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Meinungsforscherin Dahlia Scheindlin: «Israel hat eine Regierung, die den Willen des Volkes ignoriert»

Politik

Meinungsforscherin Dahlia Scheindlin: «Israel hat eine Regierung, die den Willen des Volkes ignoriert»

Wie denken Menschen in Israel über den Krieg, wie Menschen in Gaza und der Westbank? Und welche Rolle spielen die US-Wahlen? Ein Gespräch mit der israelischen Meinungsforscherin Dahlia Scheindlin.

annabelle: Dahlia Scheindlin, viele Bürger:innen in den USA, notabene auch arabischstämmige, waren an den Präsidentschaftswahlen eher Donald Trump zugeneigt als Kamala Harris. Sie missbilligten die amerikanischen Waffenlieferungen an Israel, hofften aber auch, dass Donald Trump dem Krieg im Nahen Osten ein baldiges Ende bereiten würde. Teilen Sie diese Hoffnung?
Dahlia Scheindlin: Es ist unmöglich, Trumps Verhalten vorherzusagen. Er ist unberechenbar, alles hängt von seinen persönlichen Beziehungen und seinem Geschäftsgebaren ab. Er gilt als Falke, als Befürworter militärischer Einsätze, gleichzeitig hat er aber auch isolationistische Tendenzen. Sollte er etwas tun, um den Krieg zu beenden, ist das an sich gut. Aber die Hardliner, die er bisher für seine Regierung ernannt hat, lassen langfristig nichts Gutes für die Menschen in den palästinensischen Gebieten erahnen.

Die israelischen und palästinensischen Sichtweisen auf den 7. Oktober 2023 und den darauffolgenden Krieg unterscheiden sich diametral. Das betonen Sie immer wieder. Aber auch, dass unter der palästinensischen Bevölkerung in Israel, Gaza und der Westbank keineswegs ein Konsens darüber besteht. Können Sie dies erläutern?
Sehen Sie, es herrscht eine parallel verschobene Betrachtungsweise vor: Die meisten jüdischen Israeli befürworten den Gaza-Krieg wegen der Gräueltaten der Hamas vom 7. Oktober 2023. Die palästinensischen Bevölkerungen in Gaza und der Westbank hingegen sehen den Überfall der Hamas auf Israel mehrheitlich als gerechtfertigt an, aufgrund dessen, was sie unter der israelischen Besatzung erlitten haben. Ganz anders hingehen die arabisch-palästinensischen Bürger:innen Israels: Die ganz grosse Mehrheit findet nicht, dass der Überfall der Hamas gerechtfertigt war, genauso wenig legitimieren sie den Krieg und die hohe Zahl der getöteten Menschen.

Seit über einem Jahr bemühen sich verschiedene Vertreter:innen um ein Waffenstillstandsabkommen, als dessen Folge alle Geiseln freigelassen würden. Wie sind die Meinungen zu einem solchen Deal?
Er wird von der Mehrheit der jüdischen Israeli befürwortet. Manchmal aber sinkt diese Unterstützung auf knapp unter 50 Prozent. In der arabisch-palästinensischen Community Israels, die rund ein Fünftel der Bevölkerung ausmacht und zu über 80 Prozent aus Muslim:innen, etwa 8 Prozent Christ:innen und rund 4 Prozent Drus:innen besteht, geniesst diese Forderung jedoch eine konstante Mehrheit von 80 Prozent. Das heisst, in dieser Bevölkerungsgruppe Israels existieren nicht dieselben Kontroversen über den Krieg, wie sie in arabischen Ländern, aber auch in Europa oder den USA, vorherrschen, und sie sind auch weniger gespalten. Denn sie haben Familie, Freund:innen und Verwandte in Gaza und der Westbank, gleichzeitig wie sie Seite an Seite mit jüdischen Israeli leben, mit ihnen arbeiten und studieren. Sie haben gar keine andere Wahl, als die Menschlichkeit aller zu sehen. Das macht sie als Gemeinschaft einzigartig. Das spiegelt sich in allen Umfragen deutlich wider.

