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Meine Meinung: Der Wunsch nach mehr Willkommenskultur

Leben

Meine Meinung: Der Wunsch nach mehr Willkommenskultur

  • Text: Barbara Achermann; Foto: Fotostudio annabelle; Bildbearbeitung: annabelle

annabelle-Redaktorin Barbara Achermann hat beim Lesen unserer Flüchtlingsreportage «Das Dorf der Hoffnung» Win-Win-Potenzial für Schweizer Randregionen entdeckt.

Wie wollen wir die Flüchtlinge beherbergen? Diese Frage treibt die europäischen Staatsoberhäupter um, und selbst Gemeindevorsteher in kleinen Ortschaften zerbrechen sich den Kopf darüber: Während Domenico Lucano im italienischen Riace den Blick nachdenklich übers Mittelmeer schweifen lässt, runzelt der frisch gewählte SVP-Nationalrat Andreas Glarner im aargauischen Oberwil-Lieli die Stirn. Wohin mit den Flüchtlingen? Diese Frage beschäftigt die Gemeindepräsidenten beider Ortschaften. Ihre Visionen könnten unterschiedlicher nicht sein. Lucano will Hunderte Flüchtlinge beherbergen, Glarner nicht einen einzigen. Lucano lässt die alten Häuser in seinem Dorf von Asylsuchenden renovieren, um sie später dort wohnen zu lassen. Glarner ordnet an, die leer stehenden Häuser vorsorglich abzureissen, damit der Kanton keine Asylanten einquartiert. Lucano heisst 400 Flüchtlinge willkommen, Glarner wehrt sich erfolgreich gegen fünf. Lucano erhält vom Staat für jeden Flüchtling 30 Euro pro Tag, Glarner ist bereit, 300 000 Franken Strafgebühren zu zahlen, weil er keinen aufnimmt. Lucano sieht in den Flüchtlingen eine Chance für die Zukunft seines Dorfs, Glarner lebenslange Sozialhilfebezüger.

Dabei liesse sich das Beispiel Riace durchaus auch als Vision für die Schweiz lesen. Noch leben hier die meisten Asylsuchenden in der Stadt. Weshalb eigentlich? In manchen Dörfern stehen über zehn Prozent der Wohnungen leer, in Seedorf, Perrefitte oder Romont im Kanton Bern, in Salmsach im Kanton Thurgau oder Bonfol im Kanton Jura. Anstatt die Abwanderung der Jungen auf dem Land zu bedauern, könnte man die Zuwanderung dorthin begrüssen. So wie die rund 150 Menschen, die in Oberwil-Lieli gegen ihren Gemeindeammann demonstrierten – «Herzen öffnen, nicht Gemeindekassen» war ihr Motto.

Mit offenen Herzen, etwas Mut und Tatendrang wäre die Aufnahme von Flüchtlingen für ausblutende Schweizer Randregionen womöglich nicht Bedrohung, sondern Revitalisierung: Der Dorfladen könnte wieder öffnen, in der Schule gäbe es wieder mehr Kinder und auf den Dorfstrassen mehr Leben, die Bauern und Winzer rekrutierten ihre Hilfskräfte wieder vor Ort anstatt in Polen – und im Gegenzug fänden Hilfesuchende ein neues, sicheres Zuhause. Es gäbe auch Arbeitslose und vereinzelte Unruhestifter, vermutlich ja, dafür wäre der demografische Wandel entschärft.

Es macht den Anschein, als wären zumindest die Demonstranten von Oberwil-Lieli bereit für ein Schweizer Riace oder zumindest ein Riace en miniature. Jetzt brauchen sie nur noch den passenden Gemeindepräsidenten. Einen mutigen Anpacker, keinen sturen Verhinderer.