Leben
Micheline Calmy-Rey: Begegnung mit der einstigen Bundesrätin
- Text: Stefanie Rigutto, Fotos: Sébastien Agnetti
Ich bin keine Macherin mehr, sagt die einstige Bundesrätin. Was nicht heisst, dass sie nichts mehr tut. Sie lehrt und hat ein Buch über ihre Zeit als Aussenministerin geschrieben.
Sie ist todchic. Wie immer. Hochhackige Ankleboots, knielanger schwarzer Jupe, blauer Pullover (Kaschmir, bestimmt), rotes Foulard, ein dicker Goldring. Grande Dame. Und erst diese rosige faltenlose Haut! Nur die Frisur, da zeigt sich ein leichter grauer Ansatz. Und die blonden Strähnchen sind auch nicht mehr so prägnant wie früher. Micheline Calmy-Rey hat einen warmen, festen Händedruck. Die fünf Minuten, die ich vor ihrem Büro warten musste, weil sie noch am Telefon war, lächelt die 68-Jährige mit ihrem Million-Dollar-Smile weg.
Ihr Büro im vierten Stock der Uni Genf ist winzig. Ein Pult, ein rundes Tischchen, drei Stühle, ein Schrank. «Meine Denkstube», sagt MCR, so ihr Kürzel, mit dem sie ihre Mails unterschreibt. Ihre Doktorandin ist auch hier: Sie will aushelfen, wenn MCR mal ein Wort nicht auf Deutsch einfällt. An der Wand hängt ein Bild mit allen Schlagwörtern, die das Internet ausspuckt, wenn man «Micheline Calmy-Rey» eintippt. Das Abschiedsgeschenk ihrer Mitarbeitenden im Aussendepartement. «Eine schöne Erinnerung», sagt sie und lächelt. Von ihrem Pult sieht sie auf eine Terrasse mit gelben Stühlen. Zwei Studenten stehen dort und blicken hinein.
Man würde sie ja gern so profane Dinge fragen wie: Denken Sie mit Wehmut an Ihre Karriere als Aussenministerin zurück? Wie hat Ihre Ehe die Bundesratszeit überlebt? Verraten Sie endlich den Namen Ihres Coiffeurs? Und: Welche Hautcrème benützen Sie eigentlich? Persönliche Sachen halt. Doch Micheline Calmy-Rey hatte schon vor dem Treffen angekündigt: «Ich werde nicht in meinen Erinnerungen kramen, sondern über Aktuelles sprechen.» Zudem wollte sie sich die Fragen vorab anschauen. Jetzt liegen sie ausgedruckt vor ihr. Mit Bleistift hat sie sich Notizen gemacht. Sie sagt: «Ich muss Sie vorwarnen: Ich habe die Hälfte Ihrer Fragen gestrichen.» Sie lacht schallend, schlägt die Beine übereinander und sagt, sie wolle nicht über persönliche Dinge sprechen. Sie würde aber, fährt sie fort, sehr gern von ihrer neuen Aufgabe an der Uni erzählen.
ANNABELLE: Micheline Calmy-Rey, Sie wollen über Ihre jetzige Tätigkeit reden – nur leider wissen wir in der Deutschschweiz gar nicht so richtig, was Sie eigentlich machen.
MICHELINE CALMY-REY: Ja, für die Deutschschweiz ist Genf weit entfernt, auch kulturell. Umgekehrt ebenso. Kennen Sie Genf?
Nicht gut, leider. Aber jetzt erzählen Sie: Was machen Sie den ganzen Tag?
Ich bin Gastprofessorin an der Uni Genf. Das ist fast eine Vollzeitarbeit. Ich habe hier zwei Rollen: Ich lehre, das heisst, ich gebe ein Seminar über Global Governance und bereite für nächstes Semester eine Vorlesung zur Schweizer Aussenpolitik vor. Meine zweite Rolle ist es, die Uni Genf auf internationaler Ebene besser zu vernetzen.
War es ein Wunsch von Ihnen, an die Uni zu gehen? Oder war es einfach das spannendste Angebot, das Sie bekommen haben?
