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Nachhaltigkeit: Ist eine Welt ohne Abfallberge möglich?

Zeitgeist

Nachhaltigkeit: Ist eine Welt ohne Abfallberge möglich?

Können wir den Planeten retten, wenn wir so weiterkonsumieren? Nur mit radikal neuen Produkten, sagt Chemieprofessor und Eco-Design-Pionier Michael Braungart.

Stühle, Autos, Computer, Kleider – fast alles, was wir produzieren, ist dafür geschaffen, irgendwann als Abfall zu enden. 700 Kilogramm fallen jährlich in Schweizer Haushalten pro Person an, mehr als in den meisten Ländern weltweit. Was nicht verwundert, Abfall wächst parallel zur Wirtschaft. Zwar wird in der Schweiz rund die Hälfte recycelt, den grössten Teil davon machen aber Glas, PET oder Papier aus. Die andere Hälfte wird in die Kehrichtverbrennung gefahren, ein kleiner Teil landet auf Deponien.

Kommt dazu: Was in unseren Güselsäcken und in den Sammelstellencontainern landet, stellt nur ein Körnchen des weltweiten Abfallvolumens dar: Ein Produkt enthält im Durchschnitt nur fünf Prozent der Rohstoffe, die für seine Herstellung und Auslieferung benötigt werden. Der Rest? Abfall und Abgase. Wir produzieren, konsumieren, entsorgen und gleichzeitig brechen darunter die Rohstoffe weg, werden knapp und teuer: ein Einbahnstrassenkonzept auf tönernen Füssen.

Die einzigen Lebewesen, die Abfall verursachen

Oder – um es in den markigen Worten von Michael Braungart, Professor für Chemie und Eco-Design und eine der überraschendsten Stimmen im Nachhaltigkeitsdiskurs, zu sagen: «So dumm kann man eigentlich gar nicht sein.» Er sagt es gleich als Erstes im Zoom-Interview. Seine Haare sind zerzaust, er trägt ein weisses Hemd, ein graues Sakko. «Wir sind das einzige Lebewesen, das Abfall verursacht.» Er lacht kurz auf. Als wäre er noch immer erstaunt, obwohl er diesen Satz seit zwei Jahrzehnten ständig wiederholt: in Vorlesungssälen, in Talkshows, vor Industrievertreterinnen und Politikern.

Früher Greenpeace-Aktivist und Mitbegründer eines Kollektivs, aus dem später die Grünen Deutschland entstanden, merkte Michael Braungart bald, dass es ihm nicht reichte, Probleme anzuprangern, er wollte Lösungen. Einen ganzen Lösungsschlüssel fand er einige Jahre später an einem lauen Sommerabend an einer Dachterrassenparty in New York. Er plauderte lang mit dem amerikanischen Designer und Architekten Willam McDonough und als der Gestank einer nahegelegenen Kehrichtverbrennungsanlage herüberwehte, fragten sie sich: Was wäre eigentlich, wenn man alle Produkte und Systeme so designen würde, dass sie gar keinen Abfall mehr generieren?

«Cradle to Cradle»

Daraus entstand letztlich die Idee von «Cradle to Cradle», übersetzt etwa «vom Ursprung zum Ursprung». Ein Ansatz für eine umfassende Kreislaufwirtschaft, den Braungart und McDonough definierten und der heute an allen Designschulen gelehrt wird. Mit seiner Firma Epea Hamburg begleiten Braungart und sein Team Firmen beim Neudesign ihrer Produkte. Einen Ableger gibt es auch in der Schweiz. Hunderte Waren sind inzwischen «Cradle to Cradle»-zertifiziert. Die Kriterien: erneuerbare Energien, Materialgesundheit, Materialwiederverwertung, Wassermanagement und soziale Verantwortung.

Es geht hier um mehr, als nur Abfall zu vermeiden. Es geht, wie der schnell und selbstvergessen redende Michael Braungart im Interview immer wieder betont, «um eine neue Art zu denken».

annabelle: Waren werden heute produziert, genutzt und weggeworfen. Warum ist das ein Problem?
Michael Braungart: Weil wir damit nicht nützlich sind für die Welt. Die von uns erschaffene Industrie ist erst seit einem knappen Jahrhundert in vollem Gang. Und sie hat in fast allen Ökosystemen zu einer Verschlechterung geführt. Ganz im Gegensatz zu den Ameisen, die uns zahlenmässig weit überlegen sind. Seit Millionen von Jahren nährt das, was sie tun, Pflanzen, Tiere und Boden. Im Gegensatz zu ihnen und dem Rest der Natur haben wir Menschen ein Designproblem.