Könnte also der Weg hin zu einem Waffenstillstand und zur Versöhnung in der Region über die arabisch-palästinensische Bevölkerung Israels führen?
Ich wünschte, das wäre so – aber das ist nicht der Fall. Grund dafür ist, dass sie in Israel derzeit keinen politischen Einfluss hat, nicht Teil der regierenden Exekutive ist. Zudem werden arabisch-palästinensische Israeli seit Beginn des Krieges von den Behörden massiv eingeschüchtert. Wer sich im Internet kritisch über den Krieg äussert, wird verhaftet oder zu einer Anhörung vorgeladen, dem droht der Verlust seines Arbeitsplatzes oder in den sozialen Medien niedergemacht zu werden. Demonstrationen und Proteste sind in den arabischen Gebieten Israels verboten. In der Folge haben viele arabisch-palästinensische Israeli grosse Angst, sich in irgendeiner Weise gegen den Krieg zu organisieren, obwohl es im Laufe des Jahres Versuche gegeben hat, Demonstrationen abzuhalten oder gemeinsam mit Menschen jüdischer Gemeinden auf die Strasse zu gehen.

Dass die arabisch-palästinensische Bevölkerung Israels weder politischen noch zivilgesellschaftlichen Einfluss hat, ist eine verpasste Chance, oder?
Da stimme ich Ihnen zu. Viele meiner arabisch-israelischen Freund:innen und Kolleg:innen fragen immer wieder: Warum werden wir ausgeschlossen? Wir könnten doch die Rolle der Brückenbauer einnehmen. Warum kommt niemand zu uns, um unser Verständnis für beide Seiten zu nutzen? Diese Fragen zu hören, gibt mir immer wieder einen Stich ins Herz. Aber solche Gespräche werden vor allem im Rahmen von zivilgesellschaftlichen Friedensaktivitäten geführt. Auf Regierungsebene finden sie kaum statt.

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«Die Mehrheit der Israeli glaubt nicht, dass die Regierung eine klare Politik verfolgt»

Israel sei von Feinden umgeben, die das Existenzrecht Israels nicht akzeptierten und das Land am liebsten von der Karte tilgen würden. So die Rhetorik der israelischen Regierung. Können Sie diese Haltung nachvollziehen?
Befänden wir uns in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung Israels 1948, könnte ich diese Haltung nachvollziehen. Damals haben alle arabischen Staaten die Resolution der UNO, die das britische Mandatsgebiet Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat aufteilte, abgelehnt. Aber die Dynamik in der Region hat sich verändert: 1979 kam es zum Friedensvertrag und zur vollständigen diplomatischen Normalisierung mit Ägypten, einem der bis zu jenem Zeitpunkt grössten Feinde Israels. 1994 wurde ein weiterer Friedensvertrag mit Jordanien, Israels unmittelbarem Nachbarn an der Ostgrenze, geschlossen. Im Jahr 2020 unterzeichneten mehrere arabische Golfstaaten die Abraham-Abkommen, wodurch sich die Beziehungen zu Israel normalisieren sollten.

Wie ordnen Sie die Rolle Saudi-Arabiens ein?
Nun, das Königreich hat vordergründig zwar wenig Freude an einer Normalisierung, arbeitet aber sicherlich auf einem ziemlich robusten Niveau auf eine Partnerschaft mit Israel hin. Die Idee, dass Israel von einer Region umgeben ist, die nicht will, dass es existiert, ist empirisch also absolut widerlegt. Selbst die Länder, die keinen Frieden mit Israel geschlossen haben und ihm weiterhin eher feindlich gesinnt sind, wie der Irak und Syrien, stellen nicht mehr dieselbe existenzielle Bedrohung dar wie früher. Und das revolutionäre Regime Irans würde Israel wohl zwar gerne auf magische Weise verschwinden sehen, hält sich aber pragmatisch zurück.

Ganz anders jedoch die vom iranischen Regime mitfinanzierte libanesische Hisbollah, die jemenitischen Huthi und eben die Terrororganisation Hamas.
Dazu kommen die vom Iran unterstützten Milizen im Irak und in Syrien. Das sind alles nichtstaatliche Akteure, und die stellen in der Tat eine echte Bedrohung für Israel dar. Bis zu diesem aktuellen Krieg verharrten alle in einer Art Status quo, in dem man sich nicht offen gegenseitig angriff. Auch die Hisbollah war zwar stets eine konstante Bedrohung, dennoch ist es seit 2006 zu keiner militärischen Eskalation entlang der Nordgrenze Israels gekommen. Das hat sich nun verändert: Am Tag nach dem Überfall der Hamas brach die Hisbollah mit diesem Status quo und schloss sich dem Angriff der Hamas an. In der Folge sind über 70’000 Menschen aus dem Norden Israels vertrieben worden.

