annabelle-Redaktorin Barbara Achermann über den Kontrollwahn in Basler Kindergärten.
Frau B. hat eine grosse Gabe: Sie versteht Kinder. Sie weiss, weshalb sie Wutanfälle oder Hemmungen haben, und kennt die Dynamik ihrer Freundschaften, weil sie sich für Kinder interessiert und sie gern hat. Sie ist Kindergärtnerin und macht diesen Job seit drei Jahrzehnten. Doch dieses Jahr ist etwas anders: Frau B. musste 1512 Fragen beantworten. Ein bürokratischer Albtraum. Gut dreissig Stunden hat sie daran gearbeitet. Lange Stunden, in denen sie lieber einen Waldtag vorbereitet und eine neue Bastelidee ausprobiert hätte. Stattdessen musste sie für jedes ihrer 21 Kindsgi-Kinder einen Lernbericht ausfüllen, 72 Kreuzchen pro Kind, auf einer Skala von 1 bis 4. So will es das Erziehungsdepartement des Kantons Basel-Stadt. Auch in anderen Kantonen, etwa im Aargau oder in St. Gallen, wurde ein Bewertungsbogen eingeführt. Mit dem Lehrplan 21 werden vermutlich bald auch in der übrigen deutschsprachigen Schweiz Kindergartenkinder standardisiert beurteilt.
Gleich zu Beginn unseres Elterngesprächs schiebt Frau B. den Lernbericht zur Seite. «Wenn es recht ist, möchte ich zuerst frei reden. Diesen hier können wir dann später noch überfliegen.» Vierzig Minuten lang schildert sie anhand präziser Beobachtungen, wie sich unser Sohn im ersten Kindergartenjahr entwickelt hat. Sie zeigt uns seine liebsten Spielorte und Bastelarbeiten, macht Einschätzungen und stellt Fragen. Es ist ein erkenntnisreiches, berührendes und witziges Gespräch. Dann zieht sie die Brauen hoch und nimmt den Lernbericht zur Hand.
Bei einigen Fragen könnte man meinen, es handle sich um die Evaluation eines Sanitärinstallateurs:
Das Kind …
– hat ein angemessenes Arbeitstempo
– kommt in der vorgegebenen Zeit zu einer Lösung oder einem Produkt
– erledigt Aufträge termingerecht und vollständig
Bei anderen Fragen würden wohl die meisten Politiker nicht die volle Punktzahl erreichen:
Das Kind …
– kann grundlegende Gesprächsregeln einhalten
– kann den eigenen Körper differenziert wahrnehmen
Bei gewissen Fragen weigert sich Frau B., sie auszufüllen, denn sie mache im Kindergarten keine Mathe-Tests.
Das Kind …
– kann die Zahlenreihe bis … aufsagen
– kann Mengen bis … auf einen Blick erkennen und bis … in kleinere Mengen zerlegen
Mit dem Lernbericht kann man tolle Sachen machen, zum Beispiel einen Papierhut daraus basteln. Einzig ernst nehmen darf man ihn nicht. Diese pseudo-seriöse Quantifizierung von kleinen Kindern ist Unfug, im schlimmsten Fall führt sie dazu, dass verunsicherte Eltern anfangen, mit ihren Kleinen Mathe oder Schönschreiben zu trainieren. Vor allem aber ist der Lernbericht eine Beleidigung für Frau B. und alle ihre Kolleginnen und Kollegen. Man traut ihnen ein professionelles Beurteilungsgespräch scheinbar nicht mehr zu und verordnet beamtenhafte Kontrollinstrumente. Sollte ein Kind echte Probleme haben und eine logopädische Therapie benötigen, hat das Frau B. bisher auch ohne Fragebogen erkannt und in die Wege geleitet.
Mein Sohn ist kurz nach seinem vierten Geburtstag in den Kindergarten gekommen. In der ersten Woche war er jeweils so erschöpft, dass er vor dem Abendessen eingeschlafen ist. Unterdessen gibt er damit an, wie hoch er klettern und wie weit er zählen kann. Trotzdem verschwende ich keinen Gedanken daran, ob er seinen «persönlichen Entwicklungsbedarf benennen kann» oder «den Stift locker in der Hand hält». Viel wichtiger ist für mich zu wissen, ob er im Kindergarten glücklich ist, ob er Freunde hat oder wie er sich beim Spielen verhält. Diese Fragen beantworten mir keine 72 Kreuze, sondern die klugen Worte von Frau B.