Werbung
Miriam Suter und Natalia Widla: «Viele Männer leiden extrem darunter, dass sie gewalttätig wurden»

Politik

Miriam Suter und Natalia Widla: «Viele Männer leiden extrem darunter, dass sie gewalttätig wurden»

Warum werden Männer zu Tätern? In ihrem Sachbuch «Niemals aus Liebe» gehen die Schweizer Journalistinnen Miriam Suter und Natalia Widla dieser Frage nach. Ein Gespräch über die Romantisierung von Eifersucht, Red Flags – und Empathie für Täter.

Inhaltshinweis: Männergewalt an Frauen

annabelle: Miriam Suter und Natalia Widla, Sie schreiben in Ihrem Buch «Niemals aus Liebe» schon zu Beginn in aller Klarheit: Männergewalt ist ein Männerproblem. Und nun sitzen wir hier – drei Frauen, die über dieses «Männerproblem» sprechen. Treibt Sie das um, dass sich mehrheitlich Frauen mit diesem Thema auseinandersetzen?
Miriam Suter: Nach der Veröffentlichung unseres ersten Buchs zum Thema sexualisierte Gewalt hat uns das sehr beschäftigt. An den Lesungen bestand das Publikum zu mindestens 90 Prozent aus Frauen. Wir haben irgendwann einen Witz daraus gemacht und die einzelnen Männer die Hand heben lassen. Und wir wurden bisher auch kein einziges Mal von einem männlichen Journalisten interviewt. Immerhin haben unser neues Buch beim Crowdfunding einige Männer vorbestellt – und ich hoffe, dass auch noch ein paar männliche Journalisten darüber schreiben werden. Denn, so traurig das ist, Männer lesen in erster Linie das, was andere Männer schreiben.

In Ihrem neuen Sachbuch geht es um Täter. Sie gehen der Frage nach, aus welchen Gründen Männer zu Tätern von häuslicher oder sexualisierter Gewalt an Frauen werden, weshalb sie töten. Warum haben Sie dieses Buch geschrieben?
Natalia Widla: In der Schweiz wird im Schnitt alle zwei Wochen eine Frau von ihrem Ehemann, Lebensgefährten oder Ex-Partner getötet. Die Frauenhäuser sind voll. Das sind keine Zustände, die man einfach unhinterfragt hinnehmen kann.

Sie betonen im Buch immer wieder, dass es den einen Täter nicht gebe – genauso wenig wie das eine Opfer. Gibt es dennoch etwas, das so gut wie alle Männer, die Frauen Gewalt antun, gemeinsam haben?
Natalia Widla: Eine Anspruchshaltung. Sie erwarten, vielleicht auch ganz unbewusst, von der Frau die bedingungslose Erfüllung ihrer Bedürfnisse – und das verwechseln sie mit Liebe. Wenn diese Anspruchshaltung gebrochen wird, indem die Frau sich in irgendeiner Form widersetzt, werden sie gewalttätig.

Miriam Suter: Auch geht es um die Überzeugung: Wir Männer haben die Kontrolle, und sie zu verlieren ist keine Option; erst recht nicht durch eine Frau. Der männliche Selbstwert ist, so wie Männer in unserer Gesellschaft sozialisiert werden, extrem an Kontrolle geknüpft.

Werbung

«Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen Entschuldigen und Verstehen»

Natalia Widla

Wollen Sie mit Ihrem Buch Empathie für Täter schaffen?
Natalia Widla: Falls mit «Empathie» entschuldigen gemeint ist: Nein, das wollen wir definitiv nicht. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen Entschuldigen und Verstehen – darauf weist auch die bekannte Forensikerin Nahlah Saimeh hin. Bis zu einem gewissen Grad ist es wichtig, für einen Täter Empathie zu empfinden, sich in ihn als Menschen hineinzufühlen.

Warum?
Natalia Widla: Weil wir nur auf diese Weise begreifen können, dass Täter ganz normale Männer sind. Väter, Ehemänner, Freunde, Arbeitskollegen – nicht Monster, die aus Büschen springen. Es sind nicht die anderen. Das hat auch der Fall rund um Gisèle Pelicot gezeigt.