Es war ein ausdrücklicher Wunsch von mir. Deswegen bin ich abgetreten als Bundesrätin. Es war die letzte Chance, nochmals etwas ganz Neues anzufangen. Sehen Sie, ich hatte drei Phasen in meinem Leben: Zuerst führte ich zwanzig Jahre lang eine kleine Firma, die im Buchvertrieb tätig war, danach ging ich in die Politik – und jetzt bin ich hier.
Dass Sie nicht wie andere Ex-Bundesräte Verwaltungsratsmandate annehmen würden, sagten Sie schon bei der Ankündigung Ihres Rücktritts.
Ja. Dafür wäre ich nicht geschaffen. Ich hätte aber sicher viel Geld verdient!
Ein Uno-Mandat hätte Sie nicht gereizt?
Das hat man mir angeboten. Aber ich habe abgelehnt. Ich möchte jetzt hier sein, genau hier an der Uni Genf.
Warum gerade die Universität?
Ich finde, der Job ist eine natürliche Folge meiner Arbeit als Aussenministerin. Vorher war ich eine Macherin. Jetzt bin ich eine Denkerin. Das, was ich als Aussenministerin initiiert habe, kann ich jetzt rückblickend analysieren.
Mögen Sie Ihren neuen Job?
Extrem! Ich kann mein Wissen weitergeben, mich mit meinen Studenten austauschen – das gibt mir viel. Zudem treffe ich spannende Persönlichkeiten, Wissenschafter, Philosophen. Ich hätte mir nie erträumt, dass ich mal mit solchen Menschen zusammenarbeiten würde. Ich bin jetzt in einer völlig anderen Welt.
Sie sprechen von spannenden Personen, die Sie hier treffen. Das klingt seltsam aus dem Mund einer ehemaligen Aussenministerin, die vorher regelmässig mit Kofi Annan und Ministerpräsidenten verkehrte.
Kofi Annan hat übrigens eine Gastlektion in meinem Seminar gehalten. Meine alten Freunde kommen nun zu mir! (lacht) Wir hatten auch schon den Chef der letztjährigen Uno-Vollversammlung zu Besuch, Vuk Jeremic. Er hat meine Studenten gleich nach New York an eine Uno-Debatte eingeladen.
Ich habe in Zürich Politikwissenschaften studiert. Kofi Annan hat uns nie besucht.
Sie hätten nach Genf kommen sollen! Hier haben wir alle wichtigen Organisationen, ein Grossteil der internationalen Aussenpolitik wird hier gemacht. Ich war mit meinen Studenten auch schon im Menschenrechtsrat. Da haben wir einer Rede von Didier Burkhalter gelauscht …
… der ja Ihre Frauenquote im diplomatischen Nachwuchs abgeschafft hat.
Ja, das finde ich sehr schade. Es gibt zu wenig Diplomatinnen. Mit meiner Quote wollte ich den Frauen einen Schub geben. Sehr schade, wirklich.
Haben Sie ihm das gesagt?
Nein, ich habe ihn nicht mehr getroffen, seit ich aus dem Amt gegangen bin. Und ich glaube, wenn man abgetreten ist, muss man auch fähig sein, eine gewisse Distanz zum Nachfolger zu halten. Weg ist weg.
Ist Ihr Leben jetzt ruhiger? Die Belastung als Bundesrätin war doch bestimmt sehr hoch.
Das würde ich so nicht sagen. Dies hier ist ein intellektueller Job – er fordert mich nicht weniger als meine Arbeit vorher. Und ich stehe hier auch unter Druck. Ich war schon ein bisschen nervös vor der ersten Vorlesung. Schliesslich will ich, dass meine Studenten zufrieden sind und Ende Jahr keine schlechte Bewertung über mich abgeben.
Sie nervös? Das kann ich mir nicht vorstellen.
Tja, sehen Sie!
Schlafen Sie heute besser?
Ich habe immer gut geschlafen! (lacht schallend) Ich habe ein gutes Gewissen.
Vermissen Sie etwas aus Ihrer Zeit als Bundesrätin?
Das ist jetzt eben eine dieser Fragen, die ich gestrichen habe.
Zu vergangenheitsbezogen?
Genau.
