Werbung
Moshtari Hilal schreibt über Hässlichkeit: «Warum müssen wir schön sein, um geliebt zu werden?»

Zeitgeist

Moshtari Hilal schreibt über Hässlichkeit: «Warum müssen wir schön sein, um geliebt zu werden?»

Künstlerin und Autorin Moshtari Hilal untersucht in ihrem Buch «Hässlichkeit», was auf der anderen Seite von Schönheit liegt. Im Interview sprachen wir mit ihr über Rassentheorie bei TikTok und die Frage, warum Hässlichkeit intimer als Schönheit ist.

annabelle: Frau Hilal, warum haben Sie ein Buch über Hässlichkeit geschrieben?
Moshtari Hilal: Angefangen hat es damit, dass ich vor einigen Jahren Selbstporträts gezeichnet habe, um mich mit meinem eigenen Gesicht auseinanderzusetzen. Ich wollte mit der Kunst die Dysmorphie, die ich meinem eigenen Spiegelbild gegenüber empfand, aufbrechen, indem ich nicht versuchte, hübsch oder attraktiv auszusehen, sondern einen anderen Zugang zu meinem Gesicht zu finden. Diese Selbstporträts waren der Anfang. In einem zweiten Schritt befasste ich mich als bildende Künstlerin lange mit gesellschaftlichen Sehgewohnheiten und Schönheitsidealen– und irgendwann bin ich bei Hässlichkeit gelandet.

Was hat Sie an dem Thema interessiert?
Auf der anderen Seite unserer Vorstellungen von Normalität und Schönheit liegt Hässlichkeit. Mich hat genau diese andere Seite interessiert: Wer wird kategorisch ausgeschlossen? Wenn wir versuchen, nicht hässlich zu sein, wovon und von wem wollen wir uns abgrenzen? Eine der Fragen im Buch ist deshalb auch, warum wir solche Angst vor Hässlichkeit haben.

Haben Sie eine Antwort darauf gefunden?
Das Themenfeld Hässlichkeit ist sehr breit. Ich orientiere mich daher an drei Gefühlen, die für mich damit besonders zusammenhängen: Angst, Scham und Hass. Letzteres ist im deutschen Begriff sogar enthalten, hässlich bedeutet hassenswert – ich stellte mir also die Frage: Wen hassen wir? Welche Körper hassen wir und warum? Für mich hängen die negativen Assoziationen mit bestimmten Gesichtern und Körpern zusammen mit Abwertungs-, Ausgrenzungs- und sogar Vernichtungssystemen der Moderne. Ich schaue mir die historischen Kontexte an, in denen wir lernten, andere zu hassen oder vor ihnen aufgrund ihres Äusseren Angst zu haben.

Aber Angst wovor?
Ich sehe da vor allem die Angst vor der Ausgrenzung, der Benachteiligung und dem Kontrollverlust. Im Zusammenhang mit Alter, Krankheit oder Tod haben wir beispielsweise Angst, die Kontrolle über den eigenen Körper zu verlieren – von anderen abhängig zu werden und der Gnade und der Laune anderer Menschen ausgeliefert zu sein. Das sind oft auch Ängste, die mit Pflege und Behinderung durch andere Menschen zusammenhängen. Körper, die uns an diese Abhängigkeit, Verletzlichkeit und letztlich eigene Sterblichkeit erinnern, machen uns Angst. Deshalb tendieren wir auch als Gesellschaft, sie zu ignorieren oder zu meiden.

Werbung

«Blickt man auf die Ursprünge der Nasenchirurgie, überlegt man sich vielleicht zweimal, ob man tatsächlich seine Nase operieren lassen möchte»

In «Hässlichkeit» erzählen Sie viele persönliche Anekdoten und arbeiten Ihre eigenen Unsicherheiten sowie Ihre eigene Geschichte auf. Sie schreiben an einer Stelle etwa: «Ich war davon überzeugt, dass mein Vater dachte, seine Töchter seien hässlich. Er liebte seine hässlichen Töchter, aber erinnerte sie immer wieder daran, wie schwer es ihm fiel, über ihre langen Gesichter und langen Nasen hinwegzusehen.»
Auch in meiner künstlerischen Arbeit fange ich meine eigenen Gefühle ein und zoome aus ihnen immer weiter raus in den gesellschaftspolitischen Kontext. Ich bin davon überzeugt, dass keine persönliche Erfahrung in einem Vakuum stattfindet – sondern in einem System, in einer bestimmten Ökonomie, in einer Tradition, in einer bestimmten Erziehung und Sozialisierung. Und es kann uns auch helfen, Scham und Angst bis zu einem bestimmten Punkt zu überwinden, wenn wir nicht nur auf uns selbst schauen, sondern erkennen, dass die Ursprünge ausserhalb unserer Person liegen. Blickt man etwa auf die Ursprünge der Nasenchirurgie, überlegt man sich vielleicht zweimal, ob man tatsächlich seine Nase operieren lassen und ob man sie wirklich hassen möchte.

