Meine Meinung: Fotos sind gut, Erinnerungen sind besser
- Text: Claudia Senn, Illustration: Grafilu
annabelle-Redaktorin Claudia Senn findet fotografieren unnötig. Sie verlässt sich lieber auf ihren kostbaren Erinnerungsschatz.
Im Computerladen sah ich letzthin so ein neues Ding, den Narrative-Clip, eine Minikamera, die man sich ans Revers seiner Jacke heftet. Sie ist etwa halb so gross wie eine Kreditkarte und macht alle dreissig Sekunden ein Bild. Egal, wo man ist und was man erlebt – klick, klick, klick, alles festgehalten für die Ewigkeit. Genial, oder? Andererseits überlege ich gerade, was denn so drauf wäre auf meinem Narrative-Clip. 7.45 Uhr: die Katzenfutterbüchse, die ich für meine beiden Schnügel öffne. 9.30 Uhr: der Monitor meines PC. 9.31 Uhr: immer noch der Monitor meines PC. Nach weiteren 68 Monitorbildern endlich um 10.05 Uhr: die Kaffeemaschine. Gefolgt vom Damenklo um 11.27 Uhr und um 12.19 Uhr – das Highlight des Tages – die Salattheke in der Kantine. Die meisten meiner Tage sind wirklich bestürzend öde. Ich glaube, ich bekäme eine Depression, müsste ich mir das alles noch mal auf Fotos anschauen.
Das Leben anderer Menschen ist auch nicht viel aufregender. Trotzdem will offenbar jeder ständig alles im Bild festhalten. Warum eigentlich? Weshalb überlegt sich keiner mehr, welche Ereignisse es wirklich wert sind, dokumentiert zu werden? Wer hat überhaupt Zeit, sich diese über die Jahre entstehende Bilderflut noch einmal anzusehen? Ich rede jetzt nicht von Familienbildern. Und auch nicht von Nacktselfies. Die gehören in die Kategorie «Wahnsinn aus Leidenschaft», und dafür hatte ich schon immer ein Herz. Aber worin besteht der Reiz, jedes im Restaurant bestellte Gericht zu fotografieren, bevor man es, längst kalt geworden, endlich verspeist? Was bringt es, die Gemälde im Museum abzuknipsen? Leute, wenn ihr später nachschauen wollt, wie Van Goghs Sonnenblumen ausgesehen haben, könnt ihr das auch googeln! Die Bilder im Netz sind um Welten besser als euer unterbelichtetes Handyfoto.
Ich selbst fotografiere nicht mal in den Ferien. Meine jüngeren Kolleginnen halten mich deswegen für eine Art Höhlenmensch. Aber ich habe meine Gründe: Ein Objektiv zwischen mir und der Welt stört mich dabei, sie mit allen Sinnen wahrzunehmen. Doch genau darum geht es mir. Ein Schnappschuss kann nicht mehr sein als eine Krücke für das eigentlich Wichtige: den kostbaren Erinnerungsschatz in meinem Kopf.
Lassen Sie mich das an einem Beispiel erklären: Vor ein paar Tagen starb mein ältester Freund Miloslav Kubik. Das Wort ältester meine ich im wörtlichen Sinn, Herr Kubik – wir waren per Sie – wurde fast 94. Da er in Prag lebte, konnten wir uns nur alle paar Jahre sehen, doch mit 80 liess er sich von seinem Enkel beibringen, wie man einen Computer bedient, damit er mir jede Woche ein E-Mail schicken konnte. Ich liebte ihn sehr.
Zuletzt gesehen habe ich ihn an seinem 90. Geburtstag, den wir mit seiner Familie in einem fantastischen Jugendstilrestaurant feierten. Ich bin überzeugt, der alte Herr hatte sich dieses Fest über Jahre von seiner Rente abgespart. Es gibt von diesem Anlass auch Bilder (natürlich nicht von mir fotografiert!), doch von der Essenz des Abends kann ich darauf kaum etwas erkennen. Sie zeigen nicht, wie Herr Kubik unter dem Tisch meine Hand drückte, weil er so glücklich war, mich noch einmal zu sehen. Wie er es genoss, dass ihm der Coup gelungen war, alle seine Lieben an einem Tisch zu vereinen. Wie er still vor sich hin lächelte, obwohl er wegen seines schlechten Gehörs von den Gesprächen um ihn herum kaum noch etwas verstand. Nicht einmal vom herrlichen Essen lässt sich auf den Fotos etwas erahnen. Aber in meinem Kopf – alles da: Bilder, Geräusche, Gefühle, Geschmäcker, in Farbe und 3D. So was kann mir ein Foto einfach nicht bieten.