… Gisèle Pelicot, die während Jahren von ihrem Ehemann und Dutzenden weiteren Männern unter Betäubung missbraucht wurde – und sich dazu entschied, den Vergewaltigungsprozess in Avignon mit der Weltöffentlichkeit zu teilen.
Natalia Widla: Pelicots Vergewaltiger sind unterschiedlich alt, unterschiedlich gebildet, haben ganz unterschiedliche Berufe und unterschiedliche Hintergründe. Der Fall zeigt in grausamer Deutlichkeit: Männergewalt ist nicht der Einzelfall, sondern ein alltägliches Problem, Teil unserer Gesellschaft. Und exakt dort muss auch angesetzt werden.

Sie beschreiben im Buch die sogenannte Gewaltpyramide. Das sozialpsychologische Erklärungsmodell zeigt an unterster Stelle den Nährboden für Gewalt an Frauen in aller Deutlichkeit: sexistische, frauenfeindliche Einstellungen.
Miriam Suter: Die Gewaltpyramide macht deutlich, dass Gewalt gegen Frauen eben nicht erst beim Schlagen oder der Vergewaltigung anfängt, sondern beim sexistischen Witz am Stammtisch. Diese frauenfeindliche Kultur, in der wir alle aufgewachsen sind, ist der Nährboden für alles weitere: Mikroaggressionen gegen Frauen, sexuelle Belästigung, Übergriffe – und Femizide.

Werbung

«Wenn sie sich kaum mehr mit ihren Freundinnen trifft, nicht mehr in den Ausgang geht, nicht mehr gut erreichbar ist, sind das alles Red Flags»

Miriam Suter

Auch ein wichtiger Aspekt im Buch: Femizide sind keine Affektmorde, wie es immer heisst. Sondern meist lange geplant.
Miriam Suter: Rückblickend sind bei den meisten Taten innerhalb eines Beziehungskonstrukts klare Muster erkennbar. Zum Beispiel das frühe Isolieren und Kontrollieren der Frau als erste Schritte. Wenn sie sich kaum mehr mit ihren Freundinnen trifft, nicht mehr in den Ausgang geht, nicht mehr gut erreichbar ist, sind das alles Red Flags. Angehörige beobachten das oft von aussen – das Thema Gewalt gegen Frauen ist in der Schweiz aber unglaublich privat.

Will heissen?
Miriam Suter: Es kommt sehr auf die Bubble an, inwiefern man sich in andere Beziehungen einmischt. Da kann es also passieren, dass Familie und Freund:innen eine Frau kaum mehr zu Gesicht bekommen, aber niemand sich traut, es anzusprechen. Für den Mann, der Gewalt ausübt, ist das ein klares Signal: Du kannst einfach so weitermachen. Niemand wird sich in eure privaten Angelegenheiten einmischen.

Wenn sich die Gewalt eines Mannes immer mehr steigert, bedeutet das ja auch: Er könnte selbst realisieren, dass etwas aus dem Ruder läuft und sich Hilfe holen – oder?
Miriam Suter: Eigentlich ja. Aber was für uns so selbstverständlich scheint, geht für viele Männer schon viel zu weit. Man könnte meinen, ein Mann, der seine Frau beispielsweise zuhause einsperren will, hätte sich doch eigentlich schon längst fragen müssen: Moment mal, was stimmt eigentlich nicht mit mir? Es braucht aber furchtbar viel, dass sich Männer eingestehen: Shit, vielleicht bin ich selbst das Problem. Denn auch hier gilt: Sich Fehler einzugestehen, Schwäche zuzugeben, clasht mit dem, wie ein richtiger Mann in unserer Gesellschaft zu sein hat.