Aber was ist anders als früher?
Ich bin wieder viel mehr auf mich zurückgeworfen. Die Denkarbeit kann mir keiner abnehmen, ich kann sie nicht delegieren. Ehrlich gesagt bin ich froh, dass mein Gehirn die intellektuelle Arbeit noch bewältigen kann. Ich bin auch froh, dass ich wieder selber denken kann.
Andere geniessen mit 68 Jahren ihre Pension, Sie starten derweil eine neue Karriere. Was treibt Sie an?
Sehen Sie, ich komme aus einer Familie ohne grosse Diplome. Ich war die Erste, die an die Universität ging. Es war nicht einfach. Aber ich wusste immer schon, was ich wollte. Mein Ziel war nie, Karriere zu machen. Mein Ziel war es, engagiert zu sein. Ich wollte immer schon etwas bewirken.
Was haben Sie als Aussenministerin bewirkt?
Genau darüber sinniere ich momentan: ob die offensive und transparente Aussenpolitik, wie ich sie gemacht habe, nachhaltig und immer noch sinnvoll ist. Und wie die Zukunft der Aussenpolitik aussehen wird. Die Schweiz ist sehr zurückhaltend in der Aussenpolitik. Die Frage ist: Warum? Ich wundere mich darüber, dass wir Schweizer immer noch das Gefühl haben, wir könnten uns hinter unseren Bergen verstecken.
In Europa tobt ein Sturm: Eurokrise, Finanzkrise, hohe Jugendarbeitslosigkeit, illegale Migration. Ist es da nicht normal, dass man sich ins Schneckenhaus zurückzieht?
Immer mehr Entscheide, die unser tägliches Leben bestimmen, werden auf internationaler Ebene getroffen. Da kann man noch lange von direkter Demokratie sprechen, aber die Stimmbürger haben längst kapiert, dass sie bei den meisten Entscheiden nicht mitbestimmen können.
Welches ist Ihre grösste Sorge für die Schweiz?
Eben diese Abschottungstendenz. Je mehr wir uns abschotten, desto weniger Einfluss haben wir im Ausland.
Mit dem Burkaverbot im Tessin haben wir uns auch keine neuen Freunde geschaffen.
Nein. Und wir senden damit sehr aggressive Signale ins Ausland. Ich meine, ich mag es auch nicht, wenn Frauen eine Burka tragen. Aber sie deswegen verbieten?
Sie waren als Aussenministerin viel im Ausland unterwegs. Jetzt sitzen Sie hier vor allem im Büro. Fehlt das Reisen?
Es stimmt, ich bin viel gereist, aber ich habe meist nur Ministerien und Sitzungsräume gesehen. Wenn ich jetzt reise, will ich das Land spüren. Ich bin ab und zu mit dem Club von Madrid unterwegs – das ist eine Gruppe von ehemaligen Staatschefs. Wir spazieren ein bisschen durch die Welt.
Wo sind Sie zuletzt spaziert?
In Aserbeidschan. Unser Club hat in der Hauptstadt Baku an einem Forum über kulturelle Diversität teilgenommen.
Jetzt steht Micheline Calmy-Rey auf, sagt: «Kommen Sie, ich zeige Ihnen die Terrasse», und klettert durchs Fenster nach draussen. Raben sitzen auf dem Sims und krähen. Manchmal seien sie gross wie Katzen, sagt Micheline Calmy-Rey. Dann zeigt sie in die Ferne: «Dort vorne sehen Sie die Kathedrale.» Sie beschreibt die Altstadt, erzählt von Calvin, der die Uni Genf gegründet hat. Dann begutachtet sie die scheintote Topfpflanze vor ihrem Fenster, untersucht die braunen Blätter. Zur Doktorandin sagt sie: «Wir kümmern uns nicht genug um dieses arme Ding.»
1.
«Ich möchte jetzt hier sein, genau hier an der Uni Genf»: Micheline Calmy-Rey lehrt Global Governance
2.
«Dies ist ein intellektueller Job. Er fordert mich nicht weniger als die Arbeit zuvor»
3.
«Meine Denkstube»: Micheline Calmy-Rey in ihrem winzigen Büro