Diesem haben sie mit «Cradle to Cradle», kurz C2C, einen Ansatz für eine umfassende Kreislaufwirtschaft entgegengestellt. Abfall wäre damit Geschichte.
Ja, weil Abfall gar nicht mehr existiert – oder zu Nahrung wird. Das beste Symbol für unsere Idee ist der blühende Kirschbaum. So viele Blüten, Formen und Farben! Vielleicht wird daraus ein neuer Baum wachsen. Aber auch wenn nicht, ist seine Arbeit nicht wertlos. Die Blüten und Früchte fallen zu Boden, zersetzen sich, ernähren zahlreiche Organismen und Mikroorganismen, verbessern den Boden. C2C legt unserer Konsumwelt diesen Ansatz zugrunde. Es ist ja im Grunde total unlogisch, dass Zahnpastatuben, Shampooflaschen oder Joghurtbecher ihren Inhalt um Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte überdauerten, würden wir sie nicht verbrennen.

Wie werden aus Verpackungen biologische Nährstoffe?
Indem man sie von allen potenziell gefährlichen Materialien und Chemikalien befreit. Miteinbezogen werden müssen auch alle Substanzen, die sie während der Herstellung und der Benutzung freisetzen, wie etwa Abgase.

Sie haben nach den Grundsätzen von C2C unter anderem mit einem Schweizer Textilunternehmen kompostierbare Polsterbezüge designt und mit einem italienischen Unternehmen eine Glaceverpackung hergestellt. Darauf stand: Please litter.
Ja, wir haben eine Glacehülle entwickelt, die sich in Flüssigkeit verwandelt, wenn sie die Minustemperaturen der Kühltruhe verlässt. Darin steckten zudem Samen von seltenen Pflanzen. Wir entwickelten sie mit einer italienischen Firma, weil mir aufgefallen war, wie lustvoll in Italien Abfall aus dem Autofenster geworfen wird. Wir wollten die Hülle gemeinsam mit Unilever weiterentwickeln. Aber die Idee funktioniert ja nur in warmen Ländern, darum hat das dann nicht geklappt.

Welche anderen Produkte sind heute auf dem Markt?
Wir haben etwa mit dem Hersteller Auping ein Verfahren entwickelt, das die verklebten Komponenten von Matratzen trennt, wodurch diese für neue Schlafunterlagen reycelt werden können. Bisher war die Wiederverwertung kaum möglich, Matratzen gehören heute weltweit zum grössten Verursacher von Deponieabfall. Ein schönes Beispiel ist auch die niederländische Firma Black Bear, die aus alten Reifen Carbon Black zurückgewinnt. Wir haben auch kreislauffähige Plastikverpackungen entwickelt etwa mit Rittersport. Und wir haben mit Textilfirmen zusammengearbeitet, unter anderem mit dem Wäschehersteller Wolford. Die Teile der C2C-Linie können entweder auseinandergenommen und wiederverwertet oder kompostiert werden.

Nicht alle Materialien können so leicht an die Natur zurückgegeben werden, weil der Mensch sie schon intensiv verändert hat.
Ja, bei C2C zirkulieren auch sie, im zweiten Kreislauf, also in jenem der Industrie. Wir sprechen dabei von der technischen Masse – als Gegenstück zur Biomasse. Die Firmen könnten den Menschen zum Beispiel einfach 10 000 Waschgänge verkaufen statt einer ganzen Maschine. Diese ginge am Ende wieder zurück in den technischen Kreislauf. Auch ein robustes Computergehäuse etwa könnte darin fortwährend ein Computergehäuse bleiben. Anstatt dass wir es wie heute nach Gebrauch zur Schallschutzwand oder zum Blumentopf downcyceln.

Sie sprechen oft von Downcycling, wenn es um die heutigen Wiederverwertungsmethoden geht.
Weil es die Regel ist. Downcycling bedeutet, dass das Material nach der Wiederverwertung minderwertiger ist als vorher. Zum Beispiel – PET-Flaschen ausgenommen – beim Kunstsoff: Dort werden verschiedene Stoffe vermischt und der Kunststoff zu einer Masse von geringerer Qualität verarbeitet, aus dem dann etwa eine Parkbank entsteht. Oder der Stahl von alten Autos; er wird zusammen mit Kupfer und Farbbeschichtungen eingeschmolzen und verfügt danach nicht mehr über die hochwertigen Eigenschaften, um ihn bei einem Neuwagen einzusetzen.

