Meine Meinung: Warum bitte schön sind Sie denn so dick?
- Text: Antje Joel, Illustration: Grafilu
Autorin Antje Joel über Gewichtsdiskriminierung und Vorstellungsgespräche im Privaten.
Frau Müller, die ihren wahren Namen nicht öffentlich haben will, hat also den Job nicht bekommen. Oder sie wollte ihn schliesslich nicht mehr, weil ihr Beinah-Arbeitgeber, der «Borreliose und FSME Bund Deutschland», sie «extrem übergewichtig» fand. Das teilte ihr die damalige stellvertretende Vereinsvorsitzende mit. Frau Müller trägt Kleidergrösse 42. Wie übrigens zwei Drittel aller erwachsenen Frauen in Westeuropa, aber das nur am Rand erwähnt.
Über das Mail der Borreliosefrau hat Frau Müller «so richtig geheult». Dann geklagt. Wegen Diskriminierung, auf 35 000 Franken Entschädigung. Die Richterin lehnte ab. Frau Müller sei erstens zu dünn, um als diskriminiert gelten zu können. Zweitens gehöre zum Recht auf freie Meinungsäusserung, das Gewicht eines Job-Bewerbers offen anzusprechen.
Klar, man will keine verlogenen Zustände wie in den USA. Wo meine Facebook-Freunde noch unter das Bild eines 250-Kilo-Brummers schreiben «Du siehst wunderschön aus!» und sich so mitschuldig an seiner galoppierenden Verfettung machen. Aber einer Bewerberin zu schreiben, sie sei in ihrem «Zustand nicht vorzeigbar», wie gegenüber Frau Müller geschehen, hat mit freier Meinungsäusserung nichts mehr zu tun. Wenn mich ein 100-Kilo-Mann bäte, mit ihm auszugehen, und ich blaffte: «Mit dir Fettklops kann ich mich nirgends blicken lassen!», empfände er das auch nicht als erfrischend offen. Er hielte mich meinerseits für einen Trampel. Zu Recht.
Warum sollten zwischen potenziellem Arbeitgeber und Arbeitnehmer andere, lockere Regeln gelten als im privaten Umgang? Wenn überhaupt, ist das Gegenteil der Fall: Seine Machtstellung verpflichtet den Arbeitgeber, die Grenzen seines möglichen oder unmöglichen Arbeitnehmers besonders penibel zu achten. Vorgesetzter, Untergebener, Brötchengeber – im Idealfall schüren diese Begriffe das Verantwortungsbewusstsein des Mächtigeren. Leider laden sie manchen zum Missbrauch seiner Macht ein.
Die Frau vom Borreliose-Verein etwa hatte zum Vorstellungsgespräch bei sich zuhause geladen. Mit stundenlangem Geplauder und anschliessendem Spaghettiessen, aufgetischt von ihrem Ehemann. Ein familiär verlogenes, jede professionelle Grenze überschreitendes Brimborium. «Wir hatten ein schönes, tolles, fruchtbares, intensives, familiäres Vorstellungsgespräch.» Das glaubte Frau Müller. Am folgenden Sonntagabend erhielt sie dann jenes Mail. Darin verlangte die Chefin in spe nun so konsequent wie irre vertraulich zu wissen: «Was hat dazu geführt, dass Sie kein Normalgewicht haben?»
Nun ja. Man hört so viele Gründe, die zu Unnormalgewicht führen: Heirat, schlechtes Wetter, Scheidung, die Schilddrüse, der Tod des Familienhamsters. Der allgemeine, von internationalen Experten anerkannte Grund allerdings ist: Die oder der Dicke hat zu viel gefressen. Erstaunlich, dass die stellvertretende Vorsitzende eines Gesundheitsvereins das nicht weiss.
Oder was genau wollte sie wissen? Ob Frau Müller Ehe- oder Drüsenprobleme hat? Ob ihr Hamster tot umgefallen ist? Das geht eine Beinah-Arbeitgeberin nichts an! Die darf meinetwegen sagen: «Wenn wir Sie einstellen, erwarten wir, dass Sie abnehmen!» Auf die Offenbarung privater Probleme pochen und den Analytiker-Kumpel geben darf sie nicht. Damit überschreitet sie einmal mehr Grenzen. Und missbraucht ihre Macht.
Damit auch eine Frau Borreliose-Expertin das rechtzeitig kapiert, gehören Vorstellungsgespräche im Büro geführt. Ohne Ehemann, Spaghetti und Pipapo. Gesunde Grenzen, von Beginn an.