Ach Annabel's… du warst so herrlich unkonventionell! Eine Ode an den schillernden Londoner Members’ Club Annabel’s, in dem Hochadel und Jetset jahrzehntelang die Nächte durchfeierten.
Das Schlimmste, was einem in einem Nachtclub passieren kann, ist, sagt man, wenn plötzlich das Licht angeht. Weil man dann sieht, wie wenig glanzvoll das Lokal im Grunde ist, wie billig die Einrichtung, wie schlecht überdeckt die Schäden sind, die entstehen, wenn sich Leute treffen, um Feste zu feiern. (Was auf Wände und Böden zutrifft, trifft oft auch auf die Bekanntschaft zu, die man in Nachtclubs macht). Im Annabel’s ging das Licht nie an während der vergangenen fast fünfzig Jahre, in denen der Nachtclub der Nachtclub Londons war. Und selbst wenn es auf einmal hell geworden wäre: Der Gründer, Besitzer und Chef des Lokals hatte sein Leben lang darauf geachtet, dass jeder Gegenstand in jedem Zimmer auch im hellsten Licht der strengsten Betrachtung schön ausgesehen und die Prüfung bestanden hätte (das traf sogar auf die Mehrheit der Mitglieder des Clubs zu).
1963 öffnete Mark Birley in einem Keller im vornehmen Londoner Stadtteil Mayfair ein Nachtlokal. Sein Name Annabel’s war nirgends angeschrieben. Das war nicht nötig, weil es genügend Gründungsmitglieder gab, die Geld bezahlt hatten, um hingehen zu dürfen. Und weil jeder, den der Chef als Gast haben wollte, davon wusste. Mark Birley war der Sohn eines Künstlers, der die Königsfamilie porträtiert und Winston Churchill das Malen beigebracht hatte, sowie einer Hostess und Socialite, einer Gastgeberin und Anlässebesucherin von Berufs wegen. Birley war der Arbiter Elegantiarum seiner Zeit (Sachverständiger in Fragen des guten Geschmacks, Duden). Es war die Zeit, als es in London noch keine Restaurants gab, in denen man fein essen und danach tanzen konnte, wenn man zur feinen Gesellschaft gehörte. Ohne Anstand und Krawatte lief nichts.
«Annabel’s war der beste Nachtclub der Welt»
Der Namen des Clubs war eine Ehrbezeugung an seine Frau, Lady Annabel Vane-Tempest-Stewart. Vielleicht auch Wiedergutmachung, weil Birley eigentlich lieber mit seinen Hunden und Freunden zusammen war. Zudem hatte er einen ähnlichen Drang, andere Frauen zu erobern wie Joseph P. Kennedy, der Vater von JFK. Lady Annabel, dies nebenbei, liess sich erst von Mark Birley scheiden, nachdem sie zwei Kinder von James Goldsmith, einem Unternehmer, Politiker und Milliardär, geboren hatte. Sie heiratete «Jimmy» Goldsmith später und hatte ein drittes Kind mit ihm – Sohn Ben ist ein in England bekannter Umweltschützer, Zac ein britischer Parlamentarier, und Tochter Jemima war verheiratet mit Imran Khan, dem pakistanischen Politiker und Cricketspieler, danach eine Zeit lang die Freundin von Hugh Grant. Während der Ehe mit Lady Annabel zeugte James Goldsmith ausserdem zwei Kinder mit einer Mistress. Das alles ist, schöner und ausführlicher, beschrieben in ihrem 2005 erschienenen Buch «Annabel: An Unconventional Life.»
«Annabel’s war der beste Nachtclub der Welt», sagt Taki Theodoracopulos, Erbe eines griechischen Reeders, Schriftsteller/Journalist und das, was man Playboy nannte, sowie Stammgast in den Sechzigern und Siebzigern (er ist heute 76-jährig). «Meine liebste Geschichte aus dem Annabel’s? Well, in einer Silvesternacht kamen Mädchen in Nonnenkleidung in den Club und boten Blowjobs an, falls man für die katholische Kirche spende. Louie, der Maître d’, schickte sie weg – nachdem sie fertig waren; das Geld durften sie auch behalten.»
Hochadel, Jetset und Exzentriker
Man habe Anstand gehabt im Lokal, sagt Taki. Viele Gäste waren Freunde des Besitzers, es gab Kleidervorschriften – Herren nie ohne Krawatte –, und wer laut oder rowdyhaft war, wurde rausgeschickt. Der Agent etwa, der einen Auftritt von Ike und Tina Turner vermittelt hatte, wünschte während des Konzerts seiner Künstler einen Tisch, an dem er essen konnte und die Bühne im Blick hatte. Birley liess ihm einen Platz an der Bar anbieten. Der Agent drohte, das Konzert zu streichen, falls er keinen guten Tisch bekomme. Ike und Tina Turner traten nicht auf (die Agenten von Ray Charles oder den Supremes, so sieht es aus, waren weniger fordernd).
