Leben
Michael Jackson: Wenn das Idol entthront wird
- Text: Charlotte Theile; Fotos: GettyImages, Charlotte Theile, privat
Michael Jackson gilt bis heute als King of Pop. Sein Schaffen und musikalisches Genie prägten Generationen – doch seine Persönlichkeit, seine vielen Schönheitsoperationen und vor allem seine Beziehung zu Kindern sind umstrittener denn je. Wir haben einen seiner treusten Fans besucht und gefragt: Wie war es, als das perfekte Bild des Idols zu bröckeln begann?
An den Moment, mit dem alles begann, erinnert sich Ueli noch genau. Er ist damals zehn Jahre alt, es ist der Beginn einer Liebesgeschichte. Im Fernsehen läuft «Wetten, dass …? », 1995 gibt es an diesen Samstagen keine andere Möglichkeit als einzuschalten. Vor allem an diesem Abend – ein Superstar aus den USA ist zu Gast. Thomas Gottschalk trägt ein goldenes Jackett, eine goldene Krawatte, er kann selbst kaum fassen, wen er ansagen darf: Michael Jackson.
Im Publikum die King-of-Pop-Plakate, auf der Bühne Michael Jackson im strahlend weissen Hemd. Kunstnebel, «Earth Song». Hinter ihm brennende Wälder, vor ihm Hunderte Kinder mit weissen Lichtern in den Händen. Jackson gibt, wieder einmal, alles. Er rennt über die Bühne, reisst sich das weisse Unterhemd vom Leib, erklimmt ein Podest und singt dort, umgeben von gleissend hellem Licht von Umweltverschmutzung und Ungerechtigkeit. Jackson hängt sich in den Nebel, sein zerrissenes Hemd flattert um ihn herum. Inzwischen sind auch auf der Bühne Dutzende Kinder mit Lichtern.
Mit 16 Jahren gründete Meier die Fanseite jackson.ch
Ueli Meier sitzt in seinem Wohnzimmer in Winterthur, hinter ihm an der Wand sind Dutzende CDs und Platten aufgereiht. Der Abend, an dem er den «Earth Song» zum ersten Mal gehört hat, ist jetzt 25 Jahre her. Er sagt: «Abgesehen von meinen Eltern gibt es wohl niemanden, der mich so geprägt hat wie Michael Jackson. Und nicht nur mich. Seine Musik und sein ganzes Wesen haben die Welt verändert.» Er sagt auch: «Eigentlich möchte ich über diese Dinge gar nicht mehr reden. Ich tue es nur, weil ich muss.»
«Ich kennne die Vorwürfe»
Die Dinge, über die Meier eigentlich nicht mehr reden will, sind die, die inzwischen den meisten als Erstes einfallen, wenn sie vom King of Pop hören. Spätestens seit im Januar 2019 die fast vier Stunden lange Dokumentation «Leaving Neverland» veröffentlicht wurde, sind sich viele Menschen einig: Auf Jacksons Neverland-Ranch in Kalifornien, einst Symbol für kindlichen Leichtsinn, endlose Wasserrutschen und überbordenden Reichtum, sind jahrzehntelang Kinder missbraucht worden.
James Safechuck und Wade Robson, zwei Männer um die vierzig, die sich auffällig ähnlich sehen, berichten darin in quälender Ausführlichkeit, wie Michael Jackson sie mit Geschenken überhäuft hat, mit ihnen um die Welt gereist ist und sie nachts mit in seine Hotelzimmer genommen hat. Dort habe ihr Idol ihnen Pornos gezeigt, sie angefasst, sie zu allerlei sexuellen Handlungen motiviert und sich, an vielen, vielen Abenden, neben ihnen selbst befriedigt.
«Ich kenne diese Vorwürfe seit Jahren», sagt Ueli Meier. Er ist um Ausgewogenheit bemüht. «Es ist richtig: Michael Jackson hatte ein komisches Verhältnis zu Kindern. Diese Nähe, dass sie bei ihm übernachtet haben … es ist gut, dass man da hingeschaut hat. Ich bin aber überzeugt, diese Männer lügen. Michael hat sie nicht missbraucht.»
«Ich würde eher sagen, ich weiss wahnsinnig viel über ihn»: Ueli Meier.
