Zeitgeist
Meinung zur Aufhebung der Corona-Massnahmen: Was machen wir mit dieser neuen Freiheit?
- Text: Kerstin Hasse
- Bild: Stocksy
Der Bundesrat lockert die Pandemie-Massnahmen. Man gewinne ein Stück Freiheit zurück, hiess es in der heutigen Medienkonferenz. Unsere Autorin Kerstin Hasse fragt sich: Was heisst das nach zwei Jahren Pandemie überhaupt?
In meinen Teenie-Zeiten hörte ich oft die Musik der deutschen Band «Wir sind Helden». In dem Song «Die Reklamation» gibt es eine Songzeile, an die ich in den vergangenen Wochen und Monaten immer mal wieder denken musste. Frontfrau Judith Holofernes singt: «Es war im Ausverkauf im Angebot die Sonderaktion / Tausche blödes altes Leben gegen neue Version / Ich hatte es kaum zu Hause ausprobiert, da wusste ich schon / An dem Produkt ist was kaputt – das ist die Reklamation.»
Wie oft sind wir in den letzten zwei Jahren an den Punkt gekommen, an dem wir unser Leben gerne mal kurz in Reparatur geschickt hätten? Guten Tag, bitte einmal kurz das Immunsystem ölen und ja, diese Pandemie, die sorgt für Rost am ganzen Gerät, die müsste man wohl dringend entfernen. Und wenn wir schon dabei sind, vielleicht noch die Batterie aufladen? Irgendwie will das alles nicht mehr so richtig wie früher.
Aber nein, natürlich funktioniert das so nicht. Wir alle mussten uns kollektiv durch diese zähen zwei Jahre kämpfen. Leere Batterie hin oder her. Und jetzt also steht der Freedom Day vor der Tür. Klingt vielversprechend, oder? Endlich wieder Freiheit! Masken weg, Zertifikate sowieso.
Vorbei die Zeiten der Klopapier-Horter, der Hallo-Ihre-Maske-baumelt-unter-Ihrer-Nase-Sie-Depp-haben-Sie-wirklich-nichts-verstanden-Diskussionen im Supermarkt, vorbei die Angst, dass die tropfende Nase des Enkelkinds die Grosseltern auf die Intensivstation bringt, vorbei die abgesagten Feten und Konzerte. Keine traurigen digitalen Team-Apéros mehr, bei denen man durch den Bildschirm hindurch anstosst und sich dabei irgendwie einsamer fühlt als je zuvor. Klingt schön, oder?
Was heisst denn Freiheit?
Ich gebe zu, den Begriff Freedom Day finde ich – besonders für Schweizer Verhältnisse – recht mutig gewählt. Das klingt so nach Post-Mauerfall-Euphorie, nach Hasselhoff-Party. Abgesehen davon, dass der Begriff auf den US-amerikanischen «Freedom Day» und damit die Befreiung von der Sklaverei zurückgeht und damit nicht unproblematisch ist.
Die Fallhöhe scheint recht hoch. Ohne pessimistisch sein zu wollen: Niemand weiss, was nächsten Herbst passiert, welche Variante auftaucht – und wie wir darauf reagieren werden.
Die Masken verschwinden nicht aus unserem Gedächtnis
Aber abgesehen davon: Was heisst denn Freiheit für uns alle nach zwei Jahren Pandemie überhaupt? Was heisst es, wenn Leute davon reden, dass man zur «Normalität» zurückkehre? Auf Twitter toben seit gestern unter dem #ohnemaskeohnemich hitzige Diskussionen über die geplanten Lockerungen. Scrollt man durch die Statements der User:innen wird schnell klar: Die Masken verschwinden vielleicht aus unserem Alltag, nicht aber aus unserem Gedächtnis.
Die Vorstellung, sich im öffentlichen Raum ohne Maske zu bewegen, empfinden viele als alles andere als befreiend. «Wir dürfen nicht vergessen, dass es immer noch Menschen gibt, die geschützt werden müssen», sagte denn auch Bundesrat Ignazio Cassis bei der heutigen Medienkonferenz. Er rufe die Gesellschaft auf, sich vorsichtig zu verhalten. Wie aber gewinnen wir unsere Freiheit zurück, wenn die Angst bleibt?
Kerstin Hasse«Ich weiss nicht, wie es euch geht, aber die Person, die ich im Februar 2020 war, bin ich heute nicht mehr.»
Der Druck wird nicht einfach so verschwinden
Der «Tages-Anzeiger» berichtet heute, dass seit Pandemie-Beginn deutlich mehr Menschen mit den Zähnen knirschen. Besonders betroffen von diesem Knirschen sind übrigens Frauen, wie Kieferchirurg Michael Blumer vor Kurzem gegenüber annabelle erklärte. Die Ursache: Der psychische Druck, der in den letzten zwei Jahren bei vielen zugenommen hat.
