Leben
Meine Meinung: Die Qual der Wahl von Frauen
- Text: Regula Stämpfli; Foto: Annette Bouteiller/Lunax; Bearbeitung: annabelle
Politologin Regula Stämpfli über den Frauenanteil in der Schweizer Politik und warum Frauen auf allen politischen Ebenen verlieren.
Warum wählen nicht mehr Frauen Frauen? », lautet die Standardfrage. Antwort: Falsche Frage. Besser: Warum werden Frauen weniger gewählt? Antwort: Weil Männer und Frauen weniger Frauen wählen. Männer wählen Frauen weniger häufig, als sie Männer wählen. So ist es nur logisch, dass auch Frauen kaum Frauen wählen. Denn viele Frauen tun, was die Mehrheit tut. Und die ist seit Jahrhunderten gegenüber Menschen mit Menstruationshintergrund gleichgültig, feindlich, aber nie einfach «normal» eingestellt. Selbst wenn Frauen durchaus «normale» Menschen sind. Wählen also Männer seltener Frauen (vielleicht auch nur deshalb, weil dies ihnen gar nicht auffällt), dann wählen auch Frauen weniger Frauen (auch dies oft kein bewusster Akt). Findet die Mehrheit, Frauen haben vor allem schön zu sein, stecken viele Frauen alles in ihre Schönheit. Findet die Mehrheit, Frauen müssten sich verhüllen, verhüllen sich die Frauen. Klar doch: Es gibt Frauen, die dies echt scheisse finden. Aber die werden selten gehört, gelesen, interviewt, gefilmt oder gar gewählt. Im Gegenteil. Entsprechen Frauen nicht der gesellschaftlichen, kulturellen, philosophischen, normativen Vorstellung von «Frau», dann haben sie es schwer. In jeder Hinsicht und selbstverständlich in der Politik.
Rein technisch gesehen verlieren Frauen in der Schweizer Politik auf allen drei Ebenen, die für ein politisches Amt wichtig sind: Mobilisierung, Nomination und Wahl. Es wird zwar behauptet: «Wir würden sofort eine Frau befördern, finden einfach keine.» Was eine Lüge ist. Wahr wäre: «Wir finden keine, die uns passt. Die wir akzeptieren können. Die sich in unser Raster einfügt. Die uns nicht Angst macht (aus welchen Gründen auch immer).» Deshalb werden weniger Frauen auf der untersten Ebene für Politik mobilisiert und schon gar nicht gleich viel Frauen wie Männer für die nationalen Wahlen nominiert. Die Qual der Wahl von Frauen zeigt sich schliesslich auch noch am Wahltag. Frauen werden selbst in der gleichen Partei im Vergleich zu den nominierten Männern weniger häufig gewählt.
Frauen in der Mehrheit findet man meist nur dort, wo es wenig Macht (Gemeinde) und vor allem wenig Verdienstmöglichkeiten (Ehrenamt) gibt. An diesen Abschiebebahnhöfen für das schlechte Gewissen der Männer tummeln sich dann scharenweise die Frauen. Will eine Frau echt hammermässigen Erfolg haben, kann sie dies nur mit klassischen Frauenthemen erreichen: Diäten, Ratgebern, Mode, Gesellschaft, Style und Ähnlichem. Jede Frau ist ein Individuum und anders. Dass sie aber in den Augen der anderen vor allem Frau bleibt, merkt sie meist erst, wenn der Listenplatz, für den sie sich beworben hat, schon wieder an ihren Kollegen vergeben worden ist. Ich erinnere an den wunderbaren Filmtitel von Rainer Werner Fassbinder: «Fontane Effi Briest oder: Viele, die eine Ahnung haben von ihren Möglichkeiten und ihren Bedürfnissen und trotzdem das herrschende System in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre Taten und es somit festigen und durchaus bestätigen». Wenn wir die jüngsten Wahlergebnisse in einigen Kantonen hochrechnen, ist zu befürchten, dass der Frauenanteil 2015 noch hinter den von 2011 zurückgeht.