Wieso wir vor lauter Buchstaben die Menschen dahinter nicht mehr sehen. Eine Meinung von Redaktorin Helene Aecherli.
Mir ist bewusst, dass ich als genderkonforme, heterosexuelle, ergo zur Mehrheitsgesellschaft gehörende Frau mit den folgenden Zeilen ein heikles Terrain betrete. Trotzdem: Ich gestehe hier und jetzt, dass mich der fast schon inflationäre Gebrauch der Buchstabenkette LGBTQIA+ zunehmend irritiert. Aber lassen Sie mich ausholen: LGBTQIA+ bezeichnet die Allianzen zwischen unterschiedlichen nicht-heteronormativen Menschen und umfasst sowohl sexuelle Orientierungen als auch Geschlechtsidentitäten. Kurz: LGBTQIA+ steht für lesbisch, gay, bisexuell, transgender, queer, intersexuell und asexuell.
Zudem symbolisiert das Plus eine Andockstelle für weitere Kategorien, etwa P für pansexuell, die je nach Bedarf hinzugefügt werden können. Die Kette kam während der 1990er-Jahre in den USA auf und hat auch hierzulande längst an Fahrt gewonnen. Zu Recht, denn sie steht nicht zuletzt für die politische Forderung, dass Angehörige von Minderheiten unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger anerkannt werden sollen.
Das Label übernimmt die Identität
Im Zuge des Gendermainstreamings hat sich LGBTQIA+ jedoch immer expliziter in ein Label verwandelt, das sich vor allem super zur (Selbst)-Vermarktung insbesondere auf Social Media eignet – für alle, die sich damit brüsten wollen: Institutionen, Firmen und politische Gruppierungen. Jungen Menschen mag die Buchstabenreihe Orientierung und Zugehörigkeit vermitteln.
Der mediale Wettbewerb um Gendergerechtigkeit und moralische Rechtschaffenheit hat das Label inzwischen jedoch derart ideologisch aufgeladen, dass Kritik daran reflexartig als Verrat gewertet wird. Mehr noch: Durch diese exzessive Fokussierung auf Geschlechtsidentitäten und sexuelle Orientierungen – etwas, das wir ja eigentlich längst überwunden zu haben glaubten – drohen ausgerechnet die «regenbogenfarbenen» Menschen hinter den Buchstaben als Individuen zu verblassen. Das Label übernimmt die Identität, die Menschen selber bleiben als Subgruppe rubriziert.
Kritik regt sich auch in der Community selbst
Kritik am Buchstaben-Label regt sich auch in der Community selbst. Meine lesbische Freundin zum Beispiel, in jungen Jahren selber in der LGBTQIA+-Bewegung aktiv, formuliert es so: «Die Buchstaben werden inzwischen benutzt, als wären sie ein schickes Handtäschli. Alles dreht sich nur noch ums Etikett. Aber das allein ist nicht die Basis der Regenbogenfamilie; die Basis bilden all die verschiedenen Menschen, die dahinterstecken.» Zu welchem Buchstaben sie im LGBTQIA+-Mix gehöre, sei für sie irrelevant.
«Für mich ist wichtig: Haben wir alle die gleichen Möglichkeiten und Rechte? Bei der Ehe, zum Beispiel, der Insemination oder bei der Adoption von Kindern? Solche Fragen müssen im Zentrum stehen», betont sie, «nicht der Buchstabensalat.» Höchste Zeit also, dass wir alle einen Schritt zurücktreten und den Blick von den einzelnen Buchstaben auf das ganze Alphabet richten. Denn wir als Gesellschaft kommen nur vorwärts, wenn wir vereint sind in unserer Unterschiedlichkeit. Oder wie ein Credo aus der Wirtschaft lautet: Diverse Teams performen besser.
Vielen Dank für diesen sehr guten Text ! Erinnert mich ein wenig an die Frauenbewegung, man streitet sich um die Rechtschreibung, aber bezahlt werden Frauen immer noch weniger als die Männer und solange diese Frage nicht geregelt ist, interessiert mich eine angepasste Sprache nicht im geringsten. So gehen Prioritäten verloren.