Zeitgeist
Meinung: Diese zehn Überlebensregeln der «Weltwoche» braucht niemand
Kerstin Hasse
Stellvertretende Chefredaktorin und Head of Digital
Die «Weltwoche» gibt in ihrer neuen Ausgabe jungen Frauen zehn Regeln, um «im Ausgang zu überleben». Sich der öffentlichen Debatte so zu verschliessen, ist schlicht ignorant, schreibt unsere stellvertretende Chefredaktorin Kerstin Hasse.
Eigentlich hatte ich mir geschworen, nicht mehr über die Arbeit der «Weltwoche» zu schreiben. Denn zum einen ist mir bewusst, dass die Inhalte dieses Magazins und meinen Ansichten frappant auseinanderklaffen – was völlig okay ist. Ich muss mir auch nicht dauernd Helene Fischer reinziehen, wenn ich weiss, dass Schlager nicht mein Ding sind. Zum anderen lebt dieses Blatt – und die Macher:innen dahinter – von der Aufmerksamkeit, die ihnen durch ihre populistischen und auf Krawall und Provokation gebürsteten Texte geschenkt wird. Je blöder der Inhalt, desto grösser der Aufschrei auf Twitter. Das haben Köppel und Co. schon vor Jahren verstanden. Mittlerweile springen aber bei Weitem nicht mehr so viele Leute auf diesen Zug auf, denn vieles, was die Weltwoche schreibt, ist einfach nur noch langweilig.
Nun ist aber die neue Ausgabe erschienen und ich kann nicht anders, als kurz dazu Stellung zu beziehen. Roman Zeller, Journalist, 29 Jahre alt, gibt im Artikel «Wildnis der Nacht» (!) jungen Frauen «zehn goldene Regeln» für das «Überleben im Ausgang». Wer bereits Titel und Lead liest, denkt sich: come on, Roman! Das kannst du nicht ernst meinen! Doch, anscheinend schon. Und es wird noch schlimmer.
Geize mit Reizen!
Zeller erklärt in seiner Einleitung, dass die Zahlen eine «eindeutige Sprache» sprechen, er zitiert Studien, die belegen, dass sich Frauen unter anderem im Ausgang belästigt fühlen. Zeller hat sich also aufgemacht, mit «jungen Frauen, Eltern, Klubbetreibern (…) und LGBTQ+-Aktivisten» zu reden – allesamt anonymisiert –, um aus diesem vermeintlichen Expert:innenwissen eben diese zehn goldenen Regeln zusammenzuzimmern. Und diese zehn Regeln lesen sich leider wie die kleine Bibel des Victim Blamings. «Geize mit Reizen» (die zitierte Nina* im Text rät zu Shorts unter dem Kleid, weil viele Männer nur darauf warten, Frauen unter die Beine zu schauen), «Tanze zu Elektro» (bei Hiphop gibt’s zu viel Ärger, und Sophie* geht sogar noch weiter und rät, als Frau gar nicht mehr in den Ausgang zu gehen, sondern an Home-Partys zu feiern), «Lerne zu kämpfen» (zu wissen, wie man sich verteidigt, schade ja nie) oder die wunderbare Regel «Küss keine Frau» (hier wird Transfrauen dazu geraten, sich nicht zu flashy anzuziehen, weil man dann mit Gewalt rechnen muss).
Da die Löwen, dort die Gazellen
Man kann das abtun als Populismus, als typisches misogynes Weltwoche-Geschwurbel. Aber gerade weil dieser ganze Artikel einen so helfenden Unterton hat, geht das nicht. Ich befürchte nämlich, dass Zeller glaubt, die Sache tatsächlich verstanden zu haben. Hey Frauen: Bleibt mal besser zuhause, trinkt nicht zu viel, feiert nicht zu doll, tanzt nicht zur falschen Musik, seid bloss nicht aufmüpfig und zieht euch eine extra Hose über – dann passiert euch auch nix. Danke Roman, was für eine Lebensschule! Das klingt nach einer richtig geilen Zeit!
Männer sind Hormongesteuerte Raubtiere, die sich nicht im Griff haben, Frauen das verlockende Beutetier. Da die Löwen, ständig auf der Jagd, dort die Gazellen, stets in Gefahr (von Gazellen ist tatsächlich die Rede im Text, nochmals: come on, Roman!). Das darwinistische Konzept «fressen oder gefressen werden» wird kurzerhand umgedeutet in «gefressen werden – und selbst schuld daran sein».
