Politik
Meinung zur Frontex-Vorlage: Höchste Zeit, dass die Schweiz endlich zum europäischen Player wird
Helene Aecherli
Redaktorin
Die Frontex-Vorlage, über die wir am 15. Mai abstimmen, versetzt unsere Autorin Helene Aecherli in eine Pattsituation. Warum ein fairer Umgang mit geflüchteten Menschen nur in Partnerschaft mit der EU zu bewältigen sein wird.
Keine Frage – die direkte Demokratie ist eine grosse gesellschaftspolitische Errungenschaft und wird zu Recht als Nonplusultra der Swissness zelebriert. Wo sonst auf der Welt gilt das Volk als Souverän, als das übergeordnete nationale Organ, das die Macht über die politischen Eliten innehat?
Und doch – ab und zu offenbart das System seine Tücken, dann nämlich, wenn Vorlagen zur Abstimmung gelangen, die mich als Bürgerin in eine Pattsituation versetzen, ins Irgendwo zwischen Ja und Nein.
Das war bei der Initiative zum Burkaverbot im vergangenen Jahr der Fall, nun ist es die Frontex-Vorlage: Am 15. Mai stimmen wir darüber ab, ob sich die Schweiz mit jährlich 61 Millionen Franken am Ausbau der europäischen Grenzschutzagentur beteiligen wird, womit sie sich auch ihre Schengen-Mitgliedschaft weiterhin sichern würde.
Ein Symbol für eine repressive Migrationspolitik
Was als trockenes Administrativgeschäft daherkommt, ist bei genauerem Hinsehen an Brisanz und Komplexität kaum zu überbieten: Denn mit Frontex steht eine paramilitärische Organisation im Fokus, die für massive Menschenrechtsverletzungen mitverantwortlich sein soll – und ein Symbol ist für eine repressive Migrationspolitik.
Zugleich geht es um eines der herausforderndsten Themen unserer Zeit: Um die Frage, wie wir in Zukunft mit Menschen auf der Flucht umgehen wollen. Und die lässt sich nicht mit einem Ja oder Nein beantworten.
Aktivist:innen plädieren für die Utopie einer «Welt ohne Grenzen»
Verschärft wird diese Pattsituation noch dadurch, dass weder zivilgesellschaftliche Organisationen noch politische Parteien dieser Komplexität Rechnung tragen, sondern in den Komfortzonen ihrer eigenen Echokammern verharren. So plädieren Aktivist:innen für die Utopie einer «Welt ohne Grenzen» und für «Fähren statt Frontex».
Die SP ist zwar gegen die Vorlage, aber nicht per se gegen Frontex und fordert als Ausgleich, dass die Schweiz zusätzliche Flüchtlingsgruppen aufnimmt. Und die SVP, die trotz Ja-Parole in dieser Frage gespalten ist, würde die 61 Millionen eigentlich lieber in die helvetische Grenzsicherung investieren.
Diskussionen zwischen Idealismus und Parteipolitik mögen während eines Abstimmungskampfs üblich sein, doch weiterhelfen tun sie nicht – in diesem Fall schon gar nicht. Im Gegenteil, sie verhindern, dass Strategien der Flüchtlingspolitik über ideologische Gräben hinweg kreativ und visionär, gleichzeitig aber auch mit der gebotenen Expertise, Vernunft und Nüchternheit verhandelt werden.
Dass diese Debatten nicht geführt werden, ist unsäglich
Dabei könnte es etwa um die Wiederaufnahme des Botschaftsasyls gehen, um den Aufbau einer Infrastruktur von Aufnahmelagern, wo schutzbedürftige Menschen schnellstmöglich identifiziert werden können, oder auch um die Investition in spezielle, auf den Markt zugeschnittene Ausbildungsprogramme für Geflüchtete. Dass diese Debatten nicht geführt werden, ist unsäglich.
Denn sie sind dringend, gerade jetzt, da wegen des Kriegs in der Ukraine die grösste Flüchtlingswelle seit 1945 droht und laut Schätzungen der UNO weltweit 1,7 Milliarden Menschen von Lebensmittelknappheit betroffen sein werden – was bereits vorhandene Migrationsbewegungen noch verstärken könnte.
Kann nicht die letzte Antwort auf die Flüchtlingsfrage sein
Klar ist: Ohne ein Regulativ wie Frontex wird es in naher Zukunft kaum gehen. Klar ist aber auch, dass die Grenzschutzagentur umstrukturiert und von einer unabhängigen Instanz kontrolliert werden muss. In ihrer jetzigen Form kann sie nicht unsere letzte Antwort auf die Flüchtlingsfrage sein. Ebenso wenig wie die selbstherrliche, letztlich aber feige Reduit-Romantik à la SVP.
Ansonsten wird weiterhin das (patriarchale) Gebot des «survival of the fittest» regieren: Es sind primär die Stärksten unter den Flüchtenden, die es schaffen, trotz aller Hindernisse zu uns zu gelangen, während vulnerable Personen, allen voran Frauen und Kinder, in den Kriegsgebieten oder auf der Fluchtroute zurückbleiben.
Nun, letztlich wird man sich an der Urne für ein Ja oder ein Nein entscheiden müssen. Doch eines steht schon jetzt fest: Ein fairer Umgang mit geflüchteten Menschen wird nur in Partnerschaft mit der EU zu bewältigen sein. Höchste Zeit also, dass die Schweiz endlich zum europäischen Player wird – und sich auch dementsprechend benimmt.