Meine Meinung: Lasst mir meinen alten Handy-Knochen!
- Text: Frank Heer, Illustration: Grafilu
annabelle-Redaktor Frank Heer mag sein Nokia 515 und würde dies auch nicht gegen ein brandneues iPhone tauschen wollen.
Neulich, als ich mein altes Mobiltelefon gegen ein neues tauschen wollte, lächelte der Telefonverkäufer nachsichtig. Er nahm mich behutsam am Arm und führte mich vor das grosse und hell beleuchtete Regal mit den Smartphones. Sicher dachte er, ich sei die letzten zehn Jahre im Koma gelegen und hätte die Evolution vom Handy zum Smartphone verpasst. Er zeigte mir, was das neue Huawei und das HTC so alles können, und ich zeigte auf das schmale, schwach beleuchtete Regal in der Ecke. Hier werden die alten Knochen gelagert. Primitive Apparate, mit denen man telefonieren und Textnachrichten versenden kann. Das will ich, sagte ich dem Verkäufer und ruinierte ihm den Tag, weil mein Abo nur 35 Franken kostet und der Knochen so gut wie gratis ist.
Es sind aber nicht nur Telefonverkäufer, die an meiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln. Meine Schwiegermutter möchte mir seit Jahren ein iPhone schenken, schliesslich bin ich der Mann ihrer Tochter und habe Repräsentationspflichten zu erfüllen. Meine Resistenz ist ihr nicht geheuer, und ich muss verflixt aufpassen, dass sie mir nicht heimlich das neue 5s in die Jackentasche steckt. Selbst im Freundeskreis gelte ich mit meinem Nokia 515 als kauzig. Man prophezeit mir, den Anschluss an die digitale Realität zu verlieren. Auch meine Chefin wagte kürzlich einen diskreten Bekehrungsversuch («Bei deinem Beruf …»), den ich freundlich überhörte.
Dabei bin ich Pro-Choice und habe nichts gegen Smartphones. Nicht aus Prinzip, sondern mangels Begeisterung. Im Tram gehöre ich zu den wenigen Passagieren, die noch planlos aus dem Fenster schauen und in der Nase bohren, statt das Zeitfenster zu nutzen, um erstens die Agenda upzudaten, zweitens der Welt auf Facebook guten Tag zu sagen, drittens die Geburt der Tochter eines Freundes auf Youtube zu liken und viertens «Candy Crush» zu spielen. Gut möglich, dass meinem teflonartigen Desinteresse eine Störung im limbischen System zugrunde liegt. Oder es ist gerade andersrum: Fürchte ich die Zuneigung, die sich zwischen mir und meinem Handset entwickeln könnte? Und dem damit verbundenen Verlust der letzten verbleibenden Zeitfenster für den mentalen Müssiggang? Immerhin – ich gestehe – habe ich schon öfter mit dem iPhone meiner Frau geflirtet (ich mag die Bier-App oder die virtuelle Violine). Was, wenn in mir Triebe schlummern, die ich bei anderen belächle? Vielleicht poste ich plötzlich wacklige Mitschnitte vom Bruce-Springsteen-Konzert? Oder noch schlimmer: Ich checke meine Office-Mails auf dem Weg ins Büro!
Ich sei der letzte Mohikaner, heisst es immer öfter, wenn ich meinen alten Knochen zücke, um ein Telefonat zu erledigen. Stimmt. Das war ich schon 2005, als ich mein erstes Handy kaufte. Und auch ganz früher, als ich bei Wildwestfilmen immer auf der Seite der Indianer war (= Loser). Wobei ich nicht die Meinung vertrete, dass die analoge Welt die bessere ist. Kürzlich am Flughafen in Wien: Eine johlende Horde Schweizer Geschäftsmänner nähert sich dem Gate. Gelockerte Krawatten. Brusttrommeln. Rippenboxen. Verbales Armdrücken. Ich duckte meinen Kopf vor landsmännischer Scham zwischen die analogen Seiten einer deutschen Wochenzeitung – und plötzlich herrschte Ruhe. Ich blinzelte über den Rand des Papiers: Die Gorillas waren noch da, doch streichelten sie jetzt zärtlich ihre Smartphoneoberflächen. Sie liessen bis Zürich-Kloten nicht von ihnen ab. Nur einer kratzte sich gelangweilt am Kopf, griff in seine Jackentasche und zückte sein altes Nokia. Dann brüllte er: «Schatz, ich bis, ghörsch mi?»