Seit Wochen fliegt die israelische Armee Luftangriffe auf Gebiete im Libanon. Über 3’000 Menschen sind dabei getötet worden, über eine Million sind auf der Flucht. Wie steht die Bevölkerung Israels dazu?
Das ganze Jahr über gab es geteilte Meinungen darüber, was im Libanon gegenüber der Hisbollah zu tun sei. Zu Beginn des Krieges befürwortete eine Mehrheit der jüdischen Israeli einen harten Schlag gegen den Iran. Andere Umfragen wiesen hingegen darauf hin, dass eine grosse Angst vor einer Eskalation vorherrscht. Als die Luftangriffe auf Gebiete in Südlibanon begannen, wurden sie anfänglich von vielen unterstützt, doch gab es enorme Meinungsverschiedenheiten bezüglich einer Bodenoffensive. Gemäss neuesten Erhebungen des Israeli Voice Index sprechen sich 54 Prozent der jüdischen Israelis dafür aus, dass der Kampf gegen die Hisbollah fortgesetzt wird. 88 Prozent der arabisch-palästinensischen Israelis machen sich hingegen für eine diplomatische Lösung stark. Doch glaubt die Mehrheit der Israeli nicht, dass die Regierung eine klare Politik verfolgt.

Dieser Eindruck täuscht wohl aber kaum, oder?
Nein. Im Moment dieses Krieges wird alles nur unter militärischen Gesichtspunkten betrachtet, ohne Einbindung der Diplomatie. Derzeit gibt es eigentlich überhaupt keine nennenswerte israelische Diplomatie. Das ist ein echtes Problem. Israel würde davon profitieren, eine realistischere Sicht auf tatsächliche und potenzielle Partner einzunehmen, auf Feinde, die keine besondere Bedrohung darstellen, und auf solche, die ernsthaft bedrohlich sind. Doch genau das tut Israel nicht. Und das liegt zum Teil daran, dass keine nennenswerten israelischen Politiker, und schon gar nicht der Premierminister oder seine Regierung, dies klar offenlegen. Das ist ein grosses Führungsversagen. Israels Situation im Nahen Osten ist grundsätzlich nämlich viel besser als früher, und könnte noch viel besser sein.

Warum wird die geopolitische Lage denn nicht realistisch dargestellt?
Weil dies der aktuellen Regierung nichts nützt. Die Bevölkerung soll glauben, dass Israel nur von Feinden umgeben ist und deshalb jede militärische Aktion rechtfertigt, die es unternimmt.

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«Immer mehr Menschen halten es für falsch, dass die Hamas Israel angegriffen hat»

Ich höre immer wieder, dass Menschen in Israel sagen, dass sie nicht wissen, ob sie ihr Land jemals wieder lieben können, dass sie mit dem Gedanken spielen, auszuwandern. Wie weit ist diese Ansicht verbreitet?
Aktuell sind nur etwa ein Drittel der Menschen optimistisch, was die Zukunft und die Demokratie Israels anbelangt. Bis zu einem Viertel sollen darüber nachdenken, das Land zu verlassen. Es würde mich daher nicht überraschen, wenn in den nächsten ein oder zwei Jahren mehr Menschen auswandern, was zumindest teilweise davon abhängt, wie lange der Krieg noch andauert. Schon jetzt können wir feststellen, dass bestimmte Sektoren abwandern, vor allem die Hightech-Branche. Und das ist bedrohlich, denn die ist ein wichtiger Motor der israelischen Wirtschaft. Dieser Trend hat jedoch bereits vor dem Krieg eingesetzt, als die Regierung versuchte, eine Reihe von Reformen einzuleiten, die die Unabhängigkeit der israelischen Justiz einschränken sollten.

In der Berichterstattung über den Krieg bleibt vor allem ein Thema weitgehend ein blinder Fleck: Die kritische Auseinandersetzung mit der Hamas. Wie sehr wird sie in Gaza und der Westbank unterstützt?
Es gab eine grosse, länderübergreifende Studie des Arab Barometers, die jedes Jahr in verschiedenen Ländern der arabischen Welt durchgeführt wird. Die Datenerhebung unter der palästinensischen Bevölkerung wurde am 6. Oktober 2023 abgeschlossen. Sie zeigte, dass die Hamas in vielen Bereichen schlecht abschnitt. Nur etwa zwischen 25 und 30 Prozent der Befragten hätten, wäre es damals zur Wahl gekommen, für die Hamas gestimmt. Sehr viele hatten es satt, unter einem Regime zu leben, das zunehmend autoritär regiert, das sie von der Welt isoliert hält, und es nicht schafft, wirtschaftliche und politische Perspektiven zu entwickeln und etwas gegen die extrem hohe Arbeitslosigkeit zu tun. Doch seit Beginn des Krieges ist die Unterstützung deutlich angestiegen, besonders im Westjordanland. In den Befragungen zum Überfall der Hamas auf Israel gab eine Mehrheit an, dass es richtig war, dass die Hamas «diese militärischen Massnahmen ergriffen hatte». Zudem sagten die meisten, dass sie keine Videos von Gräueltaten gesehen haben, weshalb sie auch nicht glaubten, dass solche Gräueltaten überhaupt begangen worden sind. Darüber hinaus waren viele Menschen der Ansicht, der Überfall der Hamas habe das Leiden der palästinensischen Bevölkerung endlich wieder auf die globale Agenda gebracht.

