Leben
Mein Cousin, der Aussteiger: Reporterin Stefanie Rigutto trifft ihren Cousin
- Text: Stefanie Rigutto; Foto: Ornella Cacace
Als Kind war für Stefanie Rigutto klar, wen sie heiraten würde: ihren Cousin, den tollsten Jungen auf Erden! Dann trennten sich ihre Wege. Sie wurde annabelle-Journalistin, er Aussteiger. Eine Wiederbegegnung nach Jahren der Funkstille.
Mein Cousin Michi – oder Eschlesch, wie ich ihn aus unerfindlichen Gründen nannte, als ich noch nicht richtig sprechen konnte – war mein Kindheitsheld. Für mich gab es nur einen Jungen. Und es war klar, dass ich ihn eines Tages heiraten würde.
Als Teenager jedoch schlugen wir komplett verschiedene Wege ein. Ich ging ans Gymnasium, dann an die Universität, war ehrgeizig, wollte Journalistin werden. Mein Cousin bekam schon in der Lehre den Koller vom Arbeitsleben. Er rasierte sich einen Irokesenschnitt, besetzte Häuser, legte sich einen Hund zu – ein richtiger Punk eben. Wir verloren den Kontakt, irgendwann kam er nicht einmal mehr zu den Familientreffen.
Nun – wird sind beide Anfang dreissig – nach fast einem Jahrzehnt der Funkstille stehe ich vor seinem Haus. Es liegt im Grünen, am Rand von St. Gallen. Hier lebt er mit zehn Kollegen. Als ich von der Bushaltestelle dorthin spazierte, winkte er schon von weitem. Mein Eschlesch sieht immer noch gleich aus, er lacht fröhlich, wie früher. Einzig sein Haar ist schütterer geworden. Er trägt Converses, eine Cargohose und ein schwarzes Shirt einer Punkband. Er strahlt, wirkt zufrieden.
Das – definitiv renovierungsbedürftige – Gebäude gehört einer Stiftung, die günstigen Wohnraum für sozial Schwächere zur Verfügung stellt. Wir setzen uns in den Garten. Eine grosse Feuerstelle, fünf bellende Hunde, ein Trampolin – im zweiten Stock wohnt eine Familie. Man blickt auf eine Weide mit Kürhen. Es ist friedlich.
ANNABELLE: Michi, schau, das ist jetzt eben das Magazin, für das ich arbeite.
MICHAEL BRODER: (studiert das Titelbild) Jesses Gott! Ein richtiges Frauenheftli! Was kostet das?
Am Kiosk sieben Franken.
Davon könnte ich fast vier Tage leben.
Echt?
Eine grosse Büchse weisse Böhnchen kostet zwei Franken und reicht für zwei Mahlzeiten. Neunzig Prozent meiner Mahlzeiten bestehen aus weissen Böhnchen. Mann, ich hätte einen
guten Cowboy abgegeben!
Du lebst sehr bescheiden.
Ja. Etwas mehr Bescheidenheit würde allen guttun. Ich habe kürzlich gelesen, dass die Menschen in der Schweiz – einem der reichsten Länder der Welt – das unzufriedenste Volk sind.
Oha, jetzt kommt sie bereits, die grosse Gesellschaftskritik!
Logisch. Brauche ich denn so ein Ding, wie du es hast – wie heisst es, ein iPhone? Ich finde es schlimm, wie sich alles nur noch um materiellen Besitz dreht. Dinge wie Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Zufriedenheit, Bescheidenheit – all das hat keinen Wert mehr. Wenn ich darüber nachdenke, was den Menschen wichtig ist, dann deprimiert mich das richtig.
Also, ich bin totaler iPhone-Fan!
Himmel hilf! Mich beelenden die Menschen im Bus, die nur noch auf ihr Telefon starren und ihren Status auf Facebook updaten. Ich will Social Media nicht verteufeln, sie haben auch gute Seiten, wie man beim arabischen Frühling gesehen hat. Aber mir macht diese Generation Angst, für die Facebook das Wichtigste im Leben ist.