Es ist nicht so, als wäre Ueli Meier leichtfertig zu diesem Schluss gekommen. 2001, mit gerade einmal 16 Jahren, gründete Meier die Fanseite jackson.ch, die seither zu einer Art Nebenjob für ihn geworden ist. Er weiss so vieles über Michael Jackson, dass er im Gespräch immer wieder abschweift, mit unzähligen Namen früherer Manager, Tänzer, Staatsanwälte oder entfernter Verwandter um sich wirft. Die Zahl derer, die an die Unschuld des King of Pop glauben, sie beweisen oder zumindest wahrscheinlicher machen können, scheint grenzenlos zu sein. Meier kennt sie alle. Er hat die Gerichtsakten der Prozesse, in denen Michael Jackson sich wegen Kindesmissbrauch verantworten musste, auf seinem Computer gespeichert. Er weiss auch, dass sich eines der mutmasslichen Opfer in einer eidesstattlichen Aussage widersprochen hat und dass die Mutter eines anderen Kindes, das auf der Neverland-Ranch ein und aus gegangen ist und Jackson später schwer belastet hat, wegen Sozialhilfebetrug verurteilt wurde. Er fragt sich, warum die beiden Männer aus «Leaving Neverland» ihre Erlebnisse erst zu einem Zeitpunkt öffentlich gemacht haben, als ihre Karrieren ins Stocken geraten sind.
Es sind die typischen Zweifel, denen sich Opfer von sexuellem Missbrauch gegenübersehen. Ueli weiss, dass er in dieser Sache nicht neutral ist. Und trotzdem.
Für ihn ist die Geschichte von Michael Jackson die eines gutherzigen, grosszügigen Mannes, der den falschen Leuten vertraut hat und immer wieder ausgenutzt wurde. Eines musikalischen Genies, das die Welt mit seiner Musik bewegt hat wie kaum ein Mensch vor ihm. Und natürlich: Die tragische Geschichte eines Mannes, der alles von sich gegeben hat und am Schluss als gebrochener, einsamer Mann sterben musste. Entstellt von Schönheitsoperationen, die ihn der Welt sympathischer machen sollten, verraten von denen, die er als Freunde betrachtet hat. «Stell dir doch nur mal vor, er hat es nicht getan. Wie grausam ist es dann, was mit ihm gemacht wurde?» Meier schweigt. Doch gleich darauf sagt er nachdenklich: «Natürlich, ich war nicht dabei. Wenn es stimmt, was diese beiden Männer erzählen, tut es mir schrecklich leid, dass ich ihnen widerspreche.» Ueli Meier besitzt Dutzende Ordner mit Informationen zu Michael Jackson. Er hat Hunderte Zeitungsausschnitte, Biografien und Dokumentationen in seinem Arbeitszimmer abgelegt. Wer sich die Sammlung anschauen will, sollte ein paar Stunden Zeit mitbringen.
Darf «Billie Jean» noch gespielt werden?
Der King of Pop sprengt bis heute alle Schubladen, ist so vieles gleichzeitig, dass es schwerfällt, den Überblick zu behalten. Ein Musiker, der als schwarzes Kind bekannt wurde und zeitlebens für die Rechte schwarzer Menschen kämpfte – aber erst als weisse Kunstfigur zum weltweit gefeierten Megastar wurde. Ein erwachsener Mann, der darum kämpfte, Kind bleiben zu dürfen, sein Zuhause dem Peter-Pan-Traum ewiger Unschuld widmete – und sich mehrmals in Gerichtsprozessen wiederfand, in denen ihm vorgeworfen wurde, kleine Jungen ihrer Kindheit beraubt zu haben. Ein kreatives Genie, zu dessen Liedern auch elf Jahre nach seinem Tod und trotz aller Skandale auf fast jeder Party getanzt wird.
Platten, Fanartikel, Zeitungsausschnitte und Poster – die Sammlung Meiers ist riesig
Ueli Meier, der in erster Linie Musikliebhaber und Platten-Nerd ist, kennt sich dank Michael Jackson auch mit jenen Fragen aus, die an amerikanischen Colleges und in deutschen Feuilletons rauf und runter diskutiert werden: Ist es legitim oder sogar geboten, umstrittene Künstler zu boykottieren? Dürfen «Billie Jean» und «Smooth Criminal» nicht mehr gespielt werden, wie das einige Radiosender nach der Veröffentlichung von «Leaving Neverland» angekündigt haben?
Meier findet, dass diese «Cancel Culture» etwas vom schlimmsten sei, was die Unterhaltungsindustrie in den letzten Jahren gesehen hat. Er würde dem King of Pop sogar dann treu bleiben, wenn sich die Vorwürfe von Wade Robson und James Safechuck beweisen liessen.
