Die Influencerin Morena Diaz spricht über ihre Vergewaltigung – und erntet neben viel Zuspruch auch viel Hass und Krtitik. Die Ursache für diesen Hass liegt in unserem kulturellen Bild eines Opfers, schreibt unsere Autorin. Doch dieses eine Abbild gibt es eben nicht.
Es ist ein träumerisches Bild. Die 26-jährige Lehrerin Morena Diaz trägt einen dunklen Bikini, lange Locken fallen ihren Rücken hinunter. Hinter ihr geht die Sonne über dem Meer unter. Wer die Aargauer Influencerin kennt, der glaubt zu wissen, was jetzt kommt. Ein Post über Selbstliebe, über gutes Essen, vielleicht auch über gute Vorsätze, schliesslich ist es Anfang Januar. Stattdessen beginnt der Text mit zwei Buchstaben: TW, ein Kürzel, eine Warnung. Das nächste Wort heisst Vergewaltigung. Morena Diaz schreibt über sich selbst. Über einen Abend im Dezember 2018, der ihr Leben verändert hat, über den Schmerz, mit dem sie seither jeden Tag umgehen muss. Über einen Mann, den sie für einen Freund hielt und der sich bei einem privaten Treffen kurz vor Weihnachten über ihren Körper und ihre Bedürfnisse hinweggesetzt hat.
Morena bekommt für ihre Offenheit viel Zuspruch, Herzchen und Kommentare. Nicht wenige Frauen wollen ihr danken. Nicht nur dafür, dass sie ihnen ihre Geschichte anvertraut hat, sondern auch: für ihren Mut. Doch: Wer öffentlich von sexueller Gewalt spricht, muss sich auf noch mehr Gewalt gefasst machen. Zwei Tage später macht Morena öffentlich, was in den Stunden, nachdem sie das Strandbild gepostet hat, auf sie eingeprasselt ist. «Feige Lügnerin», «unglaubhafte Schlampen-Geschichte», «Sie sind eine abscheuliche Person». Sie nennt es «Victim Blaiming» – also ein Umkehr von Täter und Opfer, die dem Opfer selbst die Schuld zuschiebt für das, was passiert ist.
Doch Morena Diaz`Fall ist nicht in erster Linie ein Fall von Victim Blaiming. Die Provokation, die von ihrem Bild, von ihrer Geschichte ausgeht, ist noch grundsätzlicher: Die junge Lehrerin hat mit der Erwartung gebrochen, die wir an Opfer sexueller Gewalt haben. Nicht ohne Grund heisst der Straftatbestand, der in der Schweiz verhandelt wird, wenn es um widerstandsunfähige Personen geht, Schändung. Das Wort macht klar: Die Schande geht auf den Körper des Opfers über, lässt diesen in einem Zustand zurück, den niemand sehen soll. In Deutschland spricht man von Schändung, wenn Holocaustgedenkstätten mit Hakenkreuzen beschmiert werden. Und während Grabsteine schnell wieder von der Farbe befreit werden können, wird von Opfern sexueller Gewalt verlangt, dass sie sich und das, was ihnen geschehen ist, verstecken.
Wer im Internet nach Bildern von Opfern sexueller Gewalt sucht, findet immer das gleiche Stockfoto: Eine Frau, die ihr Gesicht hinter ihren Haaren verbirgt, ein Kind, das die Hände vors Gesicht schlägt. Es sind Menschen, die vor Scham in sich zusammen sinken, die sich verstecken, die wünschten, sie könnten für immer verschwinden. Davon abgesehen, dass ein Opfer, das sich nichts mehr wünscht, als für immer zu schweigen zu dürfen, für einen Täter eine ziemlich angenehme Vorstellung ist, haben diese Bilder auch medial eine grosse Macht. Sie zeigen, wie ein «richtiges» Opfer aussieht: heulend, am Boden, die Hände vor dem Gesicht.