Ihr Buch heisst «Niemals aus Liebe: Männergewalt an Frauen». Wer behauptet, Gewalt würde aus Liebe passieren?
Natalia Widla: Die Toten Hosen, zum Beispiel. In ihrem Song «Alles aus Liebe» heisst es am Ende: «Komm, ich zeig dir, wie gross meine Liebe ist, und bringe uns beide um». Der Mann liebt die Frau so sehr, dass er es nicht verkraften kann, wenn sie in den Ausgang geht oder, schlimmer, ihn verlassen will: Mit diesem Eifersuchtsnarrativ wurden wir alle sozialisiert; gerade auch in der Popkultur ist es omnipräsent.

Verändert sich dieses Narrativ aber nicht allmählich? In den Berichterstattungen ist im Kontext eines Femizids beispielsweise immer seltener von einem  «Beziehungsdrama» zu lesen.
Natalia Widla: Ja, es tut sich was. Aber ich beobachte auf Social Media, wie viele junge Frauen es immer noch romantisieren, wenn der Partner sie kontrolliert, ihnen das Handy wegnimmt. Für unser Buch war ich an vielen Gerichtsverhandlungen und auch dort habe ich das oft gehört: Er war so verzweifelt, weil ihn seine grosse Liebe verlassen wollte – und dann habe es, ich zitiere aus einem Fall, «eine tragische Einzelfalldynamik» gegeben.

Miriam Suter: Natalia hat am Gericht vor allem Täter erlebt, die nicht einsichtig sind und sich selbst als das Opfer ihrer «verrückten» Partnerin sehen. Ich wiederum habe für das Buch mehr zu Männern recherchiert, die sich freiwillig helfen lassen, beispielsweise ins Mannebüro gehen, eine Beratungs- und Informationsstelle für Männer.

Und dort haben Sie einen anderen Täter-Typus kennengelernt?
Miriam Suter: Alle Fachpersonen, mit denen ich gesprochen habe, haben mir erzählt, dass viele Männer – besonders diejenigen, die sich freiwillig melden und der Fachstelle nicht im Rahmen eines Strafprozesses zugewiesen werden – extrem darunter leiden, dass sie gegenüber ihrer Frau oder Freundin gewalttätig wurden. Die Männer sagen Dinge wie: «Ich liebe meine Freundin doch – ich habe keine Ahnung, warum ich ihr so etwas angetan habe.» Sie wollen nicht der Mann sein, der seine Frau schlägt. Und das ist spannend: Denn die uneinsichtigen Täter argumentieren auch mit Liebe. Aber Gewalt passiert niemals aus Liebe.

«Gender ist der riesige Faktor, der in der Schweiz völlig ausgeklammert wird»

Natalia Widla

Miriam Suter, Sie haben vor wenigen Wochen in einem viel beachteten Instagram-Post Männer gefragt, warum sie den Mund nicht aufmachen, wenn es um Männergewalt an Frauen geht. Haben Sie ein paar Antworten bekommen?
Miriam Suter: Ja, einige sogar. Der Grundtenor war, dass viele das Gefühl haben, es würde eh nichts ändern, wenn sie sich äussern – und auch, man könnte ihnen dann etwas Performatives vorwerfen. Dass sie also vielleicht zwar etwas posten, sich aber sonst nicht gegen Gewalt einsetzen. Manche haben mir auch geschrieben, sie würden einfach wenig mitbekommen – sogar vom Fall rund um Gisèle Pelicot haben einige nur über mich auf Instagram erfahren. Das hat mich erschreckt. Wie kann es sein, dass man davon nichts mitbekommen hat?

Natalia Widla: Ich will Männer definitiv nicht in Schutz nehmen. Aber was mir beim Erklärungsversuch manchmal hilft, ist, mir bewusst zu machen, wie vermeintlich komplex es auch für viele zu sein scheint, sich als weisse Person zum Thema Rassismus zu äussern. Der Mechanismus ist genau der gleiche – und sehr viele weisse Personen, auch Feministinnen, können sich da selbst an der Nase nehmen, weil sie dem Diskurs auch aus dem Weg gehen und die ganze Arbeit den Betroffenen überlassen.

