Nett Work im Tourismus: Projekt Herzlichkeit für freundlichere Schweizer
- Text: Denise Jeitziner; Fotos: SXC
Die Schweiz – unfreundlichstes Land Europas? Da muss was dran sein, die Tourismushochburg Oberengadin würde sonst kaum Herzlichkeitskurse organisieren. annabelle hat mit den St. Moritzer Skilehrern Nettigkeiten geübt.
Der unfreundlichste Mensch an diesem Tag ist ein Kunde. Statt zwei Sandwichs hat ihm die Bedienung im St. Moritzer Bahnhofbuffet versehentlich nur eines eingepackt. «Zwei! Sandwichs!», fährt der Mann sie an. Sie entschuldigt sich und macht auf der Stelle das zweite Sandwich parat. «Mal richtig zuhören!», schnaubt der Mann, ergreift den Papiersack und rauscht davon. Seine rote Jacke outet ihn als Mitarbeiter der Rhätischen Bahn.
Einer wie er wäre Eva Reineckes Wunschkandidat. Sie betreut bei Engadin St. Moritz Tourismus das Projekt Herzlichkeit, das mit speziellen Workshops die Einheimischen netter machen will. «Bei den Hardskills, also bei Preis und Angebot, haben wir in der Schweiz nur wenig Spielraum. Unsere grosse Chance sind die Softskills, also die Herzlichkeit», sagt Eva Reinecke. Besonders weil Touristen die Gastfreundschaft in Umfragen deutlich stärker gewichten als Angebote wie Whirlpool oder Sonnenterrasse. Das haben aber längst nicht alle begriffen. Als das Tourismusbewertungsportal Zoover vor einem Jahr wissen wollte, welches europäische Land das gastfreundlichste sei, wählten 17 000 User aus 23 Ländern ganz klar Österreich zum Sieger; die Schweiz landete auf dem letzten Platz. Nur die Schweizer sahen sich selbst an der Spitze. Dabei muss man bloss die Augen öffnen: Die Unfreundlichkeit beginnt in der Grossstadt, wo lächelnde Menschen Glücksache sind, und sie endet in der Berghütte, wo einen die griesgrämige Wirtin mit verschränkten Armen empfängt.
Im Oberengadin soll das künftig nicht mehr passieren. Über 1500 Personen, das sind immerhin rund zehn Prozent der hiesigen Bevölkerung, haben den kostenlosen Herzlichkeitsworkshop bereits besucht, darunter Hoteliers, Serviceangestellte, Buschauffeure, Verkäufer und Ärztinnen – aber auch Private, die einfach etwas freundlicher sein wollen.
«Denken Sie an etwas Schönes!»
Heute Abend sind die St. Moritzer Skilehrer an der Reihe. Der Schulhaussaal mit dem modernen Kronleuchter ist gut besetzt; die Frauen und Männer tragen eine gesunde Gesichtsfarbe, schwarze Skihosen und sportliche Pullis, bei manchen steckt noch die Sonnenbrille im Haar. Ganz freiwillig sind sie nicht hier. Der Workshop zählt neuerdings zur Basisausbildung von The Red Legends, wie die Skilehrer hier heissen. Bevor es losgeht, spricht die Kursleiterin Liz Heer aus, was hier wohl einige denken: «Sind wir denn schon so weit, dass wir Freundlichkeit lernen müssen?» Offenbar ja. «Ein paar Tipps können zumindest nicht schaden Liz Heer ist eine der 13 Coachs, die sich ehrenamtlich für ein herzliches Engadin einsetzen; normalerweise trainiert sie Menschen mit Pferden. Als Erstes projiziert sie einen Mann auf die Leinwand, der sich sein Lächeln mit den Zeigfingern festhalten muss. Die vier Skilehrer aus der zweithintersten Reihe, Typ Gigi von Arosa, erkennen den Sinn der Sache noch nicht so ganz; ihre Arme bleiben verschränkt. Zweiter Versuch: «Es ist wie beim Reiten, dort muss man die Backen ebenfalls richtig anspannen und nicht nur so tun als ob», sagt Heer, «und zwar alle vier Backen.» Langsam taut die Runde auf.