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Okay, genug geschnödet. Hand aufs Herz: Fehlt dir gar nichts?
Nein. Ich habe alles, was ich brauche.
Und das wäre?
Einen uralten Computer zum Gamen, einen noch älteren Fernseher, ein ebenso altes Bett und ein paar löcherige Kleider. Und natürlich Joker, meinen Hund. Auch er ist schon alt: zwölf Jahre.
Ach, komm, du willst mir doch nicht weismachen, dass du nicht gern ein Paar neue Hosen hättest. Deine sehen ziemlich mitgenommen aus.
Für Kleider würde ich nie Geld ausgeben. Das bedeutet mir nichts. Wobei, ich muss zugeben, Unterhosen habe ich auch schon gekauft.
Bin ich in deinen Augen ein Bünzli?
Früher hätte ich gesagt: Ja, ein Oberbünzli! Aber ich bin toleranter geworden. Ich könnte nicht so leben wie du – aber das muss ich ja nicht.
Wie lebst du denn? Liegst du den ganzen Tag an der Sonne? Du siehst total erholt aus.
Ich sitze im Garten, gehe mit dem Hund spazieren, trinke ein Bierchen, geniesse das Leben.
Frechheit!
Ich finde das nur intelligent. Ich bin frei wie ein Vogel! Ich muss einfach ab und zu ein bisschen Geld verdienen, damit ich mir dieses Flohnerleben leisten kann.
Du arbeitest?
Gelegenheitsarbeiten. Diesen Sommer habe ich gerade ein 50-Prozent-Jöbchen gemacht: Baustellen putzen.
Ansonsten beziehst du Arbeitslosengeld? Oder Sozialhilfe?
Bestimmt nicht! Ich kann doch nicht über den Staat meckern und dann sein Geld abzügeln. Das wäre nicht konsequent.
Wie viel Geld verdienst du denn im Monat?
Mal 400 Franken, mal 800 Franken.
Geht das denn auf?
Es reicht immer irgendwie. Und ich zahle ja nur 160 Franken Miete für mein Zimmer. Von diesem Mietzins kannst du in Zürich nur träumen, gell? Aber klar, Ende Monat bin ich immer blank, das ist so sicher wie das Feierabendbier!
Hast du überhaupt ein Konto?
Glaubst du, ich lebe auf dem Mond? Klar, irgendwohin muss ja der Lohn überwiesen werden. Aber da ich früher mein Konto immer überzogen habe, hat man mir nur so eine Kinder-Postcard gegeben. Damit kann ich nur bei der Post Geld rauslassen – sonst nix.
Kommst du dir da nicht etwas blöd vor?
Es ist eigentlich ganz praktisch. Kein Minus mehr, keine Verzugszinsen – fast schon genial!
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Zahlst du Steuern?
Nein, ich verdiene nie mehr als 13 000 pro Jahr, darum muss ich nichts bezahlen.
Krankenkasse?
Ja. Aber dank der Prämienverbilligung ist der Betrag sehr klein, zum Glück.
Altersvorsorge?
Das ist jetzt ein Witz, oder? Eine typisch schweizerische Frage. Ihr lebt viel zu fest in der Zukunft und zu wenig im Heute. Abgesehen davon: Ich will gar nicht 80 Jahre alt werden. Mit gemütlichen 60 wäre ich zufrieden.
Blicken wir zurück: Mit 17 Jahren hast du dir einen Irokesenschnitt verpasst, einen Hund zugelegt und wurdest zum Punk. Alle dachten damals, das sei nur eine Phase.
Das war es zuerst auch. Aber mir gefiel es in dieser Phase.
Was war der Auslöser?
Die Lehre als Stromer waren die drei schlimmsten Jahre meines Lebens. Ich bin nicht klargekommen auf der Baustelle: Da waren alle total rechts und rissen faschistische Sprüche. Einfach übel. Mir hat es die Lust auf die Arbeitswelt völlig vermiest.
Wars einfach die falsche Berufswahl?
Klar. Aber wie soll ein 15-Jähriger wissen, was er will? Ich war doch einfach froh, überhaupt eine Lehrstelle zu bekommen. Ich habe mir gar nicht überlegt, ob sie mir gefallen könnte.