Den jüdischen Chirurgen Jacques Joseph, der als Begründer der modernen plastischen Chirurgie in den Dreissigerjahren «allen helfen wollte, die an jüdisch wirkenden Nasen zu leiden hatten», thematisieren Sie auch im Buch. Genauso wie die feministische Notwendigkeit, die Hässlichkeit oder «menschliche Kuriositäten» in Zirkusshows umzudenken. Was hat Sie bei Ihrer Recherche zum historischen Kontext der Hässlichkeit am meisten überrascht?
Dass die Ursprünge doch so offensichtlich in der Dehumanisierung und im Faschismus zu finden sind. Es hat mich überrascht, wie einfach es war, diese Verbindung herzustellen. Geht man zurück, so findet man Texte aus dem 19. und 20. Jahrhundert von Männern aus Europa und den USA, die massregeln, wer dazugehört und wer nicht, ausgehend von ihrem selbsternannten Weisssein. Man erkennt, dass Schönheit und Hässlichkeit mit der Kontrolle eines modernen Menschenbilds zusammenhängen. Wenn wir als Gesellschaft erlauben, dass Menschen durch äusserliche Merkmale abgewertet werden, dann ist es nicht mehr weit, bis wir diese auch systematisch ausgrenzen, benachteiligen, einsperren, sterilisieren oder vernichten. Viele dieser Gedanken von Rassentheoretikern begegnen uns heute auch wieder auf TikTok.

Was meinen Sie?
Ich habe für das Buch viel auf TikTok recherchiert, um mir einen Eindruck vom gegenwärtigen Umgang mit Schönheit, Hässlichkeit und Selbstoptimierung zu verschaffen. Ich fand Videos von Menschen, die ihre Nasenwinkel oder Stirn mit dem Daumen oder Filter bemessen, wie es Rassentheoretiker zuvor vorgemacht haben. Sie sind sich der Tradition dieser Massstäbe gar nicht bewusst und sprechen stattdessen von Harmonie oder Symmetrie, als wären das natürliche und neutrale Ideen im Zusammenhang mit dem menschlichen Gesicht. Hinzu kommen etwa Reaktionsvideos von Chirurg:innen, die erzählen, mit welchen Eingriffen solche künstliche Symmetrie hergestellt werden kann. Am Ende läuft es aber oft auf die typische Annäherung an ein europäisches Ideal hinaus oder eine fetischisierte Verjüngung.

Werbung

«Ich kann mich selbst nicht hassen, ohne viele andere Menschen mitzuhassen»

Wie bewerten Sie das heutige Narrativ von Schönheit, beispielsweise die Body-Positivity-Bewegung?
Wir sind gesellschaftlich gerade in einer Phase, in der alle sagen wollen: Schaut mich an, auch ich bin schön! Alternative oder diversere Bilder von Schönheit sind erst einmal erfreulich, aber stossen an ihre Grenzen. Das Konzept der Schönheit wird trotz aller Bemühung exklusiv bleiben, um ihren Status zu erhalten. Nicht alle können gleichzeitig schön sein, so funktioniert die Idee der Schönheit nicht. Ohne ein Ausserhalb verliert sie ihre Bedeutung in unserer Gesellschaft. Sie braucht etwas, wovon sie sich abgrenzen, absetzen kann – das Nicht-Schöne. Mich interessiert daher eher die Frage: Warum müssen wir schön sein, um gesehen, geliebt und respektiert zu werden? Ist vielleicht Hässlichkeit ein besserer Ratgeber?