Ich denke, in dem Fall würde ich Kunst und Künstler trennen», sagt Meier. Besonders überzeugt tönt er nicht. Michael Jackson ist für ihn nicht nur einer, der gute Tanzmusik gemacht hat. Es ist der Mensch hinter den Liedern, der ihn fasziniert. Meier kann stundenlang über die bescheidene Kindheit der Jackson Five erzählen. Er hat unzählige Berichte gelesen, in denen Menschen, die Michael Jackson nahe waren, seine Kreativität und Feinfühligkeit, seinen Witz und seinen grossen Willen, Gutes auf der Welt zu bewirken, beschreiben. «Ich könnte auch sagen: Seine Musik ist Beweis genug, dass er Menschen niemals solches Leid zugefügt hätte», sagt Meier. «Aber natürlich kann Musik das nicht beweisen.»
Von Fans kritisiert
Meier ist in den vergangenen Jahren immer wieder öffentlich als Michael-Jackson-Fan aufgetreten, war im Schweizer Fernsehen und verschiedenen Radiosendungen zu Gast. Er gibt diese Interviews vor allem, um zu zeigen, dass Fans keine Fanatiker sein müssen. «Natürlich weiss ich, dass Michael auch eine dunkle Seite hatte. Dass er beziehungsgestört war, dass er Leute ohne Grund entlassen hat, dass er die Kinder um sich herum vielleicht auch abhängig gemacht hat. Es gibt Fans, die ihn als Heiligen sehen. Das tue ich nicht.» Nicht selten wird Meier dafür von anderen Fans kritisiert. «Das ist mir egal. Ich bin realistisch. Und ich finde auch diese dunklen Seiten interessant. Wir Menschen sind alle keine Heiligen.»
Für die Kritiker der Cancel-Culture trifft Ueli Meier mit dieser Haltung ins Herz der Debatte. Schliesslich muss die Frage erlaubt sein, wie unbescholten ein Künstler, eine Filmemacherin, ein Schriftsteller eigentlich sein muss, damit deren Werke nicht in Gefahr sind, verbannt zu werden? Der Vorwurf, dem sich Michael Jackson bis zu seinem Medikamenten-Tod im Jahr 2009 ausgesetzt gesehen hat, ist einer der schlimmsten, die es gibt. Andererseits wurde Jackson in mehreren Prozessen freigesprochen – und solche Freisprüche lassen sich ebenso wenig ignorieren wie die Bilder, die den King of Pop händchenhaltend mit unterschiedlichen Knaben kurz vor der Pubertät zeigen.
Für Meier lassen sich diese beiden Fakten ganz einfach zusammenbringen: Er glaubt, Jackson fühlte sich zwar zu Kindern hingezogen, aber nicht auf sexuelle Weise. Doch auch Meier weiss, wie aufgeladen die Situationen sind, die Michael Jackson auf seiner Neverland-Ranch entstehen liess. Auf der einen Seite ein erwachsener Megastar, auf der anderen Seite ein Fan, der alles dafür tun würde, seinem Vorbild auch nur die Hand zu schütteln. Ein unglaubliches Machtgefälle, besonders wenn der Fan erst sieben oder neun Jahre alt ist.
Eher Kenner, denn Fan
Seine Liebe zu Michael Jackson hat ihn nicht blind werden lassen für die Leerstellen und Fragezeichen im Leben seines Idols. Meier hat viele Freunde, die mit Michael Jackson wenig anfangen können – und er zuckt sogar kurz zusammen, wenn man ihn als Fan vorstellt. «Ich würde eher sagen, ich weiss wahnsinnig viel über ihn.» – «Kann man also sagen: Du bist ein Kenner?» – «Ein Kenner? Ja, ich denke, das passt.»
Doch auch die Informationen, die Meier gesammelt hat, all die Zeitungsberichte, Gerichtsakten, Dokumentationen und Zeugen, reichen nicht aus, um Michael Jacksons Unschuld überzeugend zu machen. Die Bilder, die Jackson mit kleinen Jungen zeigen, die Videos, in denen er davon spricht, dass es nichts «Liebevolleres» geben könne, als fremde Kinder in sein Bett einzuladen, die detaillierten Berichte seiner mutmasslichen Opfer – sie erzählen eine eindeutige Geschichte. Eine, die wenig mit unschuldigen Pyjama-Parties zu tun hat.
Vier Jahre vor seinem Tod wurde Michael Jackson in New York vom Vorwurf freigesprochen, den krebskranken Gavin Arvizo sexuell missbraucht zu haben. Die Geschichte von Arvizo und seiner Familie reichte nicht aus, um alle Zweifel an Jacksons Schuld zu beseitigen.
Entsprechend unglücklich war die Jury, den King of Pop laufen zu lassen. «Wir hoffen, dass er nicht mit noch mehr Kindern schläft», erklärte der Sprecher am Tag der Urteilsverkündung.