«Nur weil Schweizer eher zurückhaltender sind als Österreicher, sind sie noch lange nicht unfreundlicher», findet Eva Reinecke. Problematisch seien eher die Killerphrasen, die viele fast schon reflexartig verwendeten: «Keine Ahnung» (Taxichauffeur zur Frau, die wissen möchte, wo die nächste Toilette ist); «Ich hab auch nur zwei Hände» (Kellnerin zum Gast, der bezahlen möchte); «Nein» (Sportartikelverkäufer zur Mutter, die nach einem Glas Wasser für ihre Tochter fragt). Sich Killerphrasen verkneifen heisst die Devise. Leicht gesagt, wenn Kunden sich so aufführen wie der Mann im Bahnhofbuffet. Was tun? Lächeln um jeden Preis, wie die Asiaten es uns vormachen? Die japanische Bahngesellschaft Keikyu zum Beispiel überprüft mit dem Computerprogramm Smile Scan, ob die Angestellten genügend freundlich dreinschauen. Wenn nicht, gibt es einen Ratschlag via Bildschirm: «Heben Sie Ihre Mundwinkel weiter an!» Die Engadiner setzen lieber auf Autosuggestion, statt sich von der üblen Laune der anderen anstecken zu lassen: «Denken Sie an etwas Schönes!»
Was denn überhaupt freundlich sei, will Liz Heer nun wissen. «Tür aufhalten», sagt einer der Graumelierten. «Den Gast darauf hinweisen, wenn er die Skischuhe verkehrt herum trägt», ein Zweiter; passiert scheinbar öfter als gedacht. «Ich offeriere meinen Gästen immer ein Ricola», ruft ein Skilehrer im Atomic-Shirt dazwischen. Grosses Gelächter. Was, so einfach geht das?
Das ABC der Freundlichkeit
Ein Freundlichkeitszertifikat gibt es bei Kursende nicht. Dafür erhält jeder einen kleinen Taschenspiegel zum gelegentlichen Check, ob das Gesicht noch freundlich wirkt. Drinnen steht das bündnerische Grusswort «Allegra», quasi als Spickzettel: A wie «Augenkontakt», L wie «Lächeln», L wie «Lass mich helfen», E wie «Erwartungen übertreffen», G wie «Gerne ja», R wie «Rückfragen» und A wie «Auf Wiedersehen und bis zum nächsten Mal».
Und? Fühlen sich The Red Legends nun freundlicher nach neunzig Kursminuten? «Vieles ist doch selbstverständlich», sagt eine Skilehrerin, und einer der Jungen mit Wollmütze bemerkt: «Wer nie gelernt hat, freundlich zu sein, dem bringt auch ein Workshop nichts.» Ziel erreicht, wird Eva Reinecke später sagen. Nichts sei schlimmer als Leute, die am Ende Dinge sagten wie: «War super! Ich hab total viel gelernt!» Da frage sie sich, wie die bloss durchs Leben gekommen seien, erzählt sie auf dem Weg zum nahe gelegenen Café. Drinnen brennt noch Licht, aber die Tür ist zu. «Wir haben schon geschlossen», sagt der Kellner. Aha, die Killerphrase, «… aber die Bar nebenan ist noch offen. Sie können gleich hier durchs Café gehen.» Er hat keinen Workshop nötig. «Unser Ziel ist es, die Leute zu sensibilisieren, wie wenig es braucht, herzlich zu sein, und wie viel es bringt», sagt Reinecke.
Man kanns ja mal versuchen: Auf dem Nachhauseweg nach Zürich einem Mann die Tür aufgehalten, drei Portiers zugelächelt, zwei Seniorinnen die Zugverbindungen herausgesucht und einem angeheiterten Zürcher das verlorene Handy gereicht. Alle haben freundlich zurückgelächelt. Wenn das die Touristen gesehen hätten.