Der Brand im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos hat die Debatten um Menschen auf der Flucht neu entfacht. Doch erhält eine Gruppe nicht die Aufmerksamkeit, die sie benötigt: Frauen, die allein auf der Flucht sind. Dabei sind gerade sie besonders schutzbedürftig, sagt Raquel Herzog, Gründerin der SAO Association, die sich explizit für geflüchtete Frauen einsetzt.
annabelle: Raquel Herzog, vor einer Woche ist das Flüchtlingslager Moria komplett niedergebrannt. Wie ist die aktuelle Lage vor Ort?
Raquel Herzog: Noch immer sind Tausende obdachlos in diesem «Kessel» zwischen den Strassensperren, die die Menschen daran hindern in die Stadt zu gelangen. Unsere Mitarbeiterinnen gehen immer wieder zu Fuss rein und suchen nach den Frauen, die sie betreuen. Sie bringen ihnen Notfall-Kits mit Wasser, Energieriegeln, Hygiene- und Babyartikeln. Gerade gestern sind sie in diesem Chaos wieder auf zwei Frauen gestossen, die seit fünf Tagen nichts zu essen und wenig zu trinken hatten. Mittlerweile hat das Militär die kleinen NGOs dazu aufgerufen, das Essen an die Flüchtlinge zu verteilen, da die NGOs mit Nahrungsmittelverteilungen mehr Erfahrung haben. Auch daran beteiligen wir uns – auch in der Hoffnung, «unsere» Frauen dort anzutreffen und ihre Bedürfnisse zu klären.
Inzwischen wird ein neues Zeltlager aufgebaut, das nun von den ersten Menschen bezogen wird. Bedeutet dies, dass sich die Lage trotz allem langsam beruhigt?
Nicht wirklich. Denn das neue Lager ist bloss für maximal 2000 Menschen vorgesehen. Es ist offenbar sehr schwierig, die Menschen zu überzeugen, in dieses provisorische Zeltlager zu gehen. Sie fürchten, erneut wie Tiere eingesperrt zu werden und sagen, solange es nicht regnet, sei es ja dasselbe, ob sie auf der Strasse mit nur einer Wolldecke unter sich, oder auf Schotter im Zelt übernachten. Zudem sollen die Zelte viel zu nahe aneinandergebaut worden sein, so dass die Brandschutzvorschriften – wie beim alten Lager – wieder nicht erfüllt sind.
Was geschieht mit jenen, die noch immer auf der Strasse ausharren?
Die griechische Regierung will drei grosse Passagierfähren nach Lesbos schicken, auf denen Geflüchtete und Migranten eine Zeitlang untergebracht werden können. Eine Fähre hat bereits im Hafen der Insel angelegt. Doch ist diese Art der Unterbringung äusserst heikel, da es unter den Geflüchteten viele Menschen gibt, die in ihren Herkunftsländern oder während ihrer Flucht im Gefängnis waren und dadurch oft schwer traumatisiert sind. Man weiss von Italien, wo Geflüchtete auf Schiffen unter Quarantäne gesetzt wurden, dass manche vor Verzweiflung von Bord gesprungen sind, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Noch ist unklar, wie man solche Tragödien auf Lesbos verhindern will.
Das von Ihnen gegründete Hilfswerk, die SAO Association, betreibt in Athen und auf Lesbos je ein Zentrum, in dem geflüchtete Frauen Schutz, Unterstützung und eine Tagesstruktur finden. Wie schätzen Sie die aktuelle Sicherheitslage der Frauen ein?
Sie ist prekär. Frauen können sich kaum an einen sichereren Ort zurückziehen, um sich zu waschen oder um Binden zu wechseln. Immer wieder hören wir von sexuellen Übergriffen. Viele Frauen haben Angst, vergewaltigt zu werden und wagen deshalb seit Tagen nicht zu schlafen. Zudem kursieren derzeit unzählige Gerüchte. So soll eine hochschwangere Frau gestorben sein, ihre Leiche ist jedoch noch nicht gefunden worden.
