annabelle-Reporterin Barbara Achermann ist der Meinung, dass Fleiss und Disziplin in der Erziehung überschätzt werden.
Es gibt diese grossartige Geschichte von Astrid Lindgren: «Karlsson vom Dach». Karlsson ist ein Chaos-Kid, er lässt Spielzeuge explodieren, klaut Essen und lebt am gefährlichsten, aber schönsten Ort der Stadt. Er ist ein Querulant – aber auch ein Held. So weit die Fiktion. In Wahrheit gibt es nichts Anstrengenderes als ein Kind, das sich an keine Regeln hält. Sässe Karlsson neben einem im Zugabteil, man würde in den nächsten Wagen flüchten. Und in der Schule hockte er vermutlich meistens vor der Tür.
Wir bändigen die Karlssons dieser Welt, indem wir auf Regeln bestehen. Das ist wichtig fürs Zusammenleben und für ein strukturiertes Lernen – aber man kann es auch übertreiben. In der Schweiz wird das Betragen bereits im Kindergarten bewertet, in der Schule kommt es ins Zeugnis und zählt nun in Zürich sogar als Promotionsnote für den Übertritt ins Gymnasium. Diese neue Obsession mit der Disziplin hat mehrere Ursachen: Sie rührt daher, dass einzelne Eltern ihre Kinder überhaupt nicht erziehen. Vor allem aber ist sie eine Reaktion auf die Arbeitswelt, die immer mehr Fleiss und Anpassung fordert.
Psychologieprofessor Adam Grant plädiert für mehr Chaos. Er bedauert, dass Kreativität im heutigen Erziehungs- und Schulsystem kaum honoriert wird und Kinder deshalb häufig verlernen, unkonventionell zu denken. «Je kreativer ein Kind ist, desto kleiner ist die Chance, dass es das Lieblingskind des Lehrers wird», schreibt er und zitiert dazu mehrere Studien. Grant ist der jüngste und beliebteste Professor der US-Eliteuniversität Wharton School of Business, Vater dreier Kinder und selber so was wie ein Meister des Unorthodoxen. Bevor er seine Unikarriere einschlug, arbeitete er als professioneller Zauberer.
Fleiss ist für ihn eine verdächtige Tugend, gerade bei besonders begabten Kindern. Denn anstatt eigene Ideen zu entwickeln, streben diese Kinder die Bestätigung der Eltern und die Bewunderung der Lehrer an. Er hält nichts von Malcom Gladwells 10 000-Stunden-Regel, die besagt, dass Erfolg davon abhängt, wie lange man übt. Grant ist überzeugt: «Übung macht perfekt, aber es entsteht daraus nichts Neues.» Er erwähnt Studien, die zum Schluss kommen, dass allzu exzessives Üben gar zu unflexiblem Denken führt. Grant promotet Fun statt Drill, Breite statt Tiefe. Denn die bemerkenswertesten Innovationen kommen nicht von einseitigen Genies, sondern von Menschen, die sich für verschiedene Dinge leidenschaftlich interessieren. Im Vergleich zu herkömmlichen Wissenschaftern betätigt sich ein Nobelpreisträger viel häufiger kreativ – schauspielert oder tanzt, schreibt, malt oder spielt ein Instrument. Albert Einstein sagte einst, er habe seine Relativitätstheorie aus einer Intuition heraus gefunden, deren treibende Kraft die Musik war.
Was können wir also tun, damit unsere Kinder kreativ bleiben? Grant hat einen pragmatischen Rat: «Back off!» Man solle sich zurückziehen, dem Kind Freiraum lassen, es zur Selbstständigkeit ermuntern. Regeln sind unerlässlich, aber sie werden überbewertet, ja können gar schaden. Viel wichtiger sei es, den Kindern Werte zu vermitteln.
Astrid Lindgrens Helden haben einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit, sie sind hilfsbereit und grosszügig, sie brechen Regeln, um festgefahrene Strukturen zu verändern. Und so mag eine Zugfahrt mit Karlsson zwar anstrengend sein, aber auch unvergesslich. Unsere Gesellschaft braucht Rebellen und Querdenker. Gerade heute. Denn, so schreibt Grant in seinem Buch «Originals»: Nonkonformisten können die Welt verändern.
Barbara Achermann ist annabelle-Redaktorin und chaoserprobte Mutter von zwei Kindern