Miriam Suter: Mir widerstrebt es, das zu sagen, weil Männer sich das selbst erarbeiten müssen, aber: Männer brauchen einfach mehr Räume, in denen sie sich austauschen und auch über Fehler reden können – ohne die Angst, sofort «gecancelt» zu werden.

Ein Mann, der vor Kurzem deutliche Worte zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt gefunden hat, ist Cédric Wermuth, Co-Präsident der SP. Auf Instagram schrieb er Ende September: «Es ist Zeit, dass wir cis Männer uns da einmischen. Wir dürfen die Welt mit dieser Männergewalt nicht mehr alleine lassen und nicht mehr aus Scham wegschauen. Männliche Gewalt ist in unserer Gesellschaft omnipräsent.» Gleichzeitig verkündete er, einen Vorstoss zur «Bekämpfung von gewalt- und radikalisierungsbegünstigenden Männlichkeitsvorstellungen» eingereicht zu haben. Ein Meilenstein?
Natalia Widla: Wenn das durchkommt, wäre es ein Meilenstein, absolut! Aber das bezweifle ich leider stark. Solche Dinge haben in der Schweiz keinen Stand. Erst gerade wurde zum Beispiel der neue Sicherheitsbericht für die Schweiz veröffentlicht. Vom geschlechtsspezifischen «Faktor M», von der Männlichkeitsradikalisierung, kein Wort. Islamisierung hier, Islamisierung da – aber Gender ist der riesige Faktor, der völlig ausgeklammert wird.

Miriam Suter: Dass überhaupt ein Schweizer Politiker so etwas sagt, ist dennoch ein kleiner Meilenstein. Und gleichzeitig finde ich es auch unangenehm auszuhalten, dass sich beispielsweise die SP-Nationalrätin Tamara Funiciello schon seit Jahren für das Thema einsetzt – und, wie viele andere Politikerinnen auch, Morddrohungen erhält.

Wenn Sie in der Schweiz an einer Schraube drehen könnten – an welcher?
Miriam Suter: Ich würde am Geldhahn drehen. Das Geld fehlt überall: in den Frauenhäusern und anderen Schutzunterkünften, bei den Angeboten für Betroffene, in der Forschung, in der Datenerhebung. Und ich würde flächendeckend ein Schulfach zum Thema Gewalt einführen – verpflichtend für alle, wie Mathe. Dort würden Schüler:innen lernen: Wo sind meine Grenzen, wie kann ich die kommunizieren? Wo sind die Grenzen des Gegenübers? Was ist Gewalt, wo fängt sie an? Was ist geschlechtsspezifische Gewalt, Homophobie, Rassismus? Wie kann ich einschreiten?

Natalia Widla: Wenn ich allmächtig wäre, würde ich alle Männer statt ins Militär in ein Bootcamp zum Thema Männlichkeit und Gewaltprävention schicken. Dann könnten sie zusammen im Garten arbeiten, töpfern, und sich dabei über Männlichkeit und ihre Unsicherheiten austauschen. Irgendwo im Engadin – und ohne Zugang zum Internet.

«Niemals aus Liebe: Männergewalt an Frauen» von Miriam Suter und Natalia Widla ist im Limmat Verlag erschienen und kostet 32 Franken. Die Autorinnen sind ab 28. Oktober 2024 auf grosser Lesetour in mehreren Schweizer Städten. Alle Daten gibts hier

Informationen und Hilfsangebote zum Thema Häusliche Gewalt findest du hier:

Opferhilfe Schweiz

143 – Die Dargebotene Hand

BIF – Beratungsstelle für Frauen

Frauenhäuser in der Schweiz

Für Männer, die Gewalt gegenüber ihre:r Partner:in einsetzen und/oder sich in einer sonstigen Konflikt-und Krisensituation befinden, bietet das Mannebüro Beratungen an, auch telefonisch.

Subscribe
Notify of
guest
0 Comments
Oldest
Newest Most Voted
Inline Feedbacks
View all comments