Meine Meinung zu Paris: Was tun gegen die Gefahr?
- Text: Helene Aecherli
Redaktorin Helene Aecherli ist zutiefst schockiert über die Attentate in Paris. Die Nahost-Kennerin sucht Antworten auf die Frage, wie mit dieser Gewalt umzugehen ist und fordert ein Umdenken.
Es gibt wohl kaum jemanden, der die letzten Stunden oder Tage nicht damit verbracht hätte, Berichte und Analysen zu den Terroranschlägen in Paris zu verschlingen – im verzweifelten Bestreben darum, diese furchtbaren Taten zumindest irgendwie für sich einordnen zu können. Ich, auf jeden Fall, habe mich fast mit Gewalt von Twitter und CNN wegzwingen müssen, geschlafen habe ich wenig. Das Gefühl, in der Schusslinie einer kaum fassbaren Macht zu sein, verunsichert existentiell, und es stellt sich die Frage: Was ist gegen diese Gefahr zu tun?
Um es gleich vorweg zu nehmen: Es gibt keine einfachen Antworten, und zur Zeit wohl auch niemanden, der eine Antwort darauf weiss. Zwar werden wir nun mit Kriegsrhetorik überflutet und mit Meldungen über Luftschläge gegen den IS. Dieses Muskelgebaren widerspiegelt Entsetzen und Fassungslosigkeit, doch verhehlt es nur schlecht, dass gegenüber dem IS vor allem eines herrscht: Ratlosigkeit. Das habe ich an Kongressen und im Zuge meiner Recherchen zum Thema immer wieder erfahren. Dies ist beklemmend, denn es bleibt einem nur die Möglichkeit, verstört den Kopf in den Sand zu stecken und alles auszublenden oder einen Schritt zurückzutreten und versuchen, das dahinter liegende grössere Bild zu sehen, um dann so nüchtern wie möglich, Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.
Ich habe mich für den zweiten Weg entschieden.
Hier gilt es als erstes zu erkennen, dass die extremistische Ideologie des IS, die die treibende Kraft war hinter den Attentaten von Paris, längst zu einer internationalen Bedrohung angewachsen ist. Sie hat zum Ziel, Zivilgesellschaften in ihren Grundfesten zu erschüttern und das so entstandene Vakuum mit ihrem wahnhaften Machtanspruch zu füllen. Der IS hat sich zur Speerspitze jihadistischer Organisationen benannt, Terrorgruppen wie die nigerianische Boko Haram oder Teile der afghanischen Taliban haben ihm Gefolgschaft geschworen. Doch nähren sich auch die somalische al-Shabaab oder die mit dem IS konkurrierende al-Kaida aus ein und derselben Ideologie. Deshalb ist es wichtig, die Terrorattentate in Paris, Beirut und im Sinai, in der Türkei, in Syrien, im Jemen und im Irak, in Bangladesch, Pakistan, Nigeria, Kenia und in Afghanistan nicht als voneinander unabhängige Gräueltaten zu sehen, sondern als miteinander verbundene Akte. Ihre Verknüpfung bildet die Fratze eines weltumspannenden Musters.
Um dies anzugehen, müssen wir umdenken.
Wie die jemenitisch-schweizerische Politologin Elham Manea bereits vor einem Jahr im Essay «Time to Face the ISIS Inside of Us» schrieb, wäre es nun zu einfach, darauf zu beharren, dass der IS nichts mit den korrekten Lehren des Islam zu tun hat. Tatsache ist, betont sie, dass die Aktionen der Terrormiliz eine Konsequenz des islamischen ideologischen Mainstreamdiskurses sind, der seit Jahrzehnten andauert. Sie denke da an Prediger, die via Fernsehen, Internet und in Moscheen Botschaften von Hass und Intoleranz verbreiten. Die Christen, Juden und säkulare Muslime verfluchen, aber querbeet auch andere «Ungläubige», seien es Homosexuelle, Künstler oder muslimische Menschenrechtsaktivistinnen, die gegen den islamistischen Terror ankämpfen. Die Hassbotschaften blieben noch immer meist unwidersprochen, würden kaum durch aufklärende Stimmen herausgefordert. Auf diese Weise hätten radikale Prediger und Gruppierungen nach wie vor fast gänzlich freie Hand, unterstützt von Sponsoren unter anderem aus Saudi Arabien und Katar – Staaten, notabene, die enge politische und wirtschaftliche Verbündete des Westens sind (Stichwort: Waffenlieferungen in Milliardenhöhe).
Geht das auf? Nein.
Am liebsten würde ich religiösen, politischen und wirtschaftlichen Verantwortungsträgern zuschreien, sich nicht länger hinter den Killerargumenten «dies hat alles nichts mit uns zu tun», und «das ist halt mal Realpolitik» zu verstecken. Denn wir – West und Ost – stehen gerade aufgrund der Terrorgefahr an einem Scheideweg unserer Geschichte. Wollen wir diese Gefahr nachhaltig bekämpfen, braucht es Politikerinnen, Wirtschaftsführer und Religionvertreter, die den Willen und die Weitsicht haben, diese «wunden Punkte» zu erkennen, ohne Polemik zu benennen und Gegensteuer zu geben – auch wenn sie dadurch Machtverlust oder witschaftliche Einbussen riskieren.