In den letzten Monaten soll aber gerade in Gaza die Unterstützung für die Hamas zurückgegangen sein. Es sind vermehrt Stimmen zu hören, die sich bitter über die Hamas beklagen.
Ja. Immer mehr Menschen halten es für falsch, dass die Hamas Israel angegriffen hat, und machen sie mitverantwortlich für das furchtbare Leid und die Zerstörung in Gaza. Hingegen ist die Unterstützung der Hamas im Westjordanland noch immer gleich hoch. Es existiert also eine grosse Kluft zwischen den Menschen im Westjordanland und jenen im Gazastreifen. Diese Zahlen sind aber leider oft nicht eindeutig. Im Moment ist es sehr schwierig, in Gaza Umfragen durchzuführen.

Haben die Menschen in Gaza, die täglich um ihr Leben kämpfen müssen, überhaupt die Kapazität sich an Umfragen zu beteiligen?
Nun, das Palestinian Center for Policy and Survey Research, PCPSR, führt immer noch persönliche Befragungen vor Ort durch – mittels Tablets, oder mit Papier und Stift, wenn das Internet unterbrochen ist. Aus diesem Grund ist es auch nicht einfach, die Daten zu harmonisieren. Dennoch sind Tendenzen erkennbar, die sich seit Jahren abzeichnen.

Können Sie diese Tendenzen beschreiben?
Immer dann, wenn Krieg herrschte zwischen Israel und der Hamas – und Kriege gab es in der Vergangenheit viele, sodass wir die Daten vergleichen können – steigt in Gaza die Unterstützung für die Hamas. Sie wird als die Partei gesehen, die die Initiative gegen Israel ergreift. Doch ein paar Monate nach Kriegsende geht die Unterstützung in der Regel wieder zurück.

Sobald die Menschen in Gaza politische Initiativen erkennen, die den Konflikt lösen könnten, unterstützen sie die Hamas weniger. Ist das richtig?
Ja. Wenn es einen ernsthaften Verhandlungsprozess gab, der vielversprechend erschien, ging die Unterstützung für die Anwendung von Gewalt zurück. Unter Israelis gibt es eine ähnliche Dynamik: Der Anteil jener, die diplomatische Bemühungen befürworten, ist in der Regel ziemlich hoch. Doch geht in Kriegszeiten die Unterstützung für militärische Einsätze durch die Decke. Bei jedem Krieg gegen Gaza lag die Zustimmung bei 80 bis 90 Prozent. Das zeigt: Gewalt erzeugt die Befürwortung von Gewalt.

«Sowohl Israelis als auch Palästinenser sind der Meinung, dass ihre Opfer die Gewalt gegen die andere Seite rechtfertigen»

Ultrarechte Siedler sollen beabsichtigen, den Gazastreifen einzunehmen und neu zu besiedeln. Sind diese Pläne mehrheitsfähig?
Das glaube ich nicht. In den ersten Monaten nach dem Massaker der Hamas waren zwar extreme Einstellungen unter jüdischen Israeli zu erkennen. Die Zahl derer, die sich als politisch rechts bezeichneten, stieg auf knapp 70 Prozent. Zudem beobachteten wir eine zunehmende Unterstützung für die Eroberung, Annexion und Umsiedlung des Gazastreifens. So zeigte etwa eine Umfrage im Januar, dass 52 Prozent der jüdischen Israeli den Wiederaufbau von Siedlungen in Gaza befürworteten. Das hat mich, ehrlich gesagt, überrascht. Denn das Thema war seit 2005, als die israelischen Siedlungen in Gaza aufgelöst wurden, vom Tisch. In der zweiten Jahreshälfte haben sich diese extremen Trends wieder abgeschwächt. Dies belegen auch neuste Umfragen: Darin sprechen sich zwei Drittel der Teilnehmenden entschieden gegen eine Annexion des Gazastreifens aus.

