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«Menschenrechte haben nur so viel Wert, wie wir ihnen geben»

Leben

«Menschenrechte haben nur so viel Wert, wie wir ihnen geben»

  • Text: Helene Aecherli, Foto: iStock (1), zVg

Lange stand Andrea Huber als Sängerin auf der Bühne. Heute erhebt sie ihre Stimme für die Menschenrechte. Denn die gelten bei uns als selbstverständlich, sagt sie. Und das sei gefährlich.

Fällt das Stichwort Menschenrechte, denkt man hierzulande an das Recht auf freie Meinungsäusserung, an das Recht auf Bildung, auf Versammlungs- oder Religionsfreiheit. Und man wird es nach ganz weit weg denken, es assoziieren mit gesellschaftlichen Missständen in China, Saudiarabien oder Venezuela und hiesige Polit- oder Geschäftsreisende in die Pflicht nehmen, auf Besuchen in den jeweiligen Ländern Menschenrechtsverletzungen anzuprangern. Dass Menschenrechte relativ junge und fragile politische Errungenschaften sind, ist hingegen kaum ein Thema. Sie gelten als selbstverständlich – nicht zu Unrecht. Die Schweiz gehört zu den stabilsten Staaten der Welt, ihr demokratisches System ist einzigartig, Grundrechte und Gewaltentrennung sind in der Verfassung verankert. Umso auffallender sind deshalb Stimmen, die dieses Grundvertrauen herausfordern: «Es fehlt am Bewusstsein dafür, dass Menschenrechte nur so viel Wert haben, wie wir ihnen geben», sagt Andrea Huber. «Es ist wichtig, zu zeigen, dass sie auch in der Schweiz nicht in Stein gemeisselt sind.»

Andrea Huber hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, genau das zu tun. Der Satz: «Ich will den Menschenrechten in der Schweiz eine Stimme geben», ist längst zu ihrem Mantra geworden. Die 50-jährige Luzerner Politologin gilt als eine der profiliertesten Aktivistinnen des Landes. Wichtigste Plattform auf ihrer Mission ist die von ihr initiierte Bewegung Schutzfaktor M, die als «Allianz der Zivilgesellschaft» mit 120 Schweizer NGOs gegen die Selbstbestimmungsinitiative der SVP kämpft. Die Abstimmung darüber wird, je nachdem wann Sie diese Zeilen lesen, bereits vorbei sein. Doch an ihrem Engagement dagegen lässt sich wie an kaum etwas anderem festmachen, was für Andrea Huber exemplarisch ist: eine fast schon schwindelerregende Leidenschaft.

Wir treffen uns zum Gespräch im Neubad, dem zum Café umfunktionierten einstigen Hallenbad der Stadt Luzern. Andrea Huber ist eine grosse Frau, sie hat ein breites Lachen und eine ungewöhnlich sonore, ja geradezu heisere Stimme. Sie habe Knötchen auf den Stimmbändern, erklärt sie, am Lehrerseminar wurde sie deshalb vom Singen dispensiert – was sie aber nicht daran gehindert hat, später als Soul-, Jazz- und Popsängerin unter dem Künstlernamen Andra Borlo durch die Schweiz und die USA zu touren, sogar mit einem Vertrag des Plattengiganten Universal Music in der Tasche. Dass sie trotz der Knötchen zu singen begann, verdankt sie im weitesten Sinn der Schweizer Armee: Mit zwanzig hatte sie einen Freund, der im Luzerner Zentralgefängnis eine Haftstrafe verbüsste, weil er den Militärdienst verweigert hatte. Um mit ihm in Kontakt zu bleiben, handelte sie sich Zugang zur Stube eines Bekannten aus, der gegenüber dem Gefängnis wohnte. «Mein Freund und ich haben jeweils über die Strasse hinweg miteinander geredet», erzählt sie. «Er war mit einem Gitarristen in der Zelle, der rief mir mal zu: ‹Du hast eine tolle Stimme. Wenn ich rauskomme, gründen wir eine Band!› Sie sehen», fügt sie augenzwinkernd hinzu, «Musik und Menschenrechte haben in meinem Leben schon immer zusammengehört.»