Hierzu gehört, die Terrorgefahr für Europa nicht reflexartig mit der aktuelle Flüchtlingskrise in Zusammenhang zu bringen, selbst wenn sich die Indizien verdichten würden, dass einer der Attentäter in Paris als Flüchtling getarnt nach Europa gekommen wäre. Diese Schlussfolgerung wäre so simpel wie gefährlich. Gefährlich deshalb, weil sie die rechtspopulistische Propaganda befeuern – und Twitter und Facebook triefen bereits davon – und das Risiko einer Spaltung der europäischen Gesellschaften erhöhen könnte – etwas, das wie gesagt, den Ideologen des IS hoch willkommen wäre. So warnt der amerikanische Anthropologe Scott Atran in The Guardian: «Geschickt nützen die Terroristen die beängstigende Dynamik zwischen dem immer stärker werdenden radikalen Islamismus und dem Wiedererwachen fremdenfeindlicher ethno-nationalistischer Bewegungen aus, die die Mittelklasse ernsthaft zu untergraben beginnen – den Garant für Stabilität und Demokratie in Europa».
Um diese Grabarbeiten zu stoppen, sind Behörden, Lehrer, Sozialarbeiter, die demokratisch gesinnte Mehrheit im Land und nicht zuletzt auch die Flüchtlinge selbst, die sich dafür entscheiden, in Europa zu bleiben, herausgefordert, eine Form des Zusammenlebens zu finden, die die Grundlage für eine starke, krisenfeste Mittelklasse bildet. Und in diesem Prozess werden wir nicht darum herum kommen, über Religionen zu debattieren.
Damit hätten wir eigentlich schon längst beginnen sollen.
Denn Experten wie der arabisch-israelische Psychologe Ahmad Mansour weisen darauf hin, dass gerade in Europa immer mehr Jugendliche gefährdet sind, in Ideologien mit freiheitsfeindlichen Werten abzudriften. Mansour nennt sie «Generation Allah». Diese Jugendlichen sind keine finsteren Gestalten, die sich über unsere Grenzen schmuggeln und sich mit schärferen Kontrollen abwehren liessen, sondern Teil unserer Gesellschaften: Es sind Franzosen, Belgier, Deutsche, Schweden, Schweizer. Doch wird dieses Phänomen von der Politik bagatellisiert und verdrängt, es ist ein «blinder Fleck in der Gesellschaft». «Wer der Generation Allah wirksam und nachhaltig begegnen will, darf nicht nur Fragen der Sicherheit im Sinn haben», schreibt Ahmad Mansour in seinem Buch «Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen». «Um jene zu erreichen, die derzeit abdriften, braucht man gesamtgesellschaftliche Konzepte und individuelle Rettungsprogramme.»
Eines dieser Konzepte zielt darauf ab, frühe Anzeichen von Radikalisierungsprozessen zu erkennen, sie offen zu legen und ohne Beisshemmungen zu diskutieren – sei es an Schulen, in Jugendgruppen oder in den Medien. Zudem gilt es, die Verführungskraft sogenannt «non-violent Islamist groups» zu analysieren, da sie der gewaltbereiten Ideologie den Weg ebnen können.
Darüber hinaus, und das halte ich für ebenso wichtig, wird es in Zukunft mehr denn je darum gehen, beharrlich jene Stimmen zu unterstützen, die mit friedlichen Mitteln – und oft unter Lebensgefahr – für eine Veränderung ihrer Gesellschaften kämpfen sowie für die bedingungslose Umsetzung der Menschenrechte, zu denen auch das Recht auf Meinungs- und Religionsfreiheit gehört. Und der Chor dieser Stimmen ist gross, man muss die einzelnen Stimmen nur hören wollen. Einer der in dieser Beziehung herausragenden Aktivisten ist für mich der saudische Blogger Raif Badawi, der aufgrund seiner regime- und religionskritischen Publikationen zu 1000 Stockhieben und zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden ist. Ein junger Mann, der diese Strafen bewusst auf sich genommen hat, um für Grundwerte einzustehen, die für uns selbstverständlich sind.
Ich weiss, dies alles wird Mut von uns erfordern, eine klare Haltung und ein Bekenntnis zu unseren demokratischen Grundwerten. Aber es wird uns möglicherweise nichts anders übrig bleiben. Das ist zwar nicht weiter schlimm. Denn während wir das tun, ziehen wir uns nicht etwa vor Angst zurück, bleiben nicht zuhause statt in die Ferien zu fliegen, meiden weder Konzerte noch Fussballspiele, sondern leben weiter wie zuvor. Vielleicht einfach ein bisschen entschlossener.
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Illustration: Jean Jullien (www.jeanjullien.com)