Friedrich von Stumm, ein Anwalt, der in Hamburg und London lebt und der zweite Deutsche ist, der Annabel’s-Mitglied wurde (der erste war Peter Münster, ein Freund von Birley und Mitgründer), erzählt diese Geschichte: Gunter Sachs und er waren zum Abendessen in John Aspinalls Clermont Club eingeladen, dem über Annabels’s gelegenen Casino. Der Gastgeber, ein feiner Mann und exzentrischer Zoobesitzer, sei erst mit mehrstündiger Verspätung gekommen, was nicht seine Art gewesen sei. Als er endlich kam, habe er gesagt: «Es tut mir leid, dass ich ein wenig spät bin, doch es gab einen Zwischenfall – meiner Freundin wurde der Arm abgebissen von einem meiner Tiger, ich musste mir ihr ins Spital.» Alle meinten, Aspinall hätte eine ausgefallene und, natürlich, erfundene Entschuldigung vorgebracht, man habe sehr gelacht, sagt von Stumm. Die Geschichte war wahr.
Gin and Tonic für die Queen
«In den Heydays war das Annabel’s der besuchenswerteste Club Londons», sagt Rolf Sachs, Designer und Präsident des Dracula-Clubs in St. Moritz. Er selber sei allerdings öfter ins Tramp gegangen, den anderen Club Londons, dort habe es mehr Junge gegeben. Und schliesslich war das Lokal Birleys das Revier seines Vaters Gunter und von dessen Freunden, Gianni Agnelli, Taki und andern. Frank Sinatra war Gast, Aristoteles Onassis ebenfalls. Und das Annabel’s soll, so erzählt man sich, der einzige Nachtclub gewesen sein, den Königin Elizabeth II in ihrem Leben besuchte (sie nahm Gin and Tonic).
Es sei unmöglich gewesen reinzukommen, wenn man nicht Mitglied oder Gast eines Mitglieds gewesen sei, sagt Gisela Rich, die Ex-Frau von Rohstoffhändler Marc Rich. «Trotzdem gab es immer eine gute Gästemischung – Aristokraten, Milliardäre, Schönheiten.» Und Renata Jacobs, die Witwe des Unternehmers Klaus Jacobs, sagt: «Man konnte gut essen und danach tanzen – einmalig. Ich habe immer bedauert, dass es so etwas in Zürich nicht gab.»
Wenn etwas zu gut tönt, um wahr zu sein, ist es entweder nicht wahr oder dann hält es nicht lange; das ist die normale Ordnung der Dinge. Doch im Fall des Annabel’s sah es die längste Zeit aus, als gelte die normale Ordnung nicht. Die Qualität des Essens, der Bedienung, der Künstler, die auftraten, sie blieb hoch bis in die Nullerjahre unseres Jahrhunderts. Und während vierzig Jahren oder so zählten viele Gäste, die hingingen, zu den interessantesten, reichsten und/oder schönsten Menschen der Zeit.
Schicksalsschläge
Das alles trotz Ereignissen in Mark Birleys privatem Leben, an denen «a lesser man», wie man in England sagt, zerbrochen wäre – Ereignisse, die es ihm unmöglich gemacht hätten, ein Unternehmen weiter mit Erfolg zu führen. 1970 besuchte Familie Birley den Privatzoo von John Aspinall, dem bereits erwähnten Besitzer des über dem Annabel’s gelegenen Casinos. Der jüngste Sohn der Birleys, Robin, damals zwölfjährig, trat in den Käfig einer trächtigen Tigerin. Ob es das gleiche Tier war, das dem Model einen Arm abgebissen hatte, ist nicht bekannt. Jedenfalls entstellten die Kopfverletzungen, die Robin von der Tigerin beigebracht wurden, das Gesicht des Jungen für den Rest seines Lebens. Wenigstens kam er davon. 1986 kehrte der Erstgeborene, Rupert, von einem Morgenbad im Meer vor der Küste Togos nicht zurück.
Diese Geschehnisse gingen am Arbiter Elegantiarum seiner Zeit irgendwie vorbei, äusserlich jedenfalls. Mark Birley liess sich immer noch in seinem Mercedes durch die Stadt chauffieren, auf dem Beifahrersitz sein Rhodesian Ridgeback namens Blitz. Und wenn er in einem seiner Betriebe (neben dem Annabel’s gehörten ihm zwei Londoner Restaurants sowie ein Sportclub für Herren) eine Serviette sah, die nicht nach seiner Vorgabe gefaltet worden war, faltete er sie selber. Er habe im Grunde keine Kinder gewollt, schreibt Lady Annabel in ihrem Buch. Oder dann solche, die mit 21 Jahren zur Welt kommen.