Schutzfaktor M gründete sie, und das ist bemerkenswert, bevor die SVP-Initiative überhaupt lanciert worden war. Den Anstoss gab ein Artikel der «Aargauer Zeitung» vom Februar 2013. Der damalige SVP-Präsident Toni Brunner spielte darin mit dem Gedanken, die Europäische Menschenrechtskonvention zu kündigen. Andrea Huber war sofort klar: «Der Schutz der Menschenrechte in der Schweiz ist bedroht.» Zum damaligen Zeitpunkt unterrichtete sie an der Berufsschule und trat als Sängerin auf, ihr Mann, ein argentinischer Gitarrist, den sie während CD-Aufnahmen in Buenos Aires kennengelernt hatte, war dabei, sich in der Schweiz zu etablieren, ihre gemeinsame Tochter eben zwei Jahre alt geworden. Sie hatte sich darauf eingestellt, ihr Teilzeitpensum und somit auch das Familieneinkommen zu erhöhen, stattdessen sprang sie in die unbezahlte Leere: «Ich ging voll auf Risiko», sagt sie. «Aber das war es mir wert. Wenn ein derart starker Impuls da ist, darf man sich nicht zu viel überlegen, sondern muss einfach mal anfangen» – und sie lieferte so ganz nebenbei ein Lehrstück dafür, wie Herzblut in politisches Engagement umgesetzt werden kann.

Andrea Huber vernetzt sich mit der Plattform von Humanrights.ch, bildet eine Arbeitsgruppe, veranstaltet runde Tische für Parlamentarier jeglicher Couleur, baut einen Beirat mit Vertretern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur auf, zieht ehemalige Bundesrichter und Medienspezialisten hinzu. Sie arbeitet Tag und Nacht. Ist ständig abrufbar, kämpft mit schlechtem Gewissen, weil sie das Gefühl hat, ihre Familie zu vernachlässigen. Findet sie keinen Babysitter, nimmt sie ihre Tochter an Medienveranstaltungen mit oder sitzt mit dem Laptop auf den Knien am Sandkasten und gibt Interviews. Irgendwann kann sie sich einen Lohn auszahlen, das verringert den Druck. Ihr Mann übernimmt den Haushalt, putzt, kocht. Das finde er zwar nicht immer lustig, gibt sie zu, doch habe er nie versucht, sie zurückzuhalten. «Er schätzt die Schweiz sehr und findet sie ein tolles Land, um ein Kind grosszuziehen. Er ist in der Militärdiktatur Argentiniens gross geworden und weiss, was es bedeutet, wenn Menschenrechte nicht im Kern geschützt werden.»

Ihre Hartnäckigkeit beeindrucken Unterstützer und irritieren Gegner. «Frau Huber vertritt ihre Position schon fast fanatisch», meint etwa ihr Gegenspieler, SVP-Nationalrat Hans-Ueli Vogt in der «NZZ am Sonntag». «Sie sieht die ganze Welt durch die Brille der Menschenrechte, die Vertretung der Geschlechter, die Immigration, Arbeitnehmerrechte – bei allem geht es für sie immer gleich um die Menschenrechte.»

Nüchtern betrachtet könnte man Andrea Huber in der Tat einen Tunnelblick vorwerfen, vielleicht sogar Verbissenheit oder einen zu plakativ zur Schau gestellten Alarmismus. Sie selbst versteht sich jedoch als frühe Warnerin. «Wir sind heute als Gesellschaft durch die Flüchtlingsströme, die wirtschaftliche Unsicherheit und die Angst vor Terroranschlägen herausgefordert wie selten zuvor», betont sie. «Die Leute fühlen sich verunsichert, die Privatsphäre ist nicht mehr so wichtig, Überwachungen werden legitim. Meinungsfreiheit, das Recht auf Privatsphäre, faire Verfahren oder das Recht auf Freiheit und Sicherheit sind Themen, die vermehrt verhandelbar werden. Ich will mit meiner Arbeit den Boden schaffen, damit Angriffe auf Grundrechte verhindert werden können.»