Was muss getan werden, um die Sicherheitslage der Frauen zu verbessern?
Im Moment sollten allen voran allein flüchtende Frauen, junge, verwitwete und betagte Frauen, besonders auch allein flüchtende Mütter, rasch identifiziert, als besonders schutzbedürftige Gruppe definiert und in speziellen Schutzzonen untergebracht werden. Frauen – auch jene aus der LBQTI-Community – ohne männliche Begleitung sind komplett ungeschützt. Auf Lesbos sind dies etwa 1000 bis 1500 Personen. Schutzzonen auf die Schnelle zu errichten, ist durchaus machbar. Wäre der (gender)-politische Wille vorhanden, könnten sogar leerstehende Hotels zu solchen Schutzzonen umfunktioniert werden. Derzeit hat jedoch die Eindämmung des Coronavirus erste Priorität. Das ist zwar verständlich, aber auch frustrierend. Denn Frauen waren bereits vor dem Feuer im Flüchtlingslager Moria täglich Gewalt und sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Und so, wie es aussieht, fehlen auch im neuen Zeltlager Schutzzonen, was wiederum das Risiko für Frauen erhöht.
«Immer wieder hören wir von sexuellen Übergriffen.
Viele Frauen haben Angst.»
Mangelhafte oder nicht vorhandene Schutzzonen für Frauen in Flüchtlingslagern ist leider ein altes Thema. Frauenrechtsorganisationen prangern dies seit Jahrzehnten an. Weshalb zeichnen sich keine Verbesserungen ab?
Das ist mir auch ein Rätsel. Ich kann es mir nur so erklären, dass die Bedürfnisse von Frauen generell als zweitrangig erachtet und deshalb schlicht vernachlässigt werden. Dabei wären die Massnahmen simpel: Es braucht Toiletten und Duschen, die nach Geschlechtern getrennt sind, und die sich nicht irgendwo an den Rändern des Lagers befinden, sondern in unmittelbarer Nähe der Wohnräume. Es braucht gut beleuchtete Wege und gut ausgebildetes weibliches Personal. Frauen, zum Beispiel, keine Männer, die Hygieneartikel verteilen. Aber damit ist es noch nicht getan. Sicherheit für Frauen bedeutet auch, dass die frauenspezifischen Fluchtgründe analysiert werden und die Flüchtenden adäquate psychosoziale Hilfe erhalten. Diese Hilfe wird vor Ort nur von NGOs geleistet. Künftig muss sie noch sehr viel stärker ausgebaut werden.
Mit welchen Fluchtgründen werden Sie immer wieder konfrontiert?
Frauen fliehen – wie auch Männer – vor Kriegen, Konflikten, vor der Verfolgung durch Extremisten, vor sexueller Gewalt oder Diskriminierung. Viele sind Opfer von Menschenhandel, andere werden verfolgt, weil sie lesbisch sind oder von ihren Familien ausgegrenzt und weggeschickt, weil sie durch Bombenangriffe verstümmelt wurden. Ich kenne einige Somalierinnen, die aus diesem Grund auf der Flucht sind. Oft zwingen auch die kriegsähnlichen Zustände in der Heimat dazu, das Land zu verlassen. Eine Kongolesin erzählte mir, dass sie als Polizistin gearbeitet hatte und aufgrund ihrer Körpergrösse, sie ist 1 Meter 80, gezwungen wurde, bei Mordkommandos dabei zu sein. Das konnte und wollte sie nicht. Also ging sie. Frauen auf der Flucht sind jedoch sehr viel verwundbarer als Männer. Übergriffe sind Alltag, viele Frauen werden vergewaltigt, manche gezwungen, das Fluchtgeld oder auch Schlepper mit ihrem Körper zu bezahlen.
Lassen Sie mich hier noch einmal auf die prekäre Sicherheitslage von Frauen in Flüchtlingslagern zurückkommen: Weshalb sind gerade diese Settings ein Nährboden für Übergriffe?
