oder die britische «Vogue» gebucht, arbeiteten für Maison Margiela oder Gucci.
Heute, 15 Jahre nach dem Telefonat mit dem Schweizer Modelbooker, hat Esther Kinnear-Derungs ihr Ziel erreicht. Sie macht, was sie machen wollte – nur besser: «Weil ich die Dinge im Leben nie einfach so hingenommen habe, wie sie sind.»