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Mut zur Peinlichkeit

Mut zur Peinlichkeit

  • Text: Monika Bütler

Wirtschaftsprofessorin Monika Bütler über Peinliches im Alltag – und warum das Schräge manchmal eben genau das Richtige ist.

Vor Jahren nahm meine Schwester unsere inzwischen leider viel zu früh verstorbene Mutter mit ins Kino, in den Film «Rain Man». Dort gibt es eine Szene, in welcher der autistische Rain Man (Dustin Hoffman) seinen Bruder (Tom Cruise) beim Liebesakt beobachtet. Das Ganze spielt sich zwar unter der Bettdecke ab, aber die Geräusche sind eindeutig. Meine Mutter sagte zu meiner Schwester – vor Aufregung in doppelter Lautstärke: «Jesses Gott, mached ihr au soo luut?»

Das war natürlich peinlich. Peinlich, wie Mütter eben sind.

Nur den Babys sind ihre Eltern noch nicht peinlich. Schon in der Primarschule findet man jedoch, die Mutter rede zu viel und Vaters Mütze sei dermassen daneben, dass man Abstand halten muss. Bald schlagen die Kinder zurück und kleiden und frisieren sich so, dass es die Eltern kaum aushalten.

Man schämt sich nur für Menschen, die einem lieb und teuer sind. Läuft mein Nachbar im Pyjama auf die Post, ist mir das egal. Tut mein Mann dasselbe – wie kürzlich angedroht –, dann bereitet mir das doch etwas Bauchweh.

Dass es erst eine Beziehung braucht, damit uns etwas peinlich ist, ist wohl auch der Grund dafür, dass wir uns mit den Peinlichkeiten in der Familie teilweise abfinden. Vielleicht merken wir, dass es auch die Peinlichkeiten sind, die eine Persönlichkeit ausmachen.

Bei meiner Mutter war dies der Fall, die kleineren Peinlichkeiten trugen massgeblich zu ihrem Charme bei – auch wenn sie alles tat, um sie zu vermeiden. Ihr aufgeregter Zwischenruf im Kino beschäftigte sie noch wochenlang.

Dabei schaden einem peinliche Begebenheiten oft gar nicht. Vor einiger Zeit sprang ich kurzfristig für eine erkrankte Arbeitskollegin ein und leitete das Schlusspanel eines hochkarätigen Anlasses. Ich wollte mir keine Blösse geben, arbeitete die Nacht durch, notierte alles – ausser die Namen der beiden prominentesten Gäste, der damaligen Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf und des Bündner Regierungsrats Martin Schmid. Wie sollte ich diese Namen vergessen können? In der Hitze des Gefechts allerdings passierte mir genau dies, und ich begrüsste Frau Bundesrätin Schlumpf und Herrn Regierungsrat … Martin Schmid nahm es sportlich und sagte danach lachend, er sei von nun an halt einfach der Herr Regierungsrat. Einige Zuhörer meinten gar, ich hätte die beiden absichtlich so knapp begrüsst, um die Stimmung aufzulockern.

Ein schönes Beispiel für gekonnt peinliche Auftritte ist die 2012 verstorbene Elinor Ostrom, die einzige Frau, die je den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten hat. An die Preisverleihung erschien sie in einem unförmigen Kleid, ein Kamm war offenbar nicht aufzutreiben gewesen. Bei einem Besuch in St. Gallen vergass sie überall Sachen, ging selber immer wieder verloren und lachte beim Nachtessen im noblen Restau- rant so laut – vor allem über sich selber –, dass uns Tischnachbarn böse Blicke zuwarfen. Ihren Erfolg hatte Elinor Ostrom massgeblich ihrem Mut zu verdanken, unkonventionelle Wege zu gehen und sich auch auf Schräges einzulassen. So interessierte es sie, wie Men- schen gemeinsam genutzte Ressourcen wie Alpen, Wälder und Gewässer bewirtschaften, ohne diese zu schädigen. Um dies zu erforschen, bereiste sie entlegene Dörfer wie Törbel im Wallis, für die sich sonst kaum ein Wissenschafter interessiert. Sie war gerade deshalb nicht peinlich, weil ihr selber nichts peinlich war.

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