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Menschliche Lastesel: Waren-Transport an der europäisch-afrikanische Grenze

Leben

Menschliche Lastesel: Waren-Transport an der europäisch-afrikanische Grenze

  • Text: Diana Laarz; Fotos: Sascha Montag/Zeitenspiegel

Aus der spanischen Exklave Melilla gelangen Tag für Tag Tonnen von Billiggütern nach Afrika, deklariert als «Handgepäck». Ein Millionengeschäft auf dem Rücken von Frauen, die sich als menschliche Lastesel verdingen.

Wie die Tiere», sagt der Polizist und zückt seinen Knüppel. «Wie die Tiere», sagt der Lastenträger und stürzt sich zurück ins Getümmel. Wie die Tiere, denkt man selbst. Warum stellen die sich nicht vernünftig an? Können sie nicht. Wollen sie nicht. Ist vielleicht auch nicht der richtige Ort für die Sehnsucht nach ein bisschen Ordnung. Das hier ist Melilla, genannt «Melilla, die Alte», spanischer Aussenposten der «Festung Europa» auf marokkanischem Boden.

Nichts soll hineingelangen in diese Festung. Einiges darf aber hinaus, Waren zum Beispiel. Altkleider, Turnschuhe, Pneus, Decken. Und damit der Handel möglichst wenig kostet, schleppen Menschen die Waren auf ihrem Rücken über die europäisch-afrikanische Grenze. Das sind dann «die Tiere».

Habiba Uardani, 73 Jahre alt

Wir treffen dort Habiba Uardani, 73 Jahre alt, ein Gesicht mit Falten wie mit einem Meissel hineingetrieben. Auf ihrem Rücken trägt sie, eingeschlagen in ein Tuch, einige Wolldecken, die Enden des Tuchs hat sie vor ihrer Brust zusammengeknotet. Das Paket ist viel breiter als ihr Rücken. Mit ihrem ausgezehrten Körper stemmt sich Habiba Uardani gegen den Druck der Menschenmasse von hinten und von der Seite, um nicht überrollt zu werden. Eine Frage, zugerufen durch den Tumult: «Habiba, ist diese Arbeit nicht zu schwer für eine alte Frau?» Habiba Uardani führt ihre Hand zum Mund, als würde sie ein paar Erdnüsse knabbern. Soll heissen: Sie muss doch Geld zum Essen verdienen. Dann verschluckt die vorwärtswogende Menschenmenge die Frau.

Melilla ist seit der Eroberung im Auftrag der katholischen Könige Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. von Aragón im Jahr 1497 spanischer Besitz. 13 Quadratkilometer Spanien in Marokko, nicht viel grösser als das Stadtgebiet von Aarau, 84 000 Einwohner.

Die Stadt war eine der beliebtesten Baustellen der spanischen Gründerzeit-Architekten. Hier erhoben sich 1936 Soldaten unter General Francisco Franco gegen die Zweite Spanische Republik und lösten damit den Spanischen Bürgerkrieg aus. Ein geschichtsträchtiger Ort.

Heute ist Melilla eine Stadt, in der Europa und Afrika aufeinanderprallen. Mit all der Schizophrenie, die dazugehört. Berühmt wurde ein Foto, auf dem Bewohner von Melilla in Seelenruhe auf dem städtischen Golfplatz putten, während im Hintergrund eine Gruppe dunkelhäutiger Flüchtlinge versucht, den Grenzzaun zu erklimmen.

EU-erdachte Abwehrmassnahme

«Zaun» ist eigentlich eine Verniedlichung für das elf Kilometer lange Bollwerk, das Melilla wie ein Bandwurm umzingelt. Drei benachbarte Zäune sind es, bis zu sechs Meter hoch, den vermeintlichen Eindringlingen entgegengeneigt, stacheldrahtbewehrt, mit Maschen so klein, dass kein Finger hineingreifen kann. EU-erdachte Abwehrmassnahme gegen ungebetene Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten.

Für das, was trotzdem über die Grenze soll, gibt es rund um Melilla vier Löcher im Zaun, vier Grenzübergänge. Über einen gehen die marokkanischen Kinder, die spanische Schulen besuchen. Über den nächsten läuft der Warenhandel mit Lastwagen. Den dritten benutzen vor allem die marokkanischen Arbeitskräfte, die in den spanischen Restaurants und Haushalten ihr Geld verdienen. Der vierte, mit Namen Barrio Chino, ist auch für den Handel da. Nur kann man sich nicht darauf einigen, wie man diesen Handel nennen soll. Für die Marokkaner ist er illegal, wenngleich geduldet, bei den Spaniern heisst er «atypisch».