Nun, in Flüchtlingslagern kommt es grundsätzlich nicht zu mehr sexuellen Übergriffen als in jedem anderen Sozio-Pot, in dem sehr viele Menschen auf engstem Raum unter miserablen Bedingungen aufeinandersitzen. Enge erhöht jegliches Gewaltrisiko. Zudem stammen die meisten geflüchteten Menschen aus streng patriarchalen Gesellschaften, in denen Gewalt an Frauen eher akzeptiert ist – und zwar von Männern UND von Frauen. Viele Hilfsorganisationen – aber auch Behörden – scheuen jedoch noch immer davor zurück, dies zu benennen, aus Angst, Rechtspopulisten Öl ins Feuer zu giessen.
Die Krux aber ist: Nur, wenn dies angesprochen wird, können Frauen vor Gewalt geschützt werden.
So ist es, ja.
Liesse sie sich eindämmen, wenn die Täter konsequent bestraft würden?
Das wäre sicher wirksam, klar. Denn auch in Griechenland sind Vergewaltigungen ein Offizialdelikt. Doch wollen die meisten Frauen keine Anzeige erstatten. Denn sie wissen, dass die Täter zwar für 24 Stunden in Gewahrsam genommen, danach aber wieder ins Flüchtlingslager zurückgeschickt werden – wodurch sie ihnen womöglich noch mehr ausgeliefert sind. Es ist ein Teufelskreis. Ich möchte aber betonen, dass Frauen nicht nur Übergriffe von männlichen Flüchtlingen drohen, sondern auch von Rechtsradikalen, die auf Lesbos gereist sind, und nicht zuletzt auch von der männlichen Lokalbevölkerung. Viele Griechen betrachten geflüchtete Frauen als billige Prostituierte. Vor allem Afrikanerinnen sind davon betroffen. Eine junge Frau erzählte mir, dass sie in Mytilini, der Hauptstadt der Insel, keine zehn Meter gehen könne, ohne gefragt zu werden: «How much?»
Sie und Ihr Team arbeiten seit Jahren mit Frauen, die allein auf der Flucht sind. Worauf legen Sie dabei am meisten Gewicht?
Auf die unmittelbare Nothilfe, in einem zweiten Schritt auf Empowerment. Die Ermächtigung von Frauen ist der Schlüssel. Ihnen zu zeigen, dass sie wertvoll sind. Dass sie lernen, wie der Asylprozess verläuft und nicht einfach herumhängen und darauf warten, dass jemand über sie bestimmt, sondern dass sie selber Entscheidungen treffen. Frauen, die das lernen, sind danach auch viel fähiger, sich in eine neue Gesellschaft zu integrieren.
Ein beklemmendes Mahnmal mitten auf der Insel Lesbos: Zerfetzte Gummiboote, ausrangierte Schwimmwesten und Kleider von geflüchteten Menschen werden auf einer gigantischen Müllhalde deponiert. (Foto: Helene Aecherli)
Derzeit drängt ein Grossteil der geflüchteten Menschen, Frauen wie Männer, darauf, von Lesbos aufs griechische Festland evakuiert zu werden. Wie realistisch ist das?
Die Chancen sind gering. Denn das Festland ist nicht auf 13000 zusätzliche Flüchtlinge vorbereitet. Schon heute leben rund 20000 geflüchtete Menschen in Athen und Thessaloniki, viele auf den Strassen und in Parks, unter anderem auch deshalb, weil die Camps wegen der Coronakrise unter Quarantäne stehen. Die Lage auf dem Festland ist wohl mit ein Grund, weshalb die griechische Regierung die Geflüchteten auf Lesbos behalten will.
Spielt hier aber nicht auch politisches Kalkül mit?