Was würde dich interessieren?
Mein Traumberuf wäre Archäologe. Ich lese am liebsten historische Bücher. Geschichte, das interessiert mich.
Lass uns nochmals über deine Teenagerjahre reden. Was ging da ab?
Ich war der klassische Punk, mit allen Klischees, die du dir vorstellen kannst. Ich hing am Bahnhof rum, machte Stunk, schlief mal hier, mal dort, schnorrte die Leute um einen Batzen an. Ab und zu sass ich auch im Knast.
Warum?
Kleinigkeiten. Ich habe nie ernsthaft etwas angestellt. Meistens war es, weil wir betrunken am Bahnhof herumlungerten und die Leute sich belästigt fühlten. Mal ging ich an die 1.-Mai-Demo in Zürich – da sass ich ebenfalls eine Nacht in der Zelle. Dabei bin ich nur mitgelaufen. So viel zu meinen Jugendsünden.
Und heute? Würdest du dich noch als Punk bezeichnen?
Nein. Mit den Pseudo-Punks, die man heute am Bahnhof sieht, kann ich mich nicht mehr identifizieren. Ich will auch nicht mehr auf den Sofas von Kollegen pennen, dafür bin ich zu alt. Ich brauche eine Tür, die ich hinter mir zuziehen kann. Und ich habe keine Lust mehr, mich mit Tränengas abspritzen zu lassen.
Die Irokesenfrisur ist auch weg. Dabei wäre sie doch perfekt gewesen fürs Foto!
Ab und zu mache ich das noch. Aber ich fange morgen einen neuen Job an, und ich will erst fragen, ob der Irokese in Ordnung geht. Aufs Alter werde ich noch richtig vernünftig!
Du hast ja auch nicht mehr allzu viele Haare.
Stimmt. Und ein zweigeteilter Irokese mit einer Glatze in der Mitte sieht ziemlich doof aus.
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Also bist du gar kein Punk mehr. Sondern einfach ein Aussteiger.
Ich würde sagen: Ich lebe am Rand der Gesellschaft. Ich will ja nicht wie ein Eremit im Wald hausen und mich von Beeren ernähren – so weit will ich mich nicht ausschliessen.
Dein Lebensentwurf ist nur möglich, weil der Rest der Gesellschaft fleissig arbeitet und den Sozialstaat finanziert, von dem du – anders als der Eremit – profitierst.
Bis zu einem gewissen Grad stimmt das, ja. Aber die Leute wollen ja gar nicht weniger arbeiten und ein ähnliches Leben führen wie ich. Die Ferieninitiative zum Beispiel wurde abgelehnt. Die Arbeit bedeutet den Schweizern alles. Die erste Frage, wenn man jemanden kennen lernt, ist immer: «Was schaffsch?» Schlimm, wie wir uns nur über den Job definieren. In Argentinien fragen die Leute als Erstes: «Hast du Geschwister?» Darum geht es doch im Leben: die Menschen um dich herum.
Du beschreibst dein Leben ziemlich rosig.
Zugegeben, ein paar Franken mehr wären nicht schlecht. Mal wieder an ein gutes Konzert nach Zürich, das wärs! Aber mir ist das Zugbillett zu teuer. Und mehr arbeiten will ich deswegen nicht – ein Dilemma!
Bereust du irgendwas?
Ja, ich hätte besser auf mein Mami hören und mir die Zähne öfter putzen sollen. Aber als 18-jähriger Punk hast du anderes im Kopf. Wenn ich heute etwas Süsses esse, tun mir immer die Zähne weh. Jetzt spare ich für den Zahnarzt, ich will nicht in fünf Jahren ohne Zähne dastehen.
Sag mal, wolltest du mich als Kind eigentlich auch heiraten?
Mhm … Ich denke schon.
Was heisst denn das jetzt?
Momoll!
Gibs zu, du erinnerst dich gar nicht mehr richtig!
(lacht schallend)
1.
Stefanie und Michi, der Held ihrer Kindheit