Zehn Uhr vormittags am Grenzübergang Barrio Chino. Aus Marokko ragt das grün-weisse Minarett einer Moschee über den Zaun, auf der spanischen Seite vereinsamen Kakteen und vom Meereswind zerzauste Bäume. Vor einer Stunde haben ein paar Männer unter ungeduldigen Blicken und Rufen die faustgrossen Schlösser am Grenzzaun gelöst, noch zwei weitere Stunden wird die Grenze offen sein. Zuerst hört man die Menschen, die vor dem Übergang drängeln. Kreischen, Pfeifen, anschwellendes Surren und das dumpfe Klatschen von Gürteln und Knüppeln. Dann sieht man sie.

Achtzig Kilogramm schwer

Hunderte Marokkaner drücken sich der Drehtür am Grenzübergang entgegen. Jeder von ihnen hat ein weisses Bündel dabei, manch eines achtzig Kilogramm schwer. Die Träger balancieren die Ballen auf ihrem Rücken, sie werden ganz krumm unter dem Gewicht. Sie wuchten die Pakete über die Schultern und Köpfe ihrer Vorder- leute und steigen hinterher. Einige haben ein dünnes Skateboard dabei und schieben die Bündel wie einen störrischen Esel an. Eine Frau sinkt mit einem Asthmaanfall zu Boden, einem jungen Mann fliesst das Blut von einer Platzwunde am Kopf den Hals hinab, ein anderer führt seinen blinden Freund an der Hand.

Die Menschen drängeln sich durch einen immer schmaleren Gang. Gebändigt nur durch etwas, das einmal ein Zaun war. Die Löcher sind gestopft mit Paletten, Blachen und Brettern. Von oben hängen die Fetzen eines zerstörten Sonnenschutzes herab.

Ein paar Männer der spanischen Guardia Civil, der Militärpolizei, spannen ein Absperrband. Sie haben kaum die Enden verknotet, da steigen die ersten Menschen schon darüber hinweg.

Die Träger, die es endlich über den Grenzübergang geschafft haben, laden ihr Bündel ab und laufen zurück auf die spanische Seite. Ein neues Bündel auf den Rücken hieven, sich krumm machen und wieder hinein ins Getümmel. Wer viel Ware über die Grenze schafft, verdient mehr Geld.

Auch Habiba Uardani, die alte Frau mit den Wolldecken, taucht wieder auf. Erstaunlich schnelle geschäftige Schritte, für einige Minuten befreit von der Last. Aber ihr Körper bleibt leicht gebeugt. Das Los einer langjährigen Lastenträgerin.

Esel-Ladys

Sie läuft zum Händler, der ihr neue Decken aufbürdet, gute 500 Meter entfernt vom Grenzübergang. Der Weg zur Grenze geht leicht bergan. Langsam, als würde sie jeden ihrer Schritte zählen, kehrt Habiba Uardani zurück. Zeitungen schreiben über Frauen wie Habiba, sie nennen sie Esel-Ladys. Es sind Einwohner der marokkanischen Grenzstadt Nador, die am Übergang Barrio Chino schuften. Dank eines Abkommens zwischen Nador und Melilla brauchen sie kein Visum, um die Grenze zwischen Afrika und Europa zu überqueren. Besser noch: Alles, was die Menschen zu Fuss über diese Grenze schleppen können, gilt als Handgepäck. Und das bleibt unverzollt und unversteuert.

Waren im Wert von rund 360 Millionen Franken erreichen den Hafen von Melilla jedes Jahr. Containerschiffe aus Europa, Kanada, Indien und China legen an, beladen mit gebrauchter Kleidung, Haushaltswaren, Decken, Schuhen. Sechzig Prozent der Waren sind für Marokko und ganz Afrika bestimmt. Der lukrative Handel über Barrio Chino ist zu einem der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren für Melilla geworden. Schliesslich ist es viel billiger, die Produkte auf dem Rücken von Menschen über die Grenze zu schicken als verzollt und versteuert im Lastwagen.

Habiba Uardani wohnt an einem Berghang, der vor einigen Jahren von der Stadt Nador einverleibt wurde. Der Stadtteil heisst Haya Ascari, von hier aus ist der Blick frei aufs Mittelmeer. Bunt verputzte Häuser, die so aussehen, als würden sie demnächst den Hang hinunterpurzeln, gelb, rot, orange, das Haus von Habiba Uardani ist lila. Vor ihrer Tür wachsen Pflanzen in Plastikkübeln.