Dazu gibt es mittlerweile mehrere nationale und internationale Studien. Eine Umfrage der Swiss Corona Stress Study der Universität Basel zeigt etwa auf, wie die psychische Belastung in der Pandemie stetig anstieg. Während 2020 der Anteil von Befragten mit schweren depressiven Symptomen 9 Prozent betrug, kletterte diese Zahl im vergangenen Herbst auf 19 Prozent hoch.
Eine Studie der CSS hebt indes hervor, dass sich eine gewisse Resilienz-Schere in der Gesellschaft aufgetan hat. Personen, denen es vorher schon gut ging, schaffen es vielleicht gestärkt aus dieser Krise zu kommen. Doch wer sich vor der Pandemie psychisch angeschlagen fühlte, dem geht es heute tendenziell schlechter. Besonders betroffen von psychischer Belastung sind laut dem BAG Teenager und junge Erwachsene. Die CSS macht zudem einen grossen Leistungsdruck bei Frauen unter 30 Jahren aus, der sich negativ auf die psychische Gesundheit auswirkt.
Dieser psychische Druck wird nicht einfach so verschwinden. Ganz egal, ob wir eine Maske tragen oder nicht. Diese Pandemie hat etwas mit uns gemacht. Ich blicke in meinen Freundeskreis und ich sehe Menschen, die von einem tiefen Pessimismus gelähmt werden, Pärchen, die um ihre Beziehung kämpfen, ich sehe Freundschaften, die zerbrochen sind, Familien, die sich zerstritten haben und ausgebrannte Freund:innen, die sich ständig müde fühlen.
Unser Wertesystem hat sich verschoben
Ich sehe aber auch Liebe, Zuwendung und Sorge umeinander, Beziehungen, die intensiver wurden und bewusste Lebensentscheide, die Menschen in meinem Umfeld getroffen haben – und die sie weiterbrachten. Tatsache ist: Unser Wertesystem hat sich verschoben. Ich weiss nicht, wie es euch geht, aber die Person, die ich im Februar 2020 war, bin ich heute nicht mehr.
Man entwickelt sich auch ohne Pandemie ständig weiter und es liegt wohl besonders in der Natur meiner Altersklasse, mit 30 Jahren das Leben ein wenig nachjustieren zu wollen. Aber ganz abgesehen davon: Es hat sich viel verändert. Von der Art und Weise wie ich arbeite, über mein Selbstverständnis von Gesundheit bis hin zu meinem Verhältnis gegenüber meinen Freund:innen und meiner Familie. Wie viel Distanz brauche ich? Wie viel Nähe? Was macht mein Leben lebenswert? Was gibt mir Energie – und was raubt sie mir? Das sind Fragen, die wir uns plötzlich mit einer ganz anderen Dringlichkeit stellen mussten.
Wir können nicht vergessen
Hätte jemand im Frühsommer 2020 einen Freedom Day angekündigt, hätte ich die Champagnerkorken knallen lassen. Ich glaube, wir alle hätten ein paar wenige Monate Pandemie einfach ad acta legen können. Aber jetzt? Irgendetwas lähmt mich und ich weiss nicht, was es ist. Richtig befreit fühle ich mich nicht. Woran liegt das? An der Angst davor, bald wieder auf Feld 1 zurückgeworfen zu werden, vielleicht? Kann sein. Vorfreude ist ein emotionaler Zustand, den ich in meinem Gefühlrepertoire vorsichtshalber auf ein Minimum reduziert habe.
Vielleicht ist es aber auch die Angst davor, zurück in diese Welt geschubst zu werden und nicht vergessen zu können. Wir haben ein kollektives Trauma erlebt – und das lässt sich nicht so einfach verdrängen. Ich hätte mir nie träumen lassen können, dass die Welt so still stehen wird. Vor allem in der immer geschützten, immer sicheren Schweiz. Wir wissen nun, dass diese Sicherheit, in der wir uns einen Grossteil unseres Lebens wägten, ganz schön fragil ist. Es ist sehr gut möglich, dass wir in den kommenden Jahren wieder vor einer ähnlichen Krise stehen. Und das auszublenden, fällt nicht leicht.
Schritt für Schritt
Genau deshalb verspüre ich ein Misstrauen gegenüber dieser «neuen Freiheit», die uns nun so feierlich verkündet wurde. Sollten wir die Sache vielleicht ein wenig demütiger angehen? Laut Bundespräsident Cassis dürfe man keine Angst haben vor der «normalen Lage». Aber man dürfe auch nicht zu enthusiastisch sein. Ich weiss nicht so richtig, was ich mit dieser Aussage anfangen soll. «Freiheit bedeutet auch Verantwortung», sagte Cassis weiter. Klingt logisch, aber macht es auch nicht unkomplizierter.
«Guten Tag, ich gebe zu, ich war am Anfang entzückt», heisst es in dem Song von «Wir sind Helden» weiter. «Euer Leben zwickt und drückt nur dann nicht, wenn man sich bückt.» Vielleicht steckt in dieser Songzeile die Lösung. Dass wir uns diese neue Freiheit überziehen und einlaufen wie ein neues Paar Schuhe. Tag für Tag. Schritt für Schritt. Bis sie sitzt – und nicht mehr so unangenehm zwickt.