Erklären Sie.
Diesen Gedanken habe ich von der US-Disability-Aktivistin Mia Mingus übernommen: Hässlichkeit ist viel intimer, als Schönheit es je sein kann, weil Schönheit Distanz braucht und Hässlichkeit Nähe einfordert. Schönheit ist begrenzt, kontrolliert und unverlässlich – wir können nie für immer schön sein. Spätestens dann, wenn wir krank oder alt sind, nimmt man sie uns weg. Hässlichkeit hingegen kann durch ihre unbegrenzte, unkontrollierte und unregelmässige Art jedem gehören. Zum Beispiel im Zusammenhang mit Pflege fragt Mingus: Welche zwischenmenschliche Beziehung entsteht genau dann, wenn wir nicht wegsehen können, uns mit den hässlichen Momenten auseinandersetzen, für jemanden sorgen und uns versorgen lassen? Sie sieht hier eine Menschlichkeit, zu der uns Hässlichkeit zwingt, die erstrebenswerter ist als die Art von Anerkennung, die wir uns durch Schönheit erarbeiten wollen. Und wäre es nicht interessant, es wertzuschätzen, dass sich Menschen auch in der Hässlichkeit lieben und achten können?

Sie schreiben, dass Sie im Prozess der Hässlichkeit begegneten und diese neu kennenlernten, «ihre Geschichte, ihre von einer ganzen Menschheit verdeckten Seiten». Was meinen Sie damit?
Es war für mich eine wichtige Erkenntnis, dass meine persönlich empfundene Hässlichkeit mit unseren grösseren Feindbildern zusammenhängt. Ich kann mich selbst nicht hassen, ohne viele andere Menschen mitzuhassen.

Warum?
Mein Buch fängt mit Selbsthass an. Es geht darum, sich mit anderen zu vergleichen und zu denken, man sei nicht gut genug oder sogar falsch. Jedes Mal, wenn ich das Gefühl habe, dieses Aussehen würde mich arm, asozial, wild, unmodern, faul wirken lassen, setze ich automatisch Menschengruppen herab, die als verhasste Stereotype dienen. Wenn ich zum Beispiel denke, dass meine Oberschenkel zu dick sind, bin ich gegen dicke Menschen und versuche, eine Distanz zwischen mir und ihnen zu erzwingen – ich möchte nicht an ihrer Stelle sein oder auch nur in ihrer Nähe. Denn ich weiss, wir hassen sie als Gesellschaft und wir lassen sie diesen Hass spüren.

Im Buch schreiben Sie, dass Sie sich mit sich selbst versöhnen wollen. Welches Verhältnis haben Sie heute zu sich, zu Hässlichkeit, zum herrschenden Schönheitsideal?
Das Buch springt zwischen persönlichen Anekdoten und Analysen. Mein letztes Kapitel «Versöhnung» ist etwas vorsichtiger, weil es schwierig zu behaupten wäre, dass man es besser weiss, weil man Hässlichkeit intellektuell aufgearbeitet hat. Dass allein diese Aufarbeitung einen sofort von körperlich erfahrenem Selbsthass oder Minderwertigkeit erlöst. Das funktioniert nicht. Ich hoffe, dass man diese Zerrissenheit im Buch auch mitlesen kann und es nicht mit einem moralisierenden Zeigefinger endet oder davor mahnt, nie etwas schön oder hässlich finden zu dürfen, sondern, dass es zu mehr Verständnis und weniger Hass für die Hässlichkeit inspiriert.

Sie appellieren mit dem Buch also für mehr Tiefe beim Thema Hässlichkeit?
Schönheit und Hässlichkeit werden bei uns gesellschaftlich als oberflächlich abgetan. Ich will aufzeigen, dass sie es eben nicht sind, sondern sehr tief gehen – tief in die Psyche des Menschen, aber auch in politische Konzepte über das Menschsein. Vor allem Schönheit wird gerne als feminines, banales Thema abgehandelt. Dabei ist Schönheit ein brutales, historisch von Männern dominiertes Konzept, das die Hässlichkeit mitproduziert. Nichts kann schön sein, wenn es nicht auch die Ungerechtigkeit an der Hässlichkeit gibt.

Moshtari Hilals Buch «Hässlichkeit» ist im Handel erhältlich. Am Samstag, 18.11., liest sie im Volkshaus Basel, am 19.11. im Theater Neumarkt in Zürich.

Moshtari Hilal ist Künstlerin, Kuratorin und Autorin. Sie studierte Islamwissenschaft in Hamburg, Berlin und London mit Schwerpunkt auf Gender und Dekoloniale Studien und ist Mitgründerin des Kollektivs Afghan Visual Arts and History sowie des Rechercheprojekts Curating Through Conflict with Care. Hilal wurde 1993 in Kabul geboren und lebt in Hamburg.

Subscribe
Notify of
guest
1 Comment
Oldest
Newest Most Voted
Inline Feedbacks
View all comments
Lou

Sehr interessantes Interview, vielen Dank!