Sie trägt wie immer ein helles Kopftuch, auf ihrer Stirn und auf dem Kinn sind fingernagelgrosse Kreuze tätowiert, die Handinnenflächen und Fusssohlen sind hennarot. Habiba Uardani ist vor kurzem von ihrer Arbeit am Grenzübergang nachhause gekommen. Sie hat an diesem Tag gut verdient, sie ist glücklich, sie ist erschöpft. Und sie versteht nicht, warum sich ausländische Journalisten für ihre Arbeit interessieren. «Es wird sich sowieso nie etwas ändern.»

Seit dem Tod ihres Mannes vor 15 Jahren fährt Habiba Uardani jede Woche von Montag bis Donnerstag zum Grenzübergang Barrio Chino. Sie verlässt ihr Haus um fünf Uhr in der Früh. Wer zu spät kommt, landet in der Schlange ganz weit hinten.

Dreieinhalb bis sechs Franken

Habiba Uardani trägt nur Wolldecken, die chinesische Schiffe nach Melilla bringen, alles andere wäre zu schwer. Pro Bündel, das sie über die Grenze schleppt, bekommt sie von einem marokkanischen Händler dreieinhalb bis sechs Franken, je nachdem, wie gross in Afrika gerade die Nachfrage nach chinesischen Wolldecken ist. Manchmal schafft sie es wegen des grossen Gedränges nur einmal über die Grenze, heute war sie dreimal drüben. An Nachmittagen wie diesem kann Habiba Uardani endlich mal wieder einkaufen gehen. Lebensmittel für die kommenden Tage.

Von Habiba Uardanis Lohn lebt nicht nur sie allein. Sie gibt ihrer Tochter etwas ab, die mit ihr im Haus wohnt. Und sie unterstützt einen ihrer Söhne, der in Melilla lebt, aber nur selten arbeitet. «Er ist zu sehr in den Alkohol verliebt», sagt sie.

Habiba Uardani geht in ihre Küche, einen Verschlag neben der Eingangstür. Ein blau gemaltes Muster an der Wand, kaltes Wasser spritzt aus dem Wasserhahn. Sie wäscht einen Blechtopf ab. Was wird aus ihr und ihrer Familie, wenn sie die Wolldecken irgendwann nicht mehr tragen kann? Sie zuckt mit den Schultern. Sie weiss es nicht.

Stösse abwehren

Am Grenzübergang steht Habiba Uardani meistens mit einer Gruppe anderer Frauen am Strassenrand, manchmal stundenlang, ihr Bündel ohne Unterlass geschultert, und wartet darauf, dass ein Polizist Erbarmen hat und sie zum Kopf der Warteschlange vorlässt. Dann muss sie nur noch ein wenig drängeln, ein paar Stösse abwehren.

Früher war die Arbeit am Barrio Chino leichter. Früher waren in Nador nicht so viele Menschen arbeitslos und verzweifelt. Früher waren die Frauen am Grenzübergang meistens unter sich. Seitdem die Wirtschaft kriselt, kommen auch junge Männer zum Barrio Chino, die drängeln, stossen und schlagen. An einem Ort, an dem das Recht des Stärkeren gilt, sind Frauen wie Habiba Uardani nun erst recht die Verliererinnen. Sie sagt: «Ich wünschte, die Männer würden wieder verschwinden.»

Der Handel am Barrio Chino ist chaotisch, gefährlich, vielleicht aber auch hilfreich, sogar nützlich. Denn die Händler, die die Lastenträger über die Grenze schicken, verdienen nicht nur an den krummen Rücken ihrer Arbeiter, sie geben Hunderten Menschen einen Job, die sonst nicht wüssten, woher das Geld für Essen nehmen.

Menschenunwürdige Bedingungen

Trägerinnen wie Habiba Uardani beschweren sich nicht nur über das Chaos, die menschenunwürdigen Bedingungen. Sie sagen auch, dass sie auf diesen Handel, diese Arbeit angewiesen sind.

«Seit 15 Jahren ist die Grenze unser grösstes Problem.» Diesen Satz sagt Enrique Alcoba Ruiz, Präsident der Handelskammer von Melilla, ein Schuhhändler in dritter Generation. In seinem Büro hängen Kunstdrucke und Fotografien vom Treffen mit dem spanischen König.