Ich gehe davon aus, dass die neue konservative Regierung nicht von ihrer Politik der Härte abweichen will. Sie wird damit wohl auch ein Signal nach Chios und Samos schicken, wo die Umstände in den Flüchtlingslagern genauso schlimm sind, wie sie in Moria waren. Auf keinen Fall soll der Eindruck entstehen: «Nur, weil das Lager niedergebrannt ist, kommt ihr von der Insel und werdet von Europa gerettet.» Man befürchtet wohl einen Nachahmungseffekt – obwohl die Brandursache in Moria noch nicht restlos geklärt ist.
Diese Haltung wird heftig kritisiert und als unmenschlich, ja sogar als Versagen bezeichnet. Wie stehen Sie dazu?
Ganz nüchtern betrachtet, ist diese Haltung der griechischen Regierung sogar nachvollziehbar. Denn Tatsache ist, dass viele Asylgesuche von Geflüchteten auf Lesbos, wie auch auf Chios, Samos und auf anderen Inseln, noch gar nicht behandelt worden sind. Man weiss also nicht, weshalb die Menschen auf der Flucht sind, und ob sie überhaupt Anspruch auf Asyl haben. Würde man nun alle 13000 Menschen von der Insel evakuieren, verstösse dies gegen die standardisierten Asylverfahren der EU. Deshalb ist es zwingend, dass die Asylverfahren künftig endlich schneller abgewickelt werden. Gleichzeitig muss ich aber auch betonen, dass die Zustände im Camp Moria schon immer bewusst schlecht gehalten worden waren, weil man damit das Signal schicken wollte: «Kommt ja nicht hierher. Hier ist es ganz schlimm. Bleibt lieber zuhause!»
Was aber nicht aufgegangen ist.
Nein, weil es vielen Menschen in ihren Herkunftsländern noch schlechter geht, als in griechischen Camps. Und weil verzweifelte Menschen sich nicht davon abhalten lassen, vor Kriegen, Konflikten oder desaströsen wirtschaftlichen Umständen zu fliehen – getrieben von der Hoffnung auf ein besseres Leben.
Trotzdem: Welche Massnahmen sind machbar, um die Notsituation auf Lesbos zu lindern?
Es braucht Lösungen, die in der Bevölkerung der potenziellen Aufnahmeländer breit abgestützt sind. Forderungen wie «Nehmt alle 13000 in einem Land auf!», führen eher dazu, dass letztlich gar nichts geschieht, weil sie keine Mehrheiten finden und deshalb unmöglich umgesetzt werden können. Aber Fakt ist auch, dass Griechenland nicht alles allein stemmen kann.
Die Schweiz will zwanzig unbegleitete Kinder und Jugendliche aufnehmen, zudem investiert sie bis zu einer Million Franken in den Aufbau von sanitären Anlagen und einem Wasserversorgungssystem im neuen Zeltlager auf Lesbos. Ist dies sinnvoll oder eine reine Feigenblattpolitik?
Lassen Sie mich diese beiden Dinge auseinandernehmen: Die Soforthilfe, die die DEZA vor Ort leistet, ist so sinnvoll wie notwendig und zeugt von grosser Erfahrung. Hingegen sehe ich die Aufnahme von zwanzig Minderjährigen eher als Weichzeichnerei. Denn da die Schweiz das Dublin-Abkommen unterzeichnet hat, ist sie dazu verpflichtet, Minderjährigen mit einem Bezug zur Schweiz Asyl zu gewähren. Sehr viel mutiger wäre es hingegen, wenn sich die Schweiz aufgrund ihrer humanitären Tradition dazu verpflichten würde, eine grössere Zahl allein flüchtender Frauen aufzunehmen. Platz wäre vorhanden, viele unserer Flüchtlingsunterkünfte stehen leer. Zudem würde sie damit international ein Zeichen setzen. Denn Frauen haben keine Lobby. Und das ist angesichts dessen, dass Frauen und Mädchen die Hälfte der 71 Millionen Menschen ausmachen, die heute weltweit auf der Flucht sind, eine Schande.