Eine junge Frau im Bikini, die ernst und selbstbewusst in die Kamera blickt, macht einen völlig anderen Eindruck. Und weil unsere Gehirne am liebsten ihren Gewohnheiten folgen, wird nicht das tausend Mal gezeigte Bild vom weinenden Mädchen mit den Händen vorm Gesicht hinterfragt. Morena Diaz am Strand widerspricht unserem kulturellen Bild von einem Opfer so sehr, dass nicht wenige zum Schluss kommen: Hier kann etwas nicht stimmen. Die Geschichte, die sie erzählt, muss erfunden sein. Doch es ist nicht nur das Bild, das nicht passt. Das, was die junge Lehrerin tut, ist genau das Gegenteil von dem, was von einem Opfer erwartet wird. Sie selbst macht die «Schande», die ihr angetan wurde, öffentlich, weist sie sogar zurück an andere. In ihrem Post geht Morena Diaz nicht nur den Mann an, den sie bis zu jenem Abend für einen Freund gehalten hat, sondern auch Gesetze und Gesellschaft. An der Stelle reicht es wohl vielen, die Morenas Post gelesen haben. Man hat das Gefühl, zu Unrecht beschuldigt zu werden, fragt sich vielleicht: «Warum bin ich – oder irgendjemand anderes – daran schuld, wenn sie sich mit einem Freund zum Essen verabredet und der sich wie ein Schwein verhält?»
Eine Frage, die sich kaum in einem Instagram-Post beantworten lässt. Für Morena Diaz ist klar: Wir leben in einer Gesellschaft, die zulässt, dass Frauen so etwas geschieht. Um jemand wegen Vergewaltigung zu verurteilen, braucht es deutliche Gegenwehr. Ein Körper, der in Schockstarre fällt, sendet nicht die Signale, die es braucht, um einen Prozess zu gewinnen. So kann man sie zumindest verstehen – auch wenn man viele Details ihrer Geschichte nicht kennt.
In den letzten Jahren haben sich viele Frauen an die Öffentlichkeit gewagt und von sexueller Gewalt berichtet. Je mehr Details sie von ihren Geschichten preisgegeben haben, desto stärker und eindrücklicher wurde ihr Bericht. Die vermutlich einflussreichste Geschichte stammt von Chanel Miller. Sie ist fast genauso alt wie Morena Diaz – und hat 2016 mit einem anonym auf Buzzfeed veröffentlichten Statement in den USA Geschichte geschrieben. Miller wurde 2015 an der Stanford University von einem jungen, hoffnungsvollen Schwimmer neben den Abfalltonnen hinter einer Diskothek sexuell missbraucht. Es schien, als wäre alles ganz einfach: Zwei Passanten beobachteten die Tat, hielten den Täter fest und holten die Polizei. Doch obwohl Brock Turner – der Name des Schwimmers ist öffentlich – schuldig gesprochen wurde, musste er nur drei Monate ins Gefängnis. Eine strengere Strafe hätte einen zu «harten Effekt» auf Turner, erklärte der Richter. Er wurde später nach massiven Protesten seines Amtes enthoben.
Millers Brief wurde allein in den ersten vier Tagen mehr als elf Millionen Mal angeklickt, selbst im Kongress wurde ihr Brief verlesen. Der damalige Vize-Präsident Joe Biden antwortete Miller, die damals noch unter dem Pseudonym Emily Doe bekannt war. In seinem Brief heisst es: «Ich kenne deinen Namen nicht. Aber deine Geschichte hat dabei geholfen, unsere Kultur zu verändern.» Das war vor der #MeToo-Debatte, bevor tausende Frauen überall auf der Welt ihre Geschichten mit sexueller Gewalt öffentlich machten. Und Chanel Miller? Mehr als vier Jahre nach der Tat verabschiedete sie sich von ihrem Pseudonym und veröffentlichte ihre Geschichte als Buch. Der Titel lautet: «Know My Name», auf Deutsch: «Ich habe einen Namen» und wurde zum Bestseller.
Inzwischen gibt es hunderte Fotos von Miller im Netz. Fotos, auf denen sie selbstbewusst in die Kamera schaut, Fotos, auf denen sie lacht. Und Fotos, auf denen sie einen dunkelroten Zweiteiler mit tiefem Ausschnitt trägt. Es sind Bilder, die möglichst viele Menschen sehen sollten. Sie zeigen eine echte Person, mit einer echten Geschichte. Eine Frau, die Opfer von sexueller Gewalt wurde – aber noch sehr viel mehr ist als das. Schriftstellerin zum Beispiel.
Morena Diaz schreibt: «Ich werde wieder komplett ausgelassen tanzen können. Lieben und leben.» So viel ist sicher: Sie wird Bilder davon auf Instagram hochladen – und vielen anderen Frauen Mut machen, ihre Geschichten zu erzählen.
Auch wenn es für manche schwer zu verstehen ist: Die Fotos von Morena Diaz im Bikini am Strand, die selbstbewussten Porträts von Chanel Miller sind realistischer als die gestellten Opfer-Bilder im Netz. Sie zeigen: Es gibt keine «richtigen Opfer», keine Rolle, die für alle passt.
Je mehr wir von diesen Geschichten und Bildern sehen, desto besser.