Ruiz macht sich nicht etwa Sorgen um den illegalen oder atypischen Handel über den Barrio Chino. Er meint den Zaun, der mit den Jahren immer höher und undurchlässiger geworden ist und damit den Handel generell ins Stocken brachte. Der Präsident der Handelskammer diskutiert mit spanischen und marokkanischen Stadtvertretern über die Eröffnung eines weiteren Grenzübergangs. Wie die Ware schliesslich durch die Lücken im Zaun gelangt, ist für ihn zweitrangig. Eine Frage an Ruiz: «Wie könnte man den Handel am Barrio Chino verändern?» Seine Gegenfrage: «Wer will denn daran etwas ändern?»

Ein Gespräch mit Enrique Alcoba Ruiz ist wie Schattenboxen. Fragen, die ins Leere laufen. Und Antworten auf nicht gestellte Fragen.

Wer ist verantwortlich für das Chaos am Barrio Chino? Die Marokkaner selbst, sagt Enrico Alcoba Ruiz. Wer sollte eine Gewichtslimite für die Träger festlegen? Die Marokkaner, sagt Ruiz. Wer sollte eine Grenzanlage bauen, in der sich die Menschen nicht ständig über den Haufen rennen? Für Schatten sorgen? Sanitäre Anlagen errichten? Nicht die Spanier, sagt Ruiz. «Das sind marokkanische Bürger, die nur zu uns kommen, um diese Arbeit zu verrichten, und dann sind sie wieder weg.»

200 000 Menschen

Auch Ruiz sagt, dass am Ende alle von diesem Handel profitieren. 200 000 Menschen – Verkäufer, Transporteure, Wiederverkäufer – in und um Melilla und in Ceuta, der zweiten spanischen Exklave in Marokko. «Wenn das System zusammenbricht, wer gibt dann diesen 200 000 Menschen Arbeit?»

Vermutlich würde der Grenzhandel nicht zusammenbrechen, wenn es am Barrio Chino ein paar Toiletten, stabile Zäune und mehr Polizisten gäbe. Doch niemand scheint daran ein Interesse zu haben. Und so tragen weiterhin Menschen waschmaschinenschwere Bündel auf ihrem Rücken, müssen sich niedertrampeln lassen, werden verletzt. Einige Lastenträger erzählen, es habe auch schon Todesfälle gegeben.

«Wenn man das jeden Tag mit ansieht, denkt man irgendwann, das sei Normalität, aber das ist es nicht. Es ist nicht normal», sagt ein Polizist der Guardia Civil am Grenzübergang Barrio Chino. Mit zwölf Männern ist die Militärpolizei dort täglich im Einsatz. Das reicht gerade eben, um die meisten Schlägereien zu beenden und die Schwächsten in der Menge zu beschützen. Sie machen das Chaos erträglicher, mehr bleibt ihnen nicht übrig.

Die Polizisten schwanken zwischen kaum unterdrückter Aggressivität und Hilfsbereitschaft. Sie sehen zu, wie hinter ihrem Rücken Alkohol über die Grenze geschmuggelt wird, verbinden Kopfwunden, schlagen mit ihren Knüppeln auf die Warenbündel, um Menschen auseinanderzutreiben.

Mit gezücktem Messer

Ein Feldwebel tritt den Lastenträgern, die immer wieder versuchen, auf Schleichwegen die Schlange zu umgehen, mit gezücktem Messer entgegen. Einige Male schneidet er die Haltegurte der Warenpacken durch, die Männer müssen umkehren und ihre Last neu bündeln. Er hat eine Erklärung dafür, warum am Barrio Chino alles drunter und drüber geht. «Das sind Muslime, das Chaos liegt denen im Blut.»

Habiba Uardani ist wie immer sehr früh zum Grenzübergang gekommen. Sie sieht kleiner aus als beim Besuch in ihrem Haus, das Bündel auf ihrem Rücken lässt sie schmaler erscheinen. Es weht ein warmer Wind an diesem Tag, ein leichter Schweissfilm liegt auf ihrem Gesicht.

Sie lehnt halb versteckt hinter einem Transporter, aus Angst, die Guardia Civil könnte sie ein paar Meter zurücktreiben. Habiba Uardanis Blick geht über die Menschenmenge. Eine Gruppe Lastenträger, die versucht, eine Polizeibarriere zu durchbrechen. Männer, die mit Gürteln auf Drängler einschlagen. Kreischende Frauen, die auf die Knie sinken. Für einen Moment sieht es so aus, als wolle Habiba Uardani nicht dazugehören. Sie zögert. Dann geht sie los. Mitten hinein.

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