Aber ja, sie sei eine Getriebene, sagt Andrea Huber. Den Ursprung hierfür verortet sie in ihrer Biografie. Sie wurde 1968 in Chicago geboren – ihr Vater schloss dort seine Studien ab –, direkt in die Zeit der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen. Ihre Mutter wuchs in Hitler-Deutschland auf, von ihr habe sie «eine Art transgenerationelle Verantwortung» geerbt. «Bis heute lese und sehe ich mir alles an, was unter den Nazis passiert ist», erklärt sie. «Ich kann es noch immer nicht fassen, dass die Nazis überhaupt an die Macht kommen konnten.» Als Jugendliche löcherte sie ihre Familie: «Habt ihr gewusst, was Hitler wollte? Was habt ihr gemacht? Was habt ihr gesagt?» Sie fand heraus, dass sie zwar keine Nazis in der Familie hatten, aber auch niemanden, der sich dagegen engagiert oder Zivilcourage gezeigt hätte. Sie schwor sich: «Ich will so leben, dass ich einmal sagen kann: Ich hätte mich damals gewehrt.»

Als 16-Jährige tritt Andrea Huber einer Gruppe von Amnesty International bei. Auf Reisen konfrontiert sie sich bewusst mit Menschenrechtsfragen. So interviewt sie auf Kuba Kritiker des kommunistischen Regimes und fragt sich, weshalb in linken Kreisen Menschenrechtsverletzungen in Kuba oft als weniger schlimm wahrgenommen werden als in anderen Ländern. In den USA kommt sie mit der Organisation Lifespark in Berührung, die sich gegen die Todesstrafe engagiert. Sie erhält Kontakt zu einem in Texas inhaftierten Afroamerikaner, der als 17-Jähriger zum Tod verurteilt worden war, an dessen Schuld jedoch grosse Zweifel herrschten. «Ich bin langsam in den Fall reingerutscht», erzählt sie, «ich sah, wie nachlässig bei der Polizei gearbeitet wird. Wie Beweismittel unterschlagen werden, damit Staatsanwälte sich etablieren können. Wie trotz demokratischer Strukturen ein Unrechtssystem entstehen kann, wenn die Macht ungleich verteilt ist.»

Andrea Huber definiert ihr Engagement weit über die Selbstbestimmungsinitiative hinaus als ein Wirken an der Schnittstelle von Menschenrechten, Bildung und Kommunikation. Zusammen mit Humanrights.ch will sie eine Servicestelle aufbauen, die über die Europäische Menschenrechtskonvention informiert, Anwälte berät und Schulungen für Jusstudierende veranstaltet. Zum Projekt soll auch die juristische Unterstützung für Menschen gehören, die sich in ihren Grundrechten verletzt fühlen. Viele rufen sie aus Gefängnissen an, häufig sind auch Fremdplatzierungen von Kindern und Jugendlichen oder Zwangseinweisungen in die Psychiatrie ein Thema. Zudem wird sie weiterhin über Menschenrechte referieren und Workshops geben, denn ihr werde angst und bange, wenn sie sehe, wie gering etwa das Bewusstsein dafür sei, dass die Gewaltentrennung als Mittel zur Machtbegrenzung für eine Demokratie elementar ist. Mit ihrer inzwischen 7-jährigen Tochter liest sie «Globi und die Demokratie». «So versteht sie, wofür ich mich engagiere.» Sie kennt keine Scheu, vor Menschen hinzustehen und ihre Stimme für das einzusetzen, was ihr wichtig ist. Künftig aber auch vermehrt wieder für die Musik.

Andrea Huber (50) studierte nach der Lehrerausbildung Politik-, Rechts- und Medienwissenschaften in Bern, war Co-Leiterin von Amnesty International Schweiz und hatte Mandate als Kommunikationsfachfrau inne. Sie ist Musikerin und Geschäftsführerin von Schutzfaktor M

 

 

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