annabelle-Chefredaktorin Silvia Binggeli über ein unbeliebtes Gefühl, das wir alle kennen und doch gerne anderen zuschieben.
Vor einigen Jahren konfrontierte mich eine Freundin mit einer überraschenden Ansage: Sie, ein paar Jahre älter als ich, war verfrüht in die Wechseljahre gekommen. Für mich blieb sie eine attraktive, smarte, witzige und charmante Frau, die ich für ihr Selbstbewusstsein bewunderte. Nun aber schien sie mit ihrer Situation derart zu hadern, dass sie mir kurzerhand und indiskutabel erklärte: Ich kann dich in nächster Zeit nicht sehen, du bist jünger als ich und bekommst mehr Aufmerksamkeit von Männern. Das ertrage ich im Moment nicht.
Ich war sprachlos, verletzt und sauer. Ich fand ihre Reaktion übertrieben und ziemlich hysterisch. Mittlerweile denke ich: Sie war auch saustark und ehrlich.
Neid ist als Gefühl so unbeliebt wie Klettergeflecht an schönen Blumen im Garten. «Ach, du bist ja nur neidisch!» Mir fällt keine positive Formulierung für empfundenen Neid ein. Das Gefühl signalisiert, dass man anderen missgönnt, was man selber nicht hat, dass man unzufrieden und undankbar ist. Und wer möchte das schon offen sein? Neid schiebt man gerne anderen zu – auch als bequeme Erklärung für eine unliebsame Reaktion des Gegenübers; sonst muss man sich am Ende noch mit Kritik an der eigenen Person auseinandersetzen, die möglicherweise zutrifft.
Meine Kollegin Yvonne Eisenring hat sich für diese Ausgabe mit Neid befasst. Eigentlich mit dem Neid anderer. Bis sie merkte, dass sie selber auch neidisch ist – wie wir in Wahrheit natürlich alle. Neid ist in seiner unschönsten Form der Schatten von Enttäuschung, Schmerz und Unsicherheit: Neid auf die Mitstreiterin, die den begehrten Job wegschnappt, oder auf die Nachbarin, die auch nach dem anstrengendsten Tag mit den Kindern noch bezaubernd lächelt. Unkontrolliert kann Neid gefährlich viel Energie auffressen. Er kann aber auch kokett auf eigene Unzulänglichkeiten hinweisen und zu Komplimenten beflügeln: Etwa an den Kollegen, der im Nu die tollsten Möbel zusammenbaut, während ich selber im Dauerkrieg mit der Bohrmaschine stehe.
Ich hoffe, dass ich niemals aus Neid eine Freundschaft aufs Spiel setze. Aber ich bewundere den Mut, das Gefühl beim Namen zu nennen. Unsere Autorin hat beschlossen, das ungeliebte Gefühl zu entmachten, und schreibt in ihrer Geschichte Briefe an jene, die sie beneidet. An Silvia etwa, die mit den tollen Locken … Ob sie damit mich meint? Ich habe Yvonne noch nicht gefragt. Aber sollte sie eine andere meinen, wäre ich ein wenig neidisch.