Ich könnte jetzt von mansplaining reden, ich könnte #Metoo einbringen oder #textmewhenyougethome. Ich könnte an Sarah Everard erinnern, die alle diese saublöden «Überlebensregeln» von Zeller befolgt hat und dennoch vergewaltig und ermordet wurde. Aber anscheinend sind all diese Phänomene und Bewegungen an der «Weltwoche» und an Roman Zeller vorbeigezogen. Oder – noch schlimmer – an ihm abgeprallt. Sich der öffentlichen Debatte derart zu verschliessen, weiterhin an überholten Moralvorstellungen festzuhalten und sich sogar noch als helfender Frauenversteher zu inszenieren, ist weder blöd noch langweilig, sondern einfach nur schrecklich antiquiert, berechnend – und unfassbar ignorant.
WORD! Vielen Dank Frau Hasse
Danke! liebe Grüsse, Kerstin Hasse
Bin gleicher Meinung wie Frau Hasse. Sowas geht gar nicht!Keine Frau muss sich dem Beugen. Wir haben ebenfalls das recht zu feiern und uns anzuziehen wie wir wollen!
super Artikel von Ihnen, Frau Hasse.
Die Weltwoche macht sich nur noch lächerlich mit solch reaktionären Artikeln.
Vielen Dank für Ihre Nachricht. Leider erhaschen Sie sich dennoch Aufmerksamkeit mit diesen Texten. Das ist auch mein grosser Zwiespalt jeweils: Darauf reagieren oder nicht? In diesem Fall konnte ich nicht anders. Freundliche Grüsse, Kerstin Hasse
reagieren, widerlegen!
das haben sie wunderbar sachlich getan
danke
Danke, das freut mich! Herzlich, Kerstin Hasse
Mindestens in einem Punkt liegt die Weltwoche nicht ganz falsch: Wenn wir Frauen unsere Pobacken und primären Geschlechtsmerkmale in engst geschnittener Kleidung in der Öffentlichkeit in Szene setzen, werden dadurch sexuelle Übergriffe von Männern geradezu provoziert. Besonders Männer aus anderen Kulturkreisen interpretieren solch aufreizende Aufmachung gelegentlich als Einladung zum Zugreifen, denn in ihren Herkunftsländern entspricht diese Art der Bekleidung dem Outfit von Sexarbeiter:innen.
Ich bin der Meinung, dass es kein Outfit gibt, dass ein Übergriff rechtfertigt. Outfits senden Signale aus, da stimme ich Ihnen zu. Und dieser Signale sollte man sich bewusst sein. Dennoch gibt es dem Epfänger oder der Empfängerin der Signale nicht das recht, Grenzen zu überschreiten. Freundliche Grüsse, Kerstin Hasse
Natürlich rechtfertigt nichts in der Welt sexuelle Übergriffe. Was aber nicht heisst, dass sie deshalb nicht vorkommen und dass zu freizügige Kleidung gelegentlich von bestimmten Männern als Einladung (und persönliche Rechtfertigung) für solche Übergriffe interpretiert wird. Wer die Fenster und Aussentüren seiner Wohnung im Parterre offen stehen lässt und in die Ferien fährt, darf sich schließlich auch nicht wundern, wenn eine zwielichtige Täterschaft die Wohnung ausräumt, obwohl der Diebstahl selbst niemals durch das Offenstehenlassen von Türen und Fenstern rechtfertigt werden kann.
Sehr geehrte Frau Hasse!
Sie wollen wohl einfach nicht haben, dass dies die REALITÄT ist. Schön, wenn Sie für Freiheit und die Rechte der Frauen einstehen. Aber die REALITÄT zeigt leider ein Bild, dass sich die Ausgangsszene in den letzten zwei Jahrzehnten massiv verändert hat. Natürlich soll sich jede Frau anziehen können wie sie will – das ist nicht das Problem. Bin ich absolut dafür! Das Problem ist, dass speziell Männer aus anderen Kulturkreisen – dazu gibt es Statistiken – übermässig in Übergriffe im Ausgang verwickelt sind. Im Übrigen auch auf die LGBTQ-Community….und das haben wir ganz sicher nicht der SVP-Politik zu verdanken…
Freundliche Grüsse
Vielen Dank für diese Worte, sie sind absolut notwendig!
Vielen Dank! Freundliche Grüsse, Kerstin Hasse
Super Artikel, da gratuliere ihnen. Ich habe nur etwas Angst, dass man noch mehr von diesem”Journalisten” lesen wird, wie auch immer. Sicher nicht so Gutes. So fühle ich das, Richard RjW