Musik für Leben und Tod
- Text: Claudia Senn; Bild: GettyImages
Kürzlich feierte mein Vater seinen 80. Geburtstag. Das Fest fand in einem alten Weingut im Thurgau statt, war den Umständen entsprechend feuchtfröhlich und auch sonst rundum gelungen. Doch am allerschönsten war überraschenderweise die Fahrt. Vier meiner sehr coolen und etwa dreissig Jahre jüngeren Cousins und Cousinen hatten sich anerboten, mich im Auto mitzunehmen, während ihre Eltern mit dem Zug vorausreisten. Mit einiger Verspätung tauchten sie auch tatsächlich auf, allesamt schwer übernächtigt und verkatert, die vorangegangene Nacht musste tough gewesen sein. Kaum waren wir losgefahren, kramte die Älteste in einem Stapel CDs, der anscheinend zum Inventar der Familienkutsche gehörte (CDs! Ich hatte gar nicht gewusst, dass die ausserhalb von Pestalozzi-Bibliotheken noch existieren!), und bald darauf sangen wir alle lauthals und falsch zu den Hits von Robbie Williams mit. Eine sensationelle WG-Party-Stimmung kam auf. Eigentlich kenne ich meine Cousins kaum, aber ich fühlte mich sofort mit ihnen verbunden, auf eine Art, die ganz ohne Worte auskommt. Vielleicht sollte man öfter zusammen singen. Vielleicht sollten Donald Trump und Wladimir Putin erst einmal «Summertime» oder «Kalinka» anstimmen, bevor sie über Handelssanktionen oder Joe Biden sprechen. Die Welt wäre eine andere.
Auf Robbie folgte Lou Reed, dann die amerikanische Sängerin Lhasa de Sela und schliesslich Patent Ochsners alte Schmachtfetzen aus der Blütezeit der 90er-Jahre. Ich fühlte mich wie damals, als mein Leben noch vor mir lag wie eine grosse weisse Landkarte. «Wie kommt es, dass ihr dieselbe Musik hört wie ich, als ich jung war?», fragte ich Moritz, den Zweitältesten. Der schaute mich bloss an, als habe ich gerade eine sehr seltsame Frage gestellt. «Es ist eben einfach gute Musik», sagte er.
Wenn wir nächstes Mal zusammen irgendwohin fahren, bringe ich ihnen das neue Album von Belle and Sebastian mit, «Days Of The Bagnold Summer». Es ist eigentlich ein Film-Soundtrack, bloss wird man den Film frühestens im nächsten Jahr zu sehen bekommen. «Days Of The Bagnold Summer» könnte ihnen gefallen, weil es zwar brandneu ist, aber irgendwie auch auf eine zeitlose Weise alt wirkt, immerhin gibt es die schottische Indie-Band, die einst aus einem Arbeitslosenprojekt entstanden ist, nun auch schon seit 1996. Das Album steckt voller Ohrwürmer, zu denen man fantastisch mitsingen kann, ganz egal, wie falsch und laut. Und es ist völlig unmöglich, dabei schlecht drauf zu sein, weil «Days of The Bagnold Summer» so stimmungsaufhellend wirkt wie ein Aufenthalt in einer Welpenspielgruppe, selbst in verkatertem Zustand. Um es mit den Worten von Moritz zu sagen, es ist eben einfach gute Musik.
Auf dem Rückweg, wenn wir alle müde und zugedröhnt sind von den guten Weinen und dem familiären Trubel, ist es Zeit für etwas Besinnlicheres: «Ghosteen», die neue von Nick Cave. Vier Jahre ist es nun her, dass Caves 15-jähriger Sohn im Drogenrausch von einer Klippe in den Tod stürzte. Seither hat der ehemalige Junkie Nick Cave jeglichen Zynismus abgelegt wie einen zu klein gewordenen Anzug und seine Trauer offenherzig mit seinen Fans geteilt, weil er sich dadurch weniger alleine fühlte. In seinem Blog «The Red Hand Files» kann ihn jeder alles fragen, und Caves Antworten sind tröstlicher und berührender als die manches Seelenklempners. Auch das neue Album «Ghostteen» erinnert mit hypnotischen Melodien und beschwörenden Texten an den verlorenen Sohn. Kein Rumpelrock wie früher, dafür Streicher und Klavier, Synthesizer und Chöre, die Cave zu Liedern formt, so zart und flüchtig wie die Geister und Schatten im Jenseits. Auch die schlimmsten Schicksalsschläge lassen sich in grosse Kunst verwandeln. Solange uns das jemand so grossartig vorführt wie Nick Cave, gibt es Hoffnung.
Belle and Sebastian: «Days of The Bagnold Summer» auf Youtube
Nick Cave and the Bad Seeds: «Ghosteen» auf Youtube
Digital schon jetzt erhältlich, ab dem 8. November auch auf CD und Vinyl