Was ist der Grund dafür?
Ich denke, viele Menschen realisieren nun, dass jene rechtsextremen Koalitionspartner und Siedler, die die Eroberung des Gazastreifens vorantreiben, dieselben Leute sind, die auch den Angriff auf die israelische Justiz vorantrieben – wogegen die Mehrheit der Israeli im Jahr 2023 protestierte. Sie werden sich den Plänen dieser extremistischen Elemente in der israelischen Gesellschaft kaum anschliessen wollen. Aber um das genau sagen zu können, wird es noch weitere Untersuchungen brauchen.

Sie betonen, dass sich die Regierung und die Bevölkerung Israels zunehmend entfremden. Können Sie das ausführen?
Sehen Sie, wir haben eine Regierung, die den Willen des Volkes ignoriert. Sie ignoriert die Hunderttausenden von Menschen, die immer wieder auf die Strasse gehen, zum Streik aufrufen, um die Freilassung der Geiseln und einen Waffenstillstand zu fordern, und sie ignoriert auch Umfragen, die darauf hinweisen, dass sie ihre Mehrheit verloren hat. Es interessiert sie einfach nicht. Es ist eine sehr prekäre Situation.

Viele Familienangehörige von Geiseln vermuten gar, dass die Regierung sie abgeschrieben hat, weil sie säkular sind, vielleicht sogar, weil die überfallenen Kibbuz-Gemeinden politisch eher links sind. Es soll ein Wettbewerb darüber im Gang sein, welche Zivilbevölkerung in den Augen der Regierung mehr wert ist. Trifft das zu?
Ja, diese Vermutungen haben manche Geiseln während ihrer Gefangenschaft sogar selbst aufgestellt. Das zeigt den tiefgreifenden Vertrauensbruch zwischen Regierung und Bevölkerung.

Derzeit jagen sich die Ereignisse im Nahen Osten. Doch was auf der Strecke bleibt, ist der Wille, die Menschlichkeit im anderen zu sehen.
Ja, dazu haben wir eine Menge Daten, und die sind dramatisch. Auf einer Skala von null bis hundert gibt in Umfragen die Mehrheit der einen Seite der jeweils anderen null Punkte. Das lässt sich nur so erklären: Wenn sich das Grauen mit existenziellem Überlebensdrang überschneidet, gibt es keinen mentalen Raum, um Empathie für den anderen zu empfinden. Viele Israelis sagen: Sie haben Gräueltaten gegen uns begangen, haben Zivilisten angegriffen. Wir müssen überleben, indem wir sie umbringen. Und die Menschen im Gazastreifen sagen: Wir sind zu Tausenden in den Kriegen der vorangegangenen Jahre getötet worden. Wollen wir überleben, müssen wir den Aggressor angreifen. Ich möchte das nicht rechtfertigen, aber sehr viele Menschen erleben es so. Die jüngste palästinensisch-israelische Umfrage zeigt denn auch eine auffällige Symmetrie: Sowohl Israelis als auch Palästinenser sind der Meinung, dass ihre Opfer die Gewalt gegen die andere Seite rechtfertigen. Es ist ein Nullsummenspiel. Und es ist sehr schwer, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Er kann erst durchbrochen werden, wenn die Menschen beginnen, den furchtbaren Schmerz und die Verwüstung auf der anderen Seite zu sehen.

Sehen Sie irgendwo zumindest einen winzigen Hoffnungsschimmer?
Nun, die Zivilgesellschaft in Israel wurde durch die Pro-Demokratie-Protestbewegung im Jahr 2023 stark mobilisiert. Jetzt sehe ich eine ähnliche Mobilisierung zugunsten der Befreiung der Geiseln und der Forderungen nach einer Untersuchungskommission. Auch die israelisch-palästinensischen Partnerschaften in der Zivilgesellschaft bleiben bestehen. Vor allem aber setze ich Hoffnung in Gruppen, die sich um Frieden bemühen, wie etwa «A Land for All» oder «Standing Together». Wir finden Trost in der Gemeinschaft und in der Überzeugung, dass unsere Arbeit notwendiger ist denn je.

Dahlia Scheindlin ist Meinungsforscherin, internationale Politikberaterin, Journalistin und Buchautorin. Sie wurde in New York als Tochter jüdischer Eltern geboren und wanderte später nach Israel aus. Heute lebt sie in Tel Aviv. Als Journalistin schreibt sie unter anderem für «Foreign Affairs», «The New York Times» und «Haaretz», Lehrveranstaltungen und Vorträge führen sie an verschiedene Universitäten in Israel und den USA.

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