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«Ich schütze ja mein Kind auch nicht, wenn ich es nur fünf Mal statt zehn Mal schlage»

Neben Ressourcenknappheit, Artenschwund und Verschmutzung drängt uns insbesondere die Klimaerwärmung zu Veränderungen. Welche Lösungen kann «Cradle to Cradle» für die zentralen Klimaprobleme bieten, wie etwa den weltweit steigenden Fleischkonsum oder das Fliegen?
Ich überlege laut: Beim Fliegen vielleicht, indem wir CO2 wieder aus der Luft zurückholen und speichern? So wie es die Schweizer Firma Climeworks und andere in Island bereits tun. Man könnte aus dem gespeicherten Kohlenstoff Lösungsmittel, Kunststoffe oder Treibstoffe herstellen. Wenn wir es schaffen, CO2 und die anderen Treibhausgase in einem Kreislauf zu halten, würde Fliegen seine Problematik verlieren.

Heute unvorstellbar.
Wissen Sie, ich bin der festen Überzeugung, dass wir vom Guten ausgehen müssen. Das ist ein Kern von «Cradle to Cradle». Darum bin ich übrigens so froh, dass ich mit annabelle über dieses Thema reden kann.

Das freut uns. Weshalb sind Sie froh?
Ich habe Ihr Magazin vor unserem Interview angeschaut: Es ist menschenfreundlich. Das ist genau das, was wir brauchen. Die ganze Diskussion läuft momentan über den Verzicht. Dem Menschen wird eigentlich ständig und voller moralischer Inbrunst zugerufen: «Alles, was du tust, ist schlecht. Am besten wärst du gar nicht da.»

Und die Menschen verschliessen sich.
Ja, die Moral ist dafür kein sinnvolles Konzept. Und auch nicht verlässlich, weil sie im Stress verduftet. So gewinnen Spurwechsler auf der Autobahn laut einer niederländischen Studie für sich selber Zeit, verursachen allerdings 200-mal mehr Verzögerung für andere. Ist man zu spät dran, dann ist man in diesem Moment 200-mal wichtiger als alle anderen. Und ich sage Ihnen: Obwohl ich das weiss, verhalte mich ja selber so, wenn ich im Stress bin.

Sie sind auch kein Freund des Konzepts der Ökoeffizienz. Also wenn man versucht, Produkte so zu gestalten, dass sich ihr Umwelteinfluss verkleinert. So wie eigentlich fast alle aktuellen Nachhaltigkeitsbemühungen.
Ja, sehen Sie: Es reicht schlicht nicht, ein bisschen weniger schlecht zu sein. Dafür sind wir zu viele Menschen und die Zeit ist zu knapp. Inzwischen sind die firmeneigenen Nachhaltigkeitsexperten meine grössten Feinde. Die wollen ein paar Elektroautos anschliessen und damit hat sichs.

Irgendwo muss man anfangen.
Aber Ökoeffizienz macht das alte System lediglich langsamer zerstörerisch! Ich schütze ja mein Kind auch nicht, wenn ich es nur fünf Mal statt zehn Mal schlage. Ich denke, dass Ökoeffizienz in gewissen Fällen sogar schädlicher ist, weil ihre Wirkung subtiler ist. Vielleicht hätte ein Ökosystem nach einem schnellen Zusammenbruch, der einige Nischen intakt lässt, eine grössere Chance zu gesunden, als bei einer langsamen und – eben – effizienten Zerstörung des Ganzen. Wir brauchen radikalere Ansätze.

Aber ganz ohne Verzichtsbemühungen wird es nicht gehen. Oder wie soll man zum Beispiel Rindfleisch durchwegs nach C2C-Kriterien produzieren?
Bei C2C geht man anders an das Thema heran. Am Anfang steht die Frage: Was ist gesundes Essen? Wenn ich Rindfleisch verspeise, nehme ich nicht mal zwanzig Prozent des Rindfleisch-Eiweisses richtig auf. Esse ich hingegen Algen, kann mein Körper achtzig Prozent verwerten. Algen kann man an einer Häuserfassade anbauen und damit auf einem Hektar so viel Eiweiss produzieren, wie der gesamte Mais liefert, der auf achtzig Hektaren angebaut wurde. Man müsste Rindfleisch nicht komplett verbannen. Es wäre einfach noch die Ausnahme auf dem Speiseplan, aber die muss es sowieso werden.

Wenn wir den Fleischkonsum derart minimieren könnten, würde sich unser ökologischer Fussabdruck massiv verkleinern.
Wissen Sie, ich halte wenig von diesem Gerede um den Fussabdruck. Wenn man entlang der Limmat oder des Bodensees läuft, wird jeder Abdruck, den ein Fuss hinterlässt, ein kleiner Retentionsraum. Er verhindert also Überschwemmungen. Ein Fussabdruck ist da etwas Gutes. Mein Ziel: ein grosser Fussabdruck, der zu einem komplexen Sumpfgebiet wird.

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