Zwist in der Familie
Als Erwachsener begann Robin, der den Tigerangriff überlebt hatte, im Nachtclub mitzuarbeiten. Vater Mark und er, so der Eindruck, der Freunden entstand, kamen gut miteinander aus. Robins Schwester, India Jane, hatte kein Interesse an den Betrieben ihres Vaters, sie ist Künstlerin, schlug also dem Grossvater nach. Es schien, als werde Mark Birley irgendeinmal seinem Sohn die Geschäfte übergeben, denn der Junge, sagen Gäste mit einer Stimme, habe es geschafft, Gleichaltrige ins Annabel’s zu holen, ohne die Alten zu verlieren und ohne das Standing des Clubs zu erniedrigen. Vor ungefähr zehn Jahren entschied der Vater plötzlich anders: Er wollte Robin nicht mehr im Unternehmen haben, eigentlich nicht einmal mehr in seinem Leben. Grund waren, so recherchierten Londoner und New Yorker Journalisten, ungefähr 350 000 Franken. Geld, das Robin aus der Kasse des Annabel’s genommen hatte, um Detektive zu bezahlen, die einen Bekannten der Familie, von dem Robins Ex-Frau mit Mitte vierzig ein Kind bekommen hatte, als Mann mit dunkler Vergangenheit darstellen sollten.
2007, ein Jahr vor seinem Tod, verkaufte Mark Birley Annabel’s und seine anderen Unternehmen überraschend. Noch überraschender war, an wen er verkaufte: an einen Amerikaner, der beim Handeln mit Immobilien in Hongkong reich geworden war. Londoner Kommentatoren verwendeten, of course, nicht das Wort Amerikaner. Sie schrieben von einem Barbaren, Aufsteiger, Wegelagerer und so weiter. Wenn es regnet, schüttet es, sagt man in England. Robin Birley könnte das bestätigen: Der Wille seines Vaters und Erblassers nämlich war, dass fast die gesamten rund 220 Millionen Franken, die er für sein Lebenswerk bekommen hatte, an die Tochter, India Jane, gingen.
Ein Club ist mehr als bloss ein Club
Robin, der zwanzig Jahre oder so im Annabel’s mitgearbeitet hatte, bekam eine kleine Summe, um sein Leben bezahlen zu können. Er ging auf dem Rechtsweg gegen die Verfügung seines mittlerweile verstorbenen Vaters an. Schliesslich einigte er sich mit seiner Schwester ausserhalb eines Gerichts. India Jane kaufte in der Zwischenzeit das Landhaus in Surrey zurück, in dem ihr Vater als Kind gelebt hatte. Und Robin eröffnete vor ungefähr einem Jahr einen – Nachtclub. Er heisst Loulou’s (zu Ehren der verstorbenen Schwester seiner Mutter, der Modedesignerin Loulou de la Falaise.) Das Loulou’s ist jetzt der Club Londons, in den man geht.
Wo man zurzeit, definitely, nicht mehr hingeht, ist das Annabel’s. Ich war zweimal dort seit dem Tod von Birley respektive dem Verkauf, fand es einmal gut, einmal in Ordnung, aber nothing to write home about; vor allem das Essen war weit unter der Qualität, von der berichtet wurde. «Es war der beste Nachtclub der Welt, jetzt ist es der schlechteste», sagt Taki Theodoracopulos und zeigt damit, dass der Besitzerwechsel in London als Ereignis erlebt wird, das von der Magnitude her mit der Trennung von einem Ehepartner oder dem Tod eines Hundes zu vergleichen ist. Weil ein Club mehr ist als bloss ein Club. Er ist der Ort, in den man geht, weil man alle, die hingehen, die längste Zeit des Lebens kannte, und weil man weiss, dass bereits die Eltern die meisten der Eltern derer, die hingehen, die längste Zeit ihres Lebens kannten, schrieb A. A. Gill in «Vanity Fair».
Das Schlimmste, was einem in einem Nachtclub passieren kann, ist, sagt man, wenn plötzlich das Licht angeht. Doch im Annabel’s ist etwas passiert, das schlimmer war: Der Gründer, Besitzer und Chef ist gestorben, Gäste gingen nicht mehr hin, Personal war nicht mehr dort. Und das Licht ist die ganze Zeit nicht angegangen.