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Meine Meinung: Keine Zeit mehr zum Schweigen

Meine Meinung: Keine Zeit mehr zum Schweigen

  • Text: Helene Aecherli, Illustration: Grafilu

annabelle-Redaktorin Helene Aecherli über die Notwendigkeit, sich zu engagieren.

Vor kurzem fragte ich eine Freundin, wofür sie sich leidenschaftlich einsetze. Die Frage kam plötzlich auf, wir redeten über unser Leben und darüber, was uns umtreibt. Die Frage hing einige Sekunden im Raum, und der Raum antwortete mit Stille. Sie habe nichts, sagte meine Freundin dann, nichts, wofür sie sich leidenschaftlich engagiere. Vielleicht arbeite sie ja in einem Tierheim, versuchte ich. Oder setze sich für weniger Abfall ein oder für einen geringeren Fleischkonsum. Oder für Flüchtlinge aus Syrien – oder oder oder.

Ich spürte, wie ich mich in Hitze redete. Und um meinen Punkt klarer zu machen, erzählte ich ihr, dass ich jetzt, mit bald 49, fast schon eine Aktivistin bin: Wenn ich sehe, wie Leute an Haltestellen ihren Zigarettenstummel auf den Asphalt werfen, sage ich laut: «Oh, entschuldigen Sie, Sie haben was verloren!» (Okay, ich mache dies nur, wenn ich mich gerade stark genug fühle, die Empörung zu ertragen, die sich dann über mich ergiesst.) Ich schreibe E-Mails an Chefredaktoren: Letztmals geschehen, als zwei Schweizer Onlinemedien Bilder des jordanischen Piloten zeigten, der von IS-Schergen in einem Käfig verbrannt wurde – ich nenne dies Hinrichtungspornografie. Meine jüngste Aktion: Ich machte ein Selfie-Video, in dem ich den Krieg im Jemen verurteilte, und folgte damit einem Aufruf von lokalen Friedensaktivisten, die ich bei meinem letzten Besuch im Jemen kennen gelernt hatte. Das Video wurde auf deren Facebook-Seite hochgeladen.

Meine Freundin schüttelte den Kopf. Nein, sie werde nicht mit solchen Ereignissen konfrontiert und lasse sich auch nicht konfrontieren. Sie konzentriere sich auf ihre Freunde, ihre Arbeit, sorge dafür, dass es ihr gut gehe. Ob ich das naiv fände?

Ich erwischte mich dabei, wie ihr meine innere Stimme zuschrie: «Na dann, konfrontiere dich mal!» Aber ich sagte nichts. Denn jeder hat das Recht zu tun, was er oder sie für richtig hält, zu tun, was er tun kann. Zudem ist es grundsätzlich weise, erst mal für sich selbst zu sorgen und darauf zu achten, dass das eigene Umfeld gesund bleibt (das Sauerstoffmaskenprinzip im Flugzeug).

Trotzdem: Ich will mich konfrontieren, will meine Stimme erheben, denn wir leben in einer Zeit, in der wir zum Schweigen keine Zeit mehr haben. Die Umwelt erstickt unter all dem Abfall. Medien buhlen nur noch um den schnellen Klick, während die Pressefreiheit weltweit unter Beschuss steht. Die Menschenrechte werden so wenig beachtet wie seit ihrer Implementierung im Jahr 1948 nicht mehr. Der grassierende religiöse und politische Fundamentalismus im Zusammenspiel mit gnadenlosen Machtkämpfen verursacht höhere Flüchtlingszahlen als der Zweite Weltkrieg. Soll das alles so weitergehen? Nein.

Zwar frage ich mich immer mal wieder, was es angesichts der globalen Probleme bringt, Zigarettenstummel im öffentlichen Raum zu bekämpfen, E-Mails zu schreiben und Video-Botschaften zu versenden. Aber ich sage mir: Es ist wichtig, den Mund zu öffnen, wenn man sieht, dass etwas schiefläuft. Es ist wichtig, laut zu werden, schon allein deswegen, weil wir es hierzulande können. Und indem ich dies mit kleinen Aktionen trainiere, macht es mich letztlich auch fit dafür, das Recht auf freie Meinungsäusserung für jene zu verteidigen, die im Gefängnis sitzen oder mit dem Tod bedroht werden, weil sie darauf beharrten, zu sagen oder zu schreiben, was sie denken.

Klar, ich muss damit rechnen anzuecken. Aber ich bin ja nicht auf Erden, nur um nett zu sein. Das habe ich irgendwann erkannt. Und diese